Putins eingefrorene Konflikte
Im Vergleich zu den blutigen Sezessionskriegen auf dem Balkan ging die Sowjetunion relativ unspektakulär und geräuschlos unter. Im Jahr 1991 erklärten nach und nach 14 der insgesamt 15 Sowjetrepubliken ihre Unabhängigkeit und beriefen sich dabei auf die Landesgrenzen, die Stalin in den vierziger Jahren am Reißbrett gezogen hatte. So gewannen 1991 nicht nur historisch gewachsene und relativ homogene Nationen ihre staatliche Souveränität zurück, die – wie die baltischen Länder – bereits früher als eigene Staaten existiert hatten: Mit Aserbaidschan, Armenien, Georgien, aber auch Moldawien und der Ukraine betraten Länder die internationale Bühne, die bislang keine eigenen, dauerhaften Nations- und Staatsbildungsprozesse durchlaufen hatten. Diese Gebiete waren schon vor der Sowjetherrschaft überwiegend von anderen Großreichen besetzt und beherrscht worden – von Byzanz und den Mongolen, dem Zarenreich und dem Osmanischen Reich, vom mittelalterlichen Königtum Polen und von den Habsburgern.
Als Stalin noch teilte und herrschte
Zusätzlich verhinderte die große ethnische Heterogenität gerade im Kaukasus, dass sich dort eigene Staaten geschweige denn Nationen ausbildeten. Stalin hatte bei seinen Grenzziehungen zwischen den kaukasischen Sowjetrepubliken keine Rücksicht auf ethnische Zugehörigkeiten genommen, sondern die Republikgrenzen mitten durch die Siedlungsgebiete zusammengehörender Volksgruppen gelegt. Für zusätzlichen Konfliktstoff sorgten die von Stalin im großen Stil betriebenen Um- und Ansiedlungen – vor allem von Russen aus dem Kernland in die Peripherie des Sowjetreichs. Das geschah mit Kalkül und getreu dem Prinzip von „teile und herrsche“. Schließlich sicherten die ethnischen Spannungen den sowjetischen Machtanspruch in der Region, indem die nationalen Bestrebungen der Mehrheitsbevölkerung durch gegenläufige Interessen der Minderheiten in Schach gehalten wurden. Deren Loyalität galt Moskau. Insofern überrascht es nicht, dass später gerade Minderheiten wie die Osseten oder Abchasier gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen der Georgier aufbegehrten und der Sowjetunion am längsten die Treue hielten. Nach ihrer Abspaltung von Georgien suchten sie dann Schutz bei Russland.
Nicht wenige Kritiker unterstellen Russland, nahtlos an die imperiale Politik der Sowjetunion anzuknüpfen und die ethnischen Spannungen in den vormaligen Sowjetrepubliken ohne völkerrechtliche Skrupel für seine geostrategischen Interessen zu instrumentalisieren. Die Kritik entzündet sich besonders an Russlands Verhalten in den so genannten eingefrorenen Konflikten. Als solche werden die Auseinandersetzungen zwischen den abtrünnigen Gebieten Südossetien und Abchasien mit Georgien, Transnistrien mit Moldawien, und Nagorny-Karabach mit Aserbaidschan bezeichnet.
Auf der einen Seite solcher Konflikte stehen Gebiete, die unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht in den Nachwirren der zerfallenden Sowjetunion ihre Abspaltung vom Zentralstaat erzwangen. Ob dabei wirklich allein die Sehnsucht nach Eigenstaatlichkeit oder die Befreiung von ethnisch motivierter Unterdrückung die ausschlaggebenden Motive waren, ist immer noch fraglich. Von Anfang an spielten dort auch private Gewaltakteure mit, die weniger an funktionierender Staatlichkeit interessiert waren als daran, diese Gebiete und deren politische Eliten für ihre kriminellen Geschäfte unter Kontrolle zu bringen. Dass sie damit Erfolg hatten, zeigen die entsprechenden Quasi-Staaten, die heute Zentren des Drogen- und Waffenhandels sowie der Geldwäsche sind.
Auf der anderen Seite der Konflikte stehen die Zentralstaaten wie Moldawien oder Georgien, die sich auf die Völkerrechtsprinzipien der territorialen Integrität und der Unantastbarkeit existierender Grenzen berufen. Sie haben ihre Gebietsansprüche nicht aufgegeben und versuchen mit allen Mitteln, diese Regionen zurückzugewinnen oder soweit zu destabilisieren, dass es den abtrünnigen Gebieten nicht gelingen kann, einen funktionierenden Staat aufzubauen. Die politische und wirtschaftliche Entwicklung dieser Länder leidet unter den eingefrorenen Konflikten, weil Kräfte gebunden werden, die bei der Transformation zur Demokratie, dem Aufbau von Rechtsstaatlichkeit und einer funktionierenden Marktwirtschaft fehlen.
Ukraine: Neuer Fall, altbekanntes Muster
Die von den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union angeführte internationale Gemeinschaft hat bisher keines der abtrünnigen Gebiete als Staaten anerkannt. Sie besteht auf der Wahrung der territorialen Integrität Georgiens, Moldawiens und Aserbaidschans. Die Sezessionsgebiete sind daher nur de facto und nicht de jure unabhängig.
Während die internationale Gemeinschaft eine eindeutige Position vertritt, ist und bleibt Russlands Rolle in diesen eingefrorenen Konflikten ambivalent: Einerseits trat Moskau als vermeintlich neutraler Schlichter zwischen den Separatisten und den Regierungen auf, beteiligte sich an der Überwachung der ausgehandelten Waffenstillstandsabkommen und verhinderte in vielen Fällen schlimmeres Blutvergießen. Andererseits hat Russland die Sezessionsbewegungen verdeckt oder offen finanziell und militärisch unterstützt – und folgte dabei einem üblichen Muster.
Bereits während sich die Sowjetunion aufzulösen begann, hat Russland separatistische Bewegungen unterstützt. Nur mit Hilfe sowjetischer Truppen gelang es den paramilitärischen Einheiten der pro-russischen Separatisten in Transnistrien, die Regierungsgewalt zu übernehmen und sich von Moldawien abzuspalten. Für die Unabhängigkeit Südossetiens, das sich bereits 1990 von Georgien trennte, zog Russland 2008 sogar in den Krieg. Ohne massive russische Militärhilfe wäre es auch der abchasischen Minderheit nicht möglich gewesen, sich von Georgien abzuspalten. Und der Bürgerkrieg um die Unabhängigkeit Nagory-Karabachs von Aserbaidschan wurde nur durch die offene Parteinahme Russlands für Armenien von der armenischen Mehrheitsbevölkerung gewonnen.
Alle Entwicklungen in der Ukraine deuten darauf hin, dass Russlands Vorgehen einen neuen eingefrorenen Konflikt nach dem beschriebenen Muster geschaffen hat. Die Regierung in Kiew war aufgrund der russischen Unterstützung für die Separatisten nicht in der Lage, den Konflikt militärisch für sich zu entscheiden. Sie war daher gezwungen, einen Waffenstillstand auszuhandeln und einer 30 Kilometer breiten Pufferzone zuzustimmen, aus der sich die ukrainischen Truppen zurückziehen mussten. Damit gab Kiew das Gewaltmonopol über die von pro-russischen Separatisten gegründeten Republiken Donezk und Lugansk auf. Die Anfang November in den selbsternannten Republiken durchgeführten Wahlen, die weder von Kiew noch der internationalen Gemeinschaft unterbunden werden konnten, zementieren die Abspaltungen und verleihen den Separatisten nach innen weitere Legitimität.
Grenzen sind nicht mehr unverletzlich
Russlands Annexion der Krim und seine Unterstützung für die Separatisten in der Ostukraine stellen offen die Prinzipien infrage, auf die sich die internationale Ordnung nach dem Kalten Krieg gestützt hat: die Achtung der Souveränität und territorialen Integrität von Staaten. Den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union ist es nicht gelungen, Russland in das System liberaler Demokratien einzubinden und eine stabile Ordnung zu schaffen, in der sich alle Staaten der Unverletzlichkeit ihrer Grenzen sicher sein können. Dabei wäre es falsch, hierfür die Schuld allein Wladimir Putin in die Schuhe zu schieben, der Russland – offenbar um jeden Preis – zu alter imperialer Größe zurückführen will.
Die massive Verschlechterung der Beziehungen zu Russland ist auch der Nachlässigkeit und dem Hochmut des Westens geschuldet. Der Westen hat sich zu sehr auf seinem politischen Erfolg nach dem Untergang der Sowjetunion ausgeruht. Übersehen wurde dabei, dass Russland, wenn nun auch deutlich kleiner, nach wie vor die zweitgrößte Nuklearmacht der Erde ist und sich sicherlich nicht dauerhaft mit der Verliererrolle an der Peripherie des euro-atlantischen Raumes abfinden würde.
Moskau steht daher auch der Nachbarschaftspolitik der EU kritisch gegenüber, die einen Ring von gut regierten, demokratischen Staaten um die EU errichten will, und bewertet diese zunehmend als Bedrohung russischer Interessen. Zudem wirkt der Westen für Russland wenig glaubwürdig, weil die universellen Werte und Völkerrechtsprinzipien, auf die er sich beruft, durch die Intervention im Irak oder die Anerkennung des Kosovo beschädigt wurden. Moralisch im Recht zu sein, bedeutet nicht automatisch, im Sinne des Völkerrechts Recht zu haben.
Putins Tage sind gezählt
Wenn man das glaubt, betreibt man Siegerjustiz und spielt letztlich den autoritären Regimen in die Hände. Sonst wäre es Putin nicht möglich gewesen, die Vorgänge auf der Krim mit denen im Kosovo gleichzusetzen. Und er könnte auch nicht argumentieren, dass die vom Westen im Namen der Freiheit, der Menschenrechte und der Demokratie unterstützten und versuchten Regimewechsel im Irak, in Libyen und Syrien nur Terror und neues Leid hervorgebracht hätten.
Mangels guter Optionen muss der Westen zurzeit froh sein, wenn die Situation in der Ostukraine in Form eines eingefrorenen Konfliktes stabilisiert und damit Zeit gewonnen werden kann. Zeit, die genutzt werden sollte, um den Dialog mit Russland ohne erhobenen Zeigefinger zu suchen. Die im November neu aufgeflammten Kämpfe zwischen Separatisten und ukrainischen Regierungstruppen sowie neue russische Truppenbewegungen könnten zu einer weiteren Eskalation des Konflikts und zu einem Krieg in Europa führen, bei dem alle Seiten verlieren würden. Ist es da Schwäche, wenn der Bessere zeitweilig nachgibt? Putins Tage sind gezählt. Er erringt nur noch Pyrrhussiege, die ihm innenpolitisch momentan vielleicht noch den Rücken stärken. Sie nützen aber weder der russischen Wirtschaft noch den Menschen, die in Russland versuchen, ein besseres Leben zu führen.