Raus aus der Kuschelecke!
F ür Wahlverlierer sind Deutschlands Wahlrecht und sein föderales System Segen und Fluch zugleich: Man schneidet auf Bundesebene schlecht ab und erhält eigentlich keinen Regierungsauftrag – aber schließlich rettet man sich in eine Koalition und verteilt wieder Ministerposten. Im Prinzip ist es auch gut, Verantwortung zu übernehmen, und gerade die SPD sollte sich ihr nicht entziehen. Zugleich warten bereits die nächsten Landtagswahlen (und im Jahr 2014 zusätzlich die Europawahlen): Schon bald besteht also die Chance, die Niederlage vom September wieder gutzumachen. Hierfür braucht es kein Zaudern und keine Selbstzweifel, sondern Mut und Aufbruch angesichts der anstehenden politischen Auseinandersetzung.
Dieser Dauerbetrieb hat allerdings auch seine Kehrseite. Oft unterläuft er nämlich den Anspruch, der Misere gewissenhaft auf den Grund zu gehen. Ein oder zwei Wahlanalysen sowie ein paar Runden zur Aussprache reichen nun einmal nicht aus. In Großbritannien und Frankreich zum Beispiel gibt es für Wahlverlierer kaum ein Trostpflaster; sie sind dazu verdammt, in der Ödnis der parlamentarischen Opposition auszuharren. Unweigerlich müssen sich die dortigen Parteien über einen längeren Zeitraum hinweg mit dem Urteil des Volkes auseinandersetzen. In Deutschland hingegen kann das politische Wetter viel schneller umschwenken. Der Anreiz für die Sozialdemokratie, sich ihrer trübseligen Situation zu stellen, ist also zwangsläufig geringer.
Der Blick muss sich auf das große Ganze richten
Wie sollte die SPD auf das Wahlergebnis reagieren? Zunächst darf sie sich nicht der folgenden, simplistischen Ausrede bedienen: „Sowohl der Kandidat als auch das Programm waren für sich genommen sehr gut. Leider haben aber beide nicht wirklich zusammengepasst, da der Kandidat mit seinem ausgeprägten ‚Ich‘ das strategische ‚Wir‘ nicht zielführend verkörpern konnte. Außerdem haperte es an der allgemeinen Kommunikation, also an der Fähigkeit der Partei, die tollen Vorschläge dem Bürger auch zu vermitteln. Diese eigene Unzulänglichkeit konnte der Popularität der Kanzlerin, die dreist sozialdemokratische Ideen klaut und eine knallharte Politik der Demobilisierung betreibt, einfach nichts entgegensetzen. Folglich war das schwache Resultat unvermeidlich.“ Fertig ist die Analyse – und der Trugschluss.
In ihrem Essay „The Politics of Evasion“ legten William Galston und Elaine Kamarck schon 1989 die Messlatte für Wahlanalysen auf. Als Antwort auf die desaströse Vorstellung der Demokratischen Partei ein Jahr zuvor rechneten sie mit den üblichen Ausflüchten schonungslos ab: Schlechte „Kommunikation“ oder die „Kandidaten“ seien fast nie der alleinige Grund, wenn eine Partei scheitert. Schon gar nicht seien diese Faktoren isoliert zu betrachten, also als Einzelaspekte, die man unabhängig von der programmatischen Ausrichtung und Gesamtstrategie „ausbessern“ könne. Stattdessen müsse der Blick auf das große Ganze gerichtet werden: Welche gesellschaftlichen Strömungen hat die Partei vernachlässigt? Welche Fragestellungen ignoriert sie? Welche Kuschelecke muss sie verlassen, um wieder attraktiver zu werden?
Um diese grundsätzliche Herangehensweise darf sich die SPD in den kommenden Monaten und Jahren nicht herumdrücken – sofern sie den Absturz nach 2005 nicht als Normalität akzeptieren möchte. Eine ernsthafte Auseinandersetzung muss auf der Annahme basieren, dass die SPD nicht in der Lage war, die Ursachen, die Auswirkungen und die „Nachbeben“ der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise sowie der darauf folgenden Eurokrise so zu lesen, dass sie stimmige Antworten entwickeln konnte. Mit anderen Worten: Das politische Angebot war schlicht nicht auf der Höhe der Zeit.
Zwei wesentliche Entwicklungen prägen unsere Gegenwart. Die erste Entwicklung betrifft das systematische Auseinanderklaffen von ökonomischer Logik und politischen Reflexen. Die globale Wirtschaftsordnung erfordert es geradezu, nationale Souveränität verstärkt auf die europäische und internationale Ebene zu übertragen – während sich die Politik wieder zunehmend am Nationalstaat orientiert und sich dezentral organisiert. Um den Euroraum dynamischer und in sich ausbalancierter zu gestalten sowie der demografischen Herausforderung zu begegnen, brauchen wir eindeutig mehr, nicht weniger Migration. Doch unsere Bevölkerungen sind alles andere als davon überzeugt oder gar begeistert.
Die Wirtschaftliche Vernunft gebietet zudem, radikale Änderungen bei den Ausgabenprioritäten des Sozialstaats vorzunehmen, so dass wesentlich mehr Geld in Kinder, Jugendliche und sozial Schwächere investiert würde. Aber die Interessen älterer Bürger (Stichworte hier: Gesundheitsausgaben, Rentenbeiträge et cetera) scheinen politisch unantastbar zu sein. Und so weiter.
Die SPD, aber auch andere sozialdemokratische Parteien in Europa, müssen als Antwort auf diese Entwicklung mehr bieten, als ständig vom „Primat der Politik“ zu schwadronieren. Die Frage, wie wirtschaftliche Kompetenz mit sozialer Gerechtigkeit und einem ausgeprägten Demokratieverständnis wieder in Einklang gebracht werden kann, hat sich im Laufe des vergangenen Jahrzehnts neu gestellt. Glaubwürdige Antworten stehen noch aus.
Progressiver und innovativer muss es werden
Ein zweites Spannungsfeld besteht zwischen einer Reihe von widersprüchlichen Impulsen der Bürger: Wir genießen die Freiheit, Eigenständigkeit und Vielfalt, die uns das kapitalistische System im 21. Jahrhundert garantiert, aber wir beklagen zugleich seinen permanenten Druck, seine Beschleunigung sowie seine Anonymität. Wir lieben niedrige Preise und uferlose Konsummöglichkeiten, aber die gewachsene Jobunsicherheit können viele nicht ertragen. Während die Skepsis gegenüber dem „Markt“ merklich zugenommen hat, sind der Staat und seine Eingriffe kaum beliebter geworden – in vielen Ländern sogar unbeliebter. Als Konsument, Arbeitnehmer, Lebemann, Sparer oder Anleger zugleich scheinen wir in einem ständigen Konflikt mit uns selbst zu stehen. Die Politik ist mit dieser Situation zuweilen überfordert.
Die SPD muss sich fragen, ob sie genug dafür tut, diesen Widersprüchen gerecht zu werden. Die Fokussierung auf Mindestlohn, Ganztagsschule, Bankenabgabe oder Vermögenssteuer hat ihren Zweck natürlich nicht gänzlich verfehlt. Die SPD hat wichtige Debattenimpulse gesetzt, die Deutschland in den kommenden Jahren voranbringen werden. Aber sie hat es nicht vermocht, eine progressive Reformmehrheit für sich zu gewinnen. Genau darin besteht die große Herausforderung: Als Interessenverwalterin spezifischer sozialer Gruppen wird die SPD auch weiterhin einen Platz im politischen Betrieb haben. Um jedoch zusammen mit den Grünen – die ihrerseits eine schonungslose Aufarbeitung betreiben – eine gestalterische Mehrheit zu erzielen, muss sie sich wieder wesentlich breiter und vor allem innovativer aufstellen. Hat die Partei den Willen, diesen Schritt zu gehen?