Problemkiez und Zivilgesellschaft
Gebildete sind engagierter
Doch wie zutreffend ist dieses Bild? Engagieren sich Menschen mit niedrigem Einkommen und Bildungsgrad tatsächlich überhaupt nicht? Oder beschränkt uns womöglich unser eigener Blick auf bürgerschaftliches Engagement, so dass wir dessen Partizipationsformen und Aktivitätskulturen in all ihren unterschiedlichen Ausformungen nicht sofort als solche erkennen? So lautete die Schlüsselfrage eines kürzlich vom Göttinger Institut für Demokratieforschung unter der Leitung von Franz Walter durchgeführten Forschungsprojekts. Die einschlägige Engagement- und Partizipationsliteratur bestätigt zunächst einmal den eingangs geschilderten Eindruck: Rein statistisch steigt die Wahrscheinlichkeit, dass jemand aktiv wird und sich für andere engagiert mit dem jeweiligen Einkommens- und Bildungsgrad. Sozial Benachteiligte beteiligten sich demnach kaum bis überhaupt nicht an der Bürger- oder Zivilgesellschaft. Und das, so könnte man weiter provokativ behaupten, obwohl sie in vielen Fällen als Arbeitslose über ausreichend Zeit verfügen müssten. Doch ist diese Rechnung wirklich so einfach aufzustellen?
Zivilgesellschaft wird gemeinhin als Bereich all jener Aktivitäten definiert, die nicht marktwirtschaftlich oder staatlich beeinflusst sind und die sich außerhalb privater Sphären, also öffentlich abspielen. Die stadtsoziologische Forschung weist jedoch darauf hin, dass sich gerade Bewohner von so genannten „Stadtvierteln mit besonderem Entwicklungsbedarf“ häufig innerhalb kleiner sozialer Netzwerke für andere einsetzen, sich um Nahestehende, Freunde, Familie und Verwandte kümmern. Ihr Engagement ist damit vermutlich nur halböffentlich und bleibt der Partizipationsforschung im Grunde verschlossen.
Ein genauerer Blick auf das „Leben im Viertel“ ist also notwendig, um die Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen der Menschen besser zu verstehen. Genau das haben die Autoren der erwähnten Studie mithilfe von Fokusgruppen- und Einzelinterviews in Göttingen, Kassel und Leipzig herauszufinden versucht. Welche womöglich „versteckten“ Aktivitäten oder Hilfeleistungen beleben die Gemeinschaft im Viertel? Wo und auf welche Art ist man aktiv, verbringt und gestaltet seine Freizeit mit oder für andere? Und was halten die Bürger von „modernen“, das heißt besonders individuellen, flexiblen und informellen Formen der zivilgesellschaftlichen Beteiligung?
Was Forscher und Politiker bislang übersahen
Diese letzte Frage scheint aufgrund gegenwärtiger gesamtgesellschaftlicher Tendenzen in Bezug auf die Form des Engagements von besonderem Interesse. Denn: Auf der einen Seite lässt sich zwar insofern ein Wandel der Zivil- und Bürgergesellschaft verzeichnen, als klassische, bindungsreiche Mitgliedschaftsformen immer seltener nachgefragt werden. Dafür aber sprießen zum Beispiel Freiwilligenzentren aus den Böden, Einrichtungen also, die sich speziell den Bedürfnissen der „modernen“ Freiwilligen, das heißt der besonders an flexiblen und informellen Wegen ins Engagement interessierten Menschen widmen. Hier mal eine Bürgerinitiative zu unterstützen, für ein soziales Projekt zu spenden oder gegen ein politisches Problem online abzustimmen – das sind im Wachstum begriffene Beteiligungsformen. Doch wen dieser „Strukturwandel des Ehrenamts“ (Karin Beher, Reinhard Liebig, Thomas Rauschenbach) betrifft, wen er gleichsam „mitnimmt“ und wer dabei wiederum inaktiv bleibt, ist das offene Geheimnis dieses recht neuen Forschungsgebietes.
Unsere Gespräche in den Nachbarschaftszentren und Mehrgenerationenhäusern der Stadtviertel konnten zunächst die eingangs gestellte Annahme bestätigen: Forscher wie Engagementpolitiker scheinen bislang gleichermaßen einige interessante Phänomene übersehen zu haben. Gerade viele Gesprächspartnerinnen (häufig mit Einwandererbiografie) zögerten zum Beispiel lange, von ihren als „selbstverständlich“ erachteten Unterstützungsleistungen für Menschen in der Nachbarschaft zu berichten, sinngemäß etwa so: „Ach ja, neulich habe ich bei einem Kuchenbasar für die Frau in unserer Gemeinde mitgeholfen“ – eher beiläufig findet das eigene Engagement Erwähnung. Weil sich derartige Aktionen häufig innerhalb bestehender (nicht selten religiöser) Gemeinschaften ereignen, erfuhren wir von ihnen erst auf Nachfrage und nachdem im persönlichen Gespräch ein bestimmtes Vertrauensverhältnis entstanden war.
Die Vermutung liegt nahe, dass die Interviewten in einer fragebogenartigen Erhebung die Frage „Sind sie engagiert oder aktiv?“ allein aufgrund des ihnen größtenteils fremden Begriffes „Engagement“ und trotz der sehr wohl bestehenden Aktivitäten verneint hätten. Denn sich aus abstrakten Gründen bürgerschaftlich für das Wohl einer größeren Gemeinschaft zu engagieren, scheint eher selten als Handlungsmotiv eine Rolle zu spielen. Vielmehr liegt es den Bewohnern nahe, dort einzugreifen, wo ein Nachbar oder Bekannter ganz offensichtlich Hilfe benötigt oder wo im eigenen sozialen Umfeld „Not am Mann“ ist. Hilfe ereignet sich hier ganz praktisch und direkt; wenn man sich für jemanden verantwortlich fühlt, dann für die Personen im unmittelbaren Lebensumfeld. Hier wirkt sich aus, dass sich Leben und Alltag der Menschen in der Regel auf einen sehr engen geografischen Radius beschränkt. Der Nahbereich des Viertels ist damit auch für jedwede bürgerschaftliche Aktivität von größter Bedeutung. Spielplätze, Einkaufsareale und Parks vor Ort werden derart intensiv frequentiert, dass Maßnahmen zur Förderung der bürgergesellschaftlichen Strukturen im Viertel offensichtlich nur hier eine reale Chance haben.
Entscheidend sind Vorbilder im Nahbereich
Um allerdings tatsächlich aktiv zu werden, bedarf es in den meisten Fällen der gezielten Ansprache durch andere. Der Kollege, Nachbar oder Freund, der bereits einmal bei den Frühstückstreffen im Nachbarschaftshaus mitgemacht oder im Fußballverein als Trainer oder Platzwart Verantwortung übernommen hat, ist die entscheidende Brücke, um auch andere in die Welt bürgergesellschaftlicher Aktivität einzubeziehen. Hier wirkt sich die hohe Arbeitslosigkeit in den Quartieren gewiss negativ aus, denn über keine Arbeit oder keinen regelmäßigen Tagesablauf zu verfügen, kann die persönlichen sozialen Netzwerke stark einschränken. In diesem Fall traut man es sich kaum noch zu, selbst die Initiative zu ergreifen, etwas Neues anzufangen oder „mal eben“ im Gemeindezentrum oder dem Sportverein vorbeizuschauen. Zudem, so ein weiteres Ergebnis unserer Gespräche, saugt häufig die Suche nach Arbeit allen Antrieb, jede Energie- und Zeitressource auf. Sie überschattet jedes Bemühen, in der Bürgergesellschaft aktiv zu werden. Denn, so die dominierende Wahrnehmung, bürgergesellschaftliche Aktivitäten müsse man sich „leisten“ können oder würde man sich erst „gönnen“, wenn die basalen materiellen Bedürfnisse erfüllt sind. Erst wenn man über Arbeit und einen geregelten Alltag verfüge, könne man sich dem postmateriellen Gedanken an freizeitliches Engagement widmen. Trotz der vielen Funde informeller Aktivität im nahen und privaten Umfeld lässt sich somit leider auch schlussfolgern, dass sich ein Großteil der Befragten als weder in die Arbeits- noch in die Bürgergesellschaft besonders integriert erachtet.
Der Facharbeiter wohnt jetzt anderswo
Eine weniger strukturell als vielmehr mental wirkende Ursache, die den Zugang zum Engagement zusätzlich erschwert, ist das geringe Zutrauen der sozial Benachteiligten in sich selbst. „Wir werden die Fahnen nicht vorne tragen, aber wir laufen mit“, lautete die für viele Befragten repräsentative Aussage eines Gesprächsteilnehmers. Unglücklicherweise fehlen in den meisten Quartieren mit sozialem Handlungsbedarf, um im Bild zu bleiben, derartige Fahnenträger. Diese Rolle, die beispielsweise in ehemaligen Arbeitermilieus auf vielfältige Art und Weise vom Typus des Facharbeiters übernommen wurde, ist in den heutigen „Problemvierteln“ mit ihren grundsätzlich niedrigen Bildungs- und Einkommenswerten kaum mehr besetzt.
