Ravioli mit Cem »Trattoria a´ Muntagnola«
Als Cem Özdemir seine Frau kennenlernte, stellten sie zwei Gemeinsamkeiten fest: Beide wohnten im fünften Stock ohne Aufzug. Und beide liebten die Trattoria a’ Muntagnola. Inzwischen haben sie geheiratet. Sie wohnen wieder im fünften Stock ohne Aufzug. Aber in die Trattoria a’ Muntagnola gehen sie nur noch selten. Der Grund sind ihre beiden Kinder und die vielen Termine. Aber wenn die Schwiegermutter (eine Italienerin!) zu Besuch ist, kehrt die ganze Familie hier ein. „Auf allen Tischen stehen Buntstifte und die Kinder können auf die weißen Untersetzer malen – außerdem stört es hier niemanden, wenn sie durch die Gänge rennen“, sagt Cem Özdemir.
Wir bekommen zwei gemischte Vorspeisenteller. Der eine ist vegetarisch, darauf finden sich die Spezialitäten des Hauses: Auberginen in Tomatensauce mit Rosinen und Pinienkernen sowie Saubohnenpüree mit Löwenzahn. „Hiervon könnte ich mich ernähren“, sagt Vegetarier Özdemir. Der andere Teller kommt mit hausgemachter Salcicia, kleinen Shrimps in Zucchini mit Minze und vielen anderen Leckereien. „Hiervon könnte ich mich ernähren“, denke ich. Dazu wird ein bunter Brotkorb gereicht, ebenfalls hausgemacht. Das war der kulinarische grün-rote Teil eins. Und wir sind eigentlich schon satt und zufrieden.
Wenn Cem Özdemir vom Wahlkampf und den möglichen gemeinsamen Aufgaben einer rot-grünen Bundesregierung spricht, dann geht es erstens um die ökologische Modernisierung Deutschlands mit dem zentralen Element der Energiewende, zweitens um Europas Zukunft und die stärkere Unabhängigkeit von Ölimporten und fossilen Brennstoffen sowie um die Verbesserung von Institutionen und Infrastruktur. Drittens kommt es ihm vor allem auf eine offenere Gesellschaft mit verbessertem Staatsangehörigkeitsrecht, mehr Frauenbeteiligung in DAX-Unternehmen und verbesserter Integration an. Das klingt doch schon sehr nach einem gemeinsamen rot-grünen Programm. Özdemir: „Wir haben gelernt miteinander zu regieren. Und wir können das besser als Schwarz-Gelb. Auch handwerklich.“
Bei der Frage, worauf Rot-Grün gemeinsam stolz sein kann, schmunzelt Cem Özdemir. „Prominente Sozialdemokraten nennen oft grüne Projekte: den Atomausstieg, die Lebenspartnerschaften, das Staatsangehörigkeitsrecht.“ Aber auch die Außenpolitik gehöre dazu: „Wir haben Deutschland als verlässlichen Bündnispartner etabliert. Die alte Scheckbuchpolitik Helmut Kohls war nicht mehr aufrechtzuhalten.“ Özdemir erinnert an den überzeugten Europäer Joschka Fischer und schiebt dann nach: „Guido Westerwelle ist die späte Rache an der Friedensbewegung.“ Das Prinzip der Schutzverantwortung (responsibility to protect) sei ein progressives Projekt. „Davon haben wir die Menschen überzeugt“, so Özdemir. Von der Agenda 2010 hingegen nicht. Diese sei aus der Not heraus entstanden. Es habe „keinen Plan“ gegeben, und eine passende „Erzählung“ auch nicht. „Die SPD hat dafür einen hohen Preis gezahlt: Mitglieder verloren, die Linkspartei bekommen. Wir Grüne hatten es dagegen in der Außenpolitik schwerer.“
Aus solchen Fehlern könne man lernen. An der Regierung müsse Rot-Grün der Skepsis gegenüber Europa begegnen. „Wir brauchen eine starke Erzählung für ein gutes Europa.“ Bei der Bekämpfung der europäischen Jugendarbeