Progressive, wie habt ihr’s mit der Religion?

Zu den heiklen Themen unserer Zeit gehört die Verortung der Religion angesichts fortschreitender gesellschaftlicher und weltanschaulicher Ausdifferenzierung. Die SPD ist in dieser wichtigen Frage noch auffällig stumm. Dabei liegen gerade auf diesem Gebiet beträchtliche Chancen politischer Profilierung

Beginnen wir mit einer einfachen Tatsache: Die Bundesrepublik wird vielfältiger. Das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, sexueller Identität und Religionszugehörigkeit ist zweifellos ein Gewinn, ein Selbstläufer ist es keineswegs. Die wachsende religiöse Pluralität ist eine der markantesten gesellschaftlichen Entwicklungen und hat immer wieder zu emotionalen, bisweilen populistischen Äußerungen geführt. Am Beispiel des praktischen Umgangs mit dem Islam werden die Grundzüge deutscher Religionspolitik sichtbar. Im Kern zielt sie auf eine institutionelle Integration „neuer“ Religionen in das bestehende System ab.

Was jedoch fehlt, ist eine substanzielle Auseinandersetzung mit einer Alternative zur dieser Politik. Denn progressive Religionspolitik heißt nicht zwangsläufig, Religion zu fördern, sondern zuvorderst, sie in der Gesellschaft zu verorten. Und genau dies sollte tun, wer Vielfalt erfolgreich gestalten will. Es ist an der Zeit, althergebrachte Muster zu überprüfen.

Pluralisierung der Religionslandschaft

Worum geht es? In der Bundesrepublik hat sich historisch eine „positive Neutralität“ des Staates gegenüber den Religionen herausgebildet. Der deutsche Staat akzeptiert Religion in Form von Symbolen, Praktiken oder Inhalten im öffentlichen Raum. So finden sich Kruzifixe in Klassenzimmern und christlich-theologische Institute an staatlichen Universitäten. Diese Offenheit gilt grundsätzlich für alle Glaubensrichtungen, betraf jedoch lange Zeit praktisch nur die beiden großen christlichen Kirchen und das Judentum.

Waren zur Zeit der Verabschiedung des Grundgesetzes im Jahr 1949 noch etwa 95 Prozent der Westdeutschen konfessionell an eine der beiden christlichen Kirchen gebunden, sind es heute nur mehr 65 Prozent – in Ostdeutschland unter 25 Prozent. Parallel zu dieser Entwicklung findet seit den siebziger Jahren eine Pluralisierung der Religionslandschaft statt, die maßgeblich durch den steigenden Anteil „eingewanderter“ Religionen und in geringerem Maße durch die Ausdifferenzierung der christlichen Glaubensgemeinschaften geprägt ist.

Diese Entwicklungen wären Grund genug, die starke politische Stellung der Kirchen zu hinterfragen. Doch die Politik hat zuletzt vor allem den Willen bewiesen, den Islam in das deutsche Religionssystem zu integrieren, die bestehenden christlich-jüdischen Privilegien also auf andere Religionen auszuweiten. Der islamische Religionsunterricht in einigen Ländern und die Öffnung für eine muslimische Seelsorge in Gefängnissen sind prominente Beispiele. Denkt man die Sache vom Status quo her, ist diese Privilegierung des Islam aufgrund des Gleichheitsgebots zweifellos der richtige Weg.

Unumstritten ist unter Expertinnen und Experten aber, dass das deutsche System der positiven Neutralität keineswegs alternativlos ist. So hat das Bundesverfassungsgericht bereits in seinem ersten Kopftuchurteil im Jahr 2003 zwei verfassungskonforme Wege für den Umgang mit der zunehmenden Pluralität eröffnet: Einerseits sei es – wie derzeit praktiziert – möglich, die zunehmende religiöse Vielfalt auch im öffentlichen Raum abzubilden. Alternativ könne der Grundsatz der Neutralität noch ernster genommen werden, der Staat sich folglich deutlicher von der Religion distanzieren. Frankreichs Laizität könnte hier als Orientierung dienen.

Allerdings ist eine bundespolitische Debatte über eine derartige Neuausrichtung des Verhältnisses von Staat und Religion gänzlich ausgeblieben. Stattdessen sind mediale und öffentliche Auseinandersetzungen erstens vor allem lokal, zweitens meist punktuell als Reaktion auf gerichtliche Auseinandersetzungen und drittens zu oft als skandalisierte Äußerungen auf berechtigte muslimische Forderungen erfolgt.

Unabhängig von konkreten Entscheidungskompetenzen ist es Aufgabe der bundespolitischen Parteien, die Rolle der Religionen im 21. Jahrhundert nicht als gegeben hinzunehmen. Fraglich ist, ob der historisch eingeschlagene Weg angesichts der aktuellen Entwicklungen tragfähig und von der Bevölkerung (noch) gewollt ist.

Privilegien für alle – oder für keinen

Aus progressiver Sicht unstrittig ist, dass jede Religion, die von den hier lebenden Menschen praktiziert wird, zur Vielfalt dieses Landes gehört. Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Religion im öffentlichen Raum sind klar abgesteckt: Der Staat ist neutral, Regeln müssen für alle Religionsgemeinschaften gleichermaßen gelten.

Wollen wir die besonderen Rechte der christlichen Kirchen erhalten, stehen diese auch anderen Religionsgemeinschaften zu. Dies könnte auf lange Sicht bedeuten, hinduistischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen zu ermöglichen, ein muslimisches Arbeitsrecht zu akzeptieren oder die Kirchensteuer für die Zeugen Jehovas zu erheben. Wer bei diesen Überlegungen Halt macht, missachtet den Gleichheitsgrundsatz und gefährdet auf Dauer das friedliche Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft.

Entscheiden wir uns als Gesellschaft stattdessen für eine striktere Trennung von Religion und Staat, würden die großen Kirchen mittelfristig entmachtet. Und genau hier liegt das politische Problem.

Es verwundert nicht, dass die Union die institutionelle Integration des Islam derart vorangetrieben hat. Aus strategischen Gründen kann sie unmöglich den zweiten Weg gehen und die bestehenden Privilegien der Kirchen infrage stellen. Mit ihrer Politik findet sie in den Kirchen mächtige Partner. Deren herausgehobene Rolle wird durch die derzeitige Stärkung anderer Religionen nur auf den ersten Blick geschwächt. Viel bedeutsamer ist für sie, dass ihre Rolle nicht grundsätzlich infrage gestellt wird. Genau hier liegt der Ansatzpunkt für eine progressive Religionspolitik – und ein wichtiges parteipolitisches Abgrenzungsmerkmal gegenüber der Union.

Doch erstaunlicherweise ist die SPD auffällig stumm, was die Bedeutung der Religion im Staat betrifft. Die explizite Öffnung der Partei hin zu den christlichen Kirchen im Rahmen des Godesberger Programms von 1959 trug auch dazu bei, sie bundesweit mehrheitsfähig zu machen. Und zweifellos verschaffte die wachsende Zusammenarbeit mit den Kirchen ihr wichtige Wählerstimmen.

Die SPD und die Konfessionslosen

Während die Zahl der Konfessionslosen seit den siebziger Jahren stetig steigt, scheint die SPD in dieser historischen Erfahrung zu verharren. Dabei greift die schnell bemühte Warnung vor dem Verlust von Wählerstimmen im Zuge einer offen geführten Debatte zu kurz. Denn die bloße Zugehörigkeit zu einer Kirche muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass die Wähler unwillig sind, über eine Neuausrichtung von Religion im Staat zu sprechen. Auch verlangt niemand, dass die SPD in die Zeit vor dem Godesberger Programm zurückverfällt und Religion gänzlich ins Private verbannt. Stattdessen gilt es, die Chancen einer neuen Religionspolitik zu erkennen.

Hier ist es Aufgabe einer vorwärtsgewandten SPD, der wachsenden Anzahl an Konfessionslosen Raum in der Debatte zu verschaffen und diese auch politisch zu vertreten. Darüber hinaus verpflichtet ihre Tradition sie, in einer vielfältigen Gesellschaft auch auf Kosten des Establishments auf soziostrukturelle Veränderungen zu reagieren. Dabei muss sie, im Gegensatz zur Union, nicht mit ihren Grundsätzen brechen. Sie kann auf ihr Kernanliegen zurückgreifen und die Gleichberechtigung aller Gruppen im Staat auch für eine sozialdemokratische Religionspolitik ausbuchstabieren. Diese stellt erstens die Gruppe der Konfessionslosen gleichberechtigt neben die Religionsgemeinschaften und schafft zweitens keine Religionen erster und zweiter Klasse. Eine Legitimation bestehender Verhältnisse aus der Vergangenheit heraus würde hingegen dauerhaft mit den ureigenen Grundsätzen der Sozialdemokratie brechen.

Der politische Partner für eine solche Religionspolitik ist dabei leicht auszumachen: Mit dem Abschlussbericht der Kommission „Weltanschauung, Religionsgemeinschaft und Staat“ im März dieses Jahres sind die Grünen erste wichtige Schritte auf dem Weg zu einer progressiven Religionspolitik gegangen. Die sowohl mit Religiösen als auch Säkularen besetzte Kommission ermöglichte eine innerparteiliche Diskussion, deren Ergebnisse im Herbst auch von den Bundesdelegierten diskutiert werden sollen.

Die Grünen haben die Debatte eröffnet

Inhaltlich zeigen die Positionen der Grünen, dass auf dem Weg zu einem gleichberechtigten Umgang auch bestehende Privilegien der kirchlichen Religionen zu prüfen und womöglich auch zu beschneiden sind. Genau hier muss eine progressive Religionspolitik ansetzen. Entscheidend ist auch hier, dass die steigende Zahl der Konfessionslosen nicht heißt, dass Religion keinerlei Unterstützung mehr verdient hat. Dass aber Religionsgemeinschaften per se förderungswürdiger sein sollen als andere weltanschauliche oder zivilgesellschaftliche Vereinigungen, kann nicht als Diktum für die Zukunft feststehen, sondern muss Kern der Debatten sein. Parteipolitisch gesehen handelt es sich dabei um ein Thema, das mit der Union gemeinsam nicht zu verwirklichen ist und das die Notwendigkeit einer progressiven Koalition verdeutlicht.

Zuletzt kann es nicht im Sinne progressiver Kräfte sein, dass sich unsere Gesellschaft zunehmend entlang religiöser Zugehörigkeiten ausdifferenziert. Wer eine Gesellschaft in Vielfalt gestalten will, dem sollte daran gelegen sein, dass Menschen unterschiedlicher Religionen sich begegnen und religiöse Institutionen sich zunehmend öffnen.

Mit Willy Brandt auf der Höhe der Zeit zu sein bedeutet, progressive Religionspolitik immer vor dem Hintergrund der aktuellen Gesellschaft auszugestalten. Und die ist heute eine andere als 1949.

Eine frühere Version dieses Beitrags erschien auf www.progressives-zentrum.org.

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