Gleichzeitig kommt es auf den Blickwinkel an, den man auf das bürgergesellschaftliche Engagement in „prekären“ Problembezirken richtet. Ohne Frage, auch hier gibt es sie: besonders stark engagierte Menschen, so genannte „Viertelgestalter“, mit einer Vorbild- und Orientierungsfunktion für andere; sie sind vermutlich der Schlüssel zu den bestehenden Netzwerken und zum Engagement auf einer breiteren Basis. Aus verschiedenen biografischen Gründen handelt es sich hierbei um Personen, die schon lange im Viertel wohnen und aus Überzeugung etwas verändern möchten – vom Sportwart bis hin zur jungen Mutter, die in der Moschee einen Kuchenbasar organisiert. Gemessen an ihrer geringen Anzahl und ihrem meist niedrigen formalen Bildungsgrad können sie nur selten mit dem Typus des „verlorenen Facharbeiters“ gleichziehen. Und wegen ihrer Verschiedenartigkeit ist es sicherlich kein leichtes Unterfangen, sie aufzuspüren und jeweils adäquat zu unterstützen. Geht es jedoch darum, die Initiativkraft innerhalb der Gruppe sozial Benachteiligter zu stärken, führt kein Weg daran vorbei, mit eben jenen Viertelgestaltern in Kontakt zu treten und sie in ihren bestehenden Unternehmungen zu motivieren.
Geht es schließlich grundsätzlich um die Förderung bürgerschaftlicher Aktivitäten vor Ort, so könnte man über eine ganze Reihe von Handlungsansätzen nachdenken, ohne das Rad der Zivilgesellschaft neu erfinden zu müssen. Fördermaßnahmen sollten darauf ausgerichtet sein, bestehende Engagementpotenziale und die informellen sozialen Netzwerke in den Stadtvierteln aufzuspüren und zu unterstützen. Konkret böte sich etwa die Aus- und Weiterbildung jener Viertelbewohner an, die sich stark mit der hiesigen Gemeinschaft identifizieren und langfristig an sie gebunden fühlen. Einige bestehende lokale Initiativen wie die Integrationslotsen oder die Ausbildung von „Stadtteilmüttern“ gehen bereits recht erfolgreich in diese Richtung.
Für Politik wie Forschung sollte es nicht nur darum gehen, die Akteure zivilgesellschaftlichen Engagements entlang von Schichten, Klassen, Milieus oder ihrer spezifischen Beteiligungsformen zu identifizieren. Von keineswegs geringerer Bedeutung wird es auch in Zukunft sein, eine Art Anerkennungskultur zu schaffen, die für das durchaus vorhandene, zum Teil eben informelle Engagement von sozial Benachteiligten greift. Vom Grundsatz handelt es sich dabei um keinen ganz neuen Gedanken, denn bürgerschaftliche Aktivität stärker anzuerkennen, ist ein seit Jahren über Parteiengrenzen hinweg verwendeter politischer Handlungsschlüssel. Doch Maßnahmen zur Förderung der Anerkennungskultur strahlen bei Weitem nicht in alle Ecken der Gesellschaft aus. Bestehende Engagementkampagnen oder wettbewerbsartige Auszeichnungen von „best practice“-Modellen zielen in den meisten Fällen auf eine typischerweise postmaterielle und bildungsbürgerliche Klientel; sie basieren auf Maßstäben und Vorstellungen bürgergesellschaftlicher Aktivität, die von dieser selbst geprägt worden sind. Blickwinkel und Handlungsmotive von Menschen mit niedrigem Bildungsgrad und geringem Einkommen unterscheiden sich dabei ganz offensichtlich von dieser „Bürgergesellschaft der Mitte“.
Die Engagementpolitik muss zum Viertel passen
Gleichzeitig sind gerade aktive und engagierte Menschen in sozial benachteiligten Milieus auf die Anerkennung ihrer Leistungen „für die Gesellschaft“ angewiesen, werden in der öffentlichen und medialen Debatte doch gerade diese oft in Frage gestellt. Außerdem ist es beispielsweise Arbeitsuchenden nur schwer möglich, eine Leistung in der Arbeitsgesellschaft zu erbringen; eine Aufwertung ihrer Aktivitäten in der Bürgergesellschaft erscheint damit umso wichtiger. Die bestehenden, wenn auch rudimentären Strukturen von Hilfsaktivität und gemeinschaftlichem Engagement bieten somit nicht nur einen Ansatz, das Ansehen eines „problematischen“ Viertels zu verbessern. Eine der jeweiligen Viertelkultur angepasste Engagementpolitik könnte die dortigen Leistungen von Bürgern für Bürger anerkennen helfen – selbst wenn deren Aktivitäten nicht bis nach Nicaragua, sondern höchstens bis vor die Haustür des eigenen Nachbarn reichen. «