Putins Russland und der Westen - eine Neubewertung
Der Nebel hat sich in den vergangenen zwei Jahren gelichtet. Was der russische Präsident Wladimir Putin geopolitisch anstrebt, ist mittlerweile deutlich erkennbar: Russland soll einen Status erhalten, der dem der Sowjetunion zumindest ähnelt. Dazu gehört erstens die Kontrolle über die direkte Nachbarschaft – Osteuropa, Südkaukasus, Zentralasien –, zweitens ein möglichst großer Einfluss in der weiteren Nachbarschaft, vor allem in der Europäischen Union und im Nahen Osten, sowie drittens globaler Einfluss auf Augenhöhe mit den Vereinigten Staaten und China.
In Putins darwinistischem Weltbild wird die Weltordnung der Zukunft von drei großen Mächten bestimmt: den Vereinigten Staaten, China und eben Russland. Voraussetzung, um in dieser globalen Superliga mitspielen zu können, ist allerdings, dass Russland den Status eines imperialen Zentrums wiedererlangt.
Seit Beginn seiner Herrschaft im Jahr 1999 arbeitet Putin beharrlich auf dieses Ziel hin. Zum einen wurden alternative Machtzentren in Russland ausgeschaltet und das politische und wirtschaftliche System vollständig unter die Kontrolle des Kreml gestellt. Zum anderen wurde Russlands Machtstellung im postsowjetischen Raum gefestigt, im Falle Georgiens auch mit militärischen Mitteln. Ermöglicht wurde diese Stärkung des Machtzentrums nicht durch wirtschaftliche Modernisierung, sondern durch einen kontinuierlich steigenden Ölpreis.
Das übergeordnete Ziel der Strategie ist der Erhalt eines fragilen autokratischen Regimes. 1989 erlebte Putin die Sowjetunion, für die er seit 1985 in Dresden als KGB-Agent tätig war, als machtlos. Den Zerfall der Sowjetunion nahm er nicht als Befreiung, sondern als Erniedrigung wahr. Auch die Erweiterung der Nato empfand Putin – im Einklang mit dem russischen Sicherheits-Establishment – nicht als Stabilisierung Mitteleuropas, sondern als Triumph einer feindlichen Macht. Die Farbenrevolutionen in Georgien (2003) und der Ukraine (2004) sah Putin als vom Westen gesteuerte Bemühungen, sein Machtsystem zu unterwandern. Mit den Protesten in Russland von 2011 rückte die Revolution schließlich bedrohlich nah an den Kreml heran.
Der Hauptfeind heißt Amerika
Putin positioniert Russland zunehmend als antiwestliche und antirevolutionäre Macht, als Vorkämpfer gegen die liberale Demokratie, die seine autokratische „Machtvertikale“ in Russland ebenso bedroht wie seinen Machtanspruch in der Nachbarschaft. Ideologischer Hauptfeind sind die Vereinigten Staaten, deren Ausstrahlungskraft er fürchtet. Der Angriff auf die in den Westen strebende Nachbarschaft lässt sich dementsprechend als Vorwärtsverteidigung verstehen.
Mit seinem imperialen Projekt befriedigt Putin zugleich tiefsitzende Statusängste vieler Russen. Über Jahrzehnte daran gewöhnt, eine imperiale Macht mit universalistischer Heilsbotschaft zu sein, empfinden viele Russen auch heute einen Phantomschmerz. Sie unterstützen eine aggressive Außenpolitik Putins, die auf Wiedergewinn von Territorium und Machtstellung abzielt. Das Putin-Regime hat nicht nur die materiellen Bedürfnisse vieler Russen befriedigt, sondern befindet sich auch im ideologischen Gleichklang mit weiten Teilen der Gesellschaft.
Aus Sicht des Kreml stellt das Ergebnis von 1991, der Zerfall der Sowjetunion in 15 unabhängige Staaten, keineswegs das Ende der Geschichte dar. Der postsowjetische Raum wird als natürliche imperiale Sphäre Russlands verstanden, nicht als Entfaltungsraum souveräner Staaten. Und tatsächlich hat der Westen diese Interpretation mehr als zwei Jahrzehnte im Wesentlichen akzeptiert, zwar nicht explizit, aber doch stillschweigend. Weder die Europäische Union noch die Vereinigten Staaten bemühten sich ernsthaft darum, in den Ländern Osteuropas, des Südkaukasus und Zentralasiens die neu entstehenden Staaten zu stabilisieren – von Georgien einmal abgesehen und dort auch nur zeitweise. Die Grenze zwischen dem Westen und der russisch dominierten Sphäre verlief an der Ostgrenze der Nato: Was jenseits dessen geschah, war aus westlicher Sicht eine Art innere Angelegenheit Moskaus.
Die gesamte Energie der westlichen Ostpolitik richtete sich seit dem Zerfall der Sowjetunion auf Russland. Mit Moskau redete man beständig; man wollte Russland transformieren, einbinden, besänftigen. Für diese Strategie gab es gute Gründe: Russland bleibt Atommacht, woran Putin gerade in letzter Zeit immer wieder erinnert. Ein irrlichterndes Russland stellt eine existenzielle Bedrohung für die europäische Sicherheit dar. Russland ist zudem in Besitz von Energiereserven, die für Europa von Bedeutung sind. Und schließlich: Würde es gelingen, Russland in das normative Projekt einer post-nationalen europäischen Ordnung einzubinden, dann würden auch die anderen post-sowjetischen Staaten davon profitieren. Wandel durch Handel, eine umfassende Modernisierung: die Ziele der Russlandpolitik waren die richtigen.
Russland ist heute aggressiver denn je
Das Problem ist jedoch, dass der Ansatz, Russland mittels einer Politik der Einbindung friedlicher und kooperativer zu machen, gescheitert ist. Das Gegenteil ist eingetreten: Russland ist heute aggressiver denn je. Die Annexion der Krim und der Krieg gegen die Ukraine stellen derart eklatante Verletzungen der Bauprinzipien Europas dar, dass die Europäische Union und Russland darüber in Konflikt geraten mussten. Der Traum einer engen Partnerschaft, eines gemeinsamen Hauses, hat sich als Illusion erwiesen. Putins Russland will diese Art von Partnerschaft nicht; es wünscht keine Einbindung in postmodernes Regieren.
Der Westen hat Moskau beeindruckt
Während man in Deutschland dachte, es betreibe eine Politik der Transformation Russlands, hat Russland in Wahrheit immer nur taktisch auf die deutschen Initiativen reagiert. Von Beginn an hat sich Putin darum bemüht, Deutschland aus dem engen Bündnis mit den Vereinigten Staaten herauszulösen und zugleich zu verhindern, dass die EU sich zu einem starken Partner Amerikas auf der Weltbühne entwickelt. Das minimale Ziel ist die Neutralisierung Europas, das maximale Ziel, mit Deutschland und anderen europäischen Ländern eine anti-amerikanische Achse zu bilden. 2003 glaubte Moskau schon, dieses Ziel erreicht zu haben.
Doch unter Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Deutschland einen kremlkritischen Kurs eingeschlagen. Merkel war es, die die kraftvolle westliche Antwort auf die russische Aggression in der Ukraine orchestrierte – unterstützt besonders von Frankreich und den USA.
Diese Antwort hat den Kreml beeindruckt. Die Sanktionen zeigen Wirkung, zumal sie von einem massiv gesunkenen Ölpreis unterstützt werden. Der Kreml bemüht sich darum, die vormals guten Beziehungen zu westlichen Hauptstädten wiederherzustellen. Offenbar glaubt man in Moskau, die Haltung des Westens gegenüber Russland sei reversibel. Tatsächlich ist es für viele Europäer schwierig, eine antagonistische Beziehung zu Russland auszuhalten – aus Angst vor der Konfrontation mit einer unberechenbar erscheinenden Atommacht. Viele Unternehmen wünschen sich, das Russlandgeschäft wieder im vollen Umfang aufnehmen zu können. Und Moskau bemüht sich im Syrien-Konflikt darum, sich als unverzichtbarer Partner zu präsentieren.
Doch der Ukraine-Konflikt steht einer Wiederherstellung der vormalig engen Beziehung im Weg. Der Westen hat unter der Führung Berlins die Aufhebung der wirtschaftlichen Sanktionen an die Erfüllung des zweiten Minsker Abkommens (Minsk II) gebunden. Dass es jedoch dazu kommt, ist höchst unwahrscheinlich. Im Kern geht es darum, dass die Ukraine ihre Grenze zu Russland kontrolliert und dass Russland die volle Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine respektiert. Doch die Ukraine stellt das Herzstück des imperialen Projekts Putins dar. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass er gewillt ist, dieses Projekt aufzugeben.
Das vergiftete Angebot des Kreml
In dieser Situation bietet Moskau seinerseits dem Westen einen gesichtswahrenden Ausweg an, die antagonistische Beziehung zu überwinden. Putin hat Minsk II von Beginn an als Instrument benutzt, auf diplomatischem Wege das zu bekommen, was er auf militärischem Weg nicht erreicht hat: die Ukraine wieder in Moskaus Orbit zu bringen.
Während für den Westen die Wiederherstellung der ukrainischen Kontrolle der Grenze zu Russland das Ziel von Minsk II ist, bildet für Putin die Verfassungsreform das Kernstück. Ein Passus in der Vereinbarung legt fest, dass die ukrainische Regierung diese Reform einvernehmlich mit den Separatisten im Donbass zu vereinbaren hat. Das hieße unter den gegenwärtigen Umständen, dass der Kreml entscheidenden Einfluss auf die ukrainische Verfassung nehmen könnte. Über den Weg der so genannten Föderalisierung könnte Moskau der Ukraine eine Verfassung aufzwingen, so dass der von Russland kontrollierte Donbass die ukrainische Regierung in wesentlichen Entscheidungen blockieren könnte.
Moskau bemüht sich, den Westen auf die Seite Russlands zu bringen und Kiew als eigentliches Hindernis für die Umsetzung von Minsk II darzustellen. So könnte der Westen sich schrittweise von der Ukraine distanzieren und erneut an Russland annähern: Russland würde als gutwilliger Partner dastehen und die Ukraine als Hemmschuh einer kooperativen Beziehung mit Moskau erscheinen.
Doch selbst eine realpolitische Analyse ergibt, dass eine solche Übereinkunft mit Russland mit hohen Kosten auch für den Westen verbunden wäre. Zum einen besitzen weder Russland noch der Westen die Mittel, die Ukraine dazu zu bringen, sich wieder unter die Kontrolle Moskaus zu begeben. Die Ukraine hat für ihre Unabhängigkeit gekämpft, ein Prozess der Nationsbildung hat stattgefunden. Das Land hat sich auf den langen, schwierigen Weg der Reform begeben. Die Maidan-Bewegung war in erster Linie eine Revolution gegen die hochkorrupten, von Moskau geförderten Strukturen. Die Westbindung verspricht hingegen Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit und ökonomische Chancen. Verwehrt man der Ukraine diesen Weg, könnte das Land ins Chaos schlittern – und eine Massenauswanderung in Richtung Westen einsetzen.
Zudem würde der Westen, ginge er auf das Angebot des Kremls ein, fatale Signale nach Russland senden. Aggression würde belohnt und ein aggressiver, imperialistischer Nationalismus in Russland gestärkt. Europa würde wieder ein Bild abgeben, das viele in Moskau vor dem Ukraine-Konflikt hatten: schwach und unfähig, russischer Expansion im Weg zu stehen. Das würde die Bereitschaft im Kreml, Risiken einzugehen, noch erhöhen. Die Kosten eines Nachgebens für die europäische Sicherheit wären erheblich. Deshalb muss der Westen seiner Linie treu bleiben und den von Merkel und Außenminister Steinmeier konzipierten Dreiklang aus Sanktionspolitik, Gesprächsbereitschaft und Reform-Unterstützung in der Ukraine weiterverfolgen. Zugleich muss jeder Zweifel daran, dass das Nato-Beistandsversprechen auch für die Länder an der Ostgrenze des Bündnisses gilt, ausgeräumt werden, um Moskau davor abzuschrecken, dieses Versprechen zu testen.
Kooperation und Konfrontation
Die neue Beziehung des Westens mit Russland wird eine realistischere, realpolitischere sein. Der Westen sollte die Hoffnung auf eine ökonomische und politische Modernisierung Russlands nicht aufgeben. Er sollte aber auch nicht glauben, er verfüge über die Instrumente, um Russland zu einer solchen Modernisierung bewegen zu können.
Künftig wird das Verhältnis mit Russland beides enthalten: Elemente der Spannung, des Konflikts ebenso wie Elemente der Zusammenarbeit. In den Bereichen, in denen es im beiderseitigen Interesse liegt, wird es Kooperation geben. In anderen Bereichen hingegen wird eine antagonistische Beziehung unvermeidlich sein.
Eine Rückkehr zur Kooperation auf breiter Ebene wird es mit Moskau auf absehbare Zeit nicht geben. Denn die Ultima Ratio, die Putins Politik antreibt, ist die Stabilität des Regimes. Um die derzeitige Elite an der Macht halten zu können, muss die russische Bevölkerung gegen die Verlockungen der liberalen Demokratie immunisiert werden. Das aber heißt: mehr Kontrolle und Repression im Inneren, fortgesetzte Aggression nach außen. Auch wenn der Westen ignoriert, was innerhalb Russlands stattfindet, so kann er doch nicht seine Interessen an stabiler Ordnung im eurasischen Raum aufgeben. Insofern ist ein gewisses Maß an Konfrontation unausweichlich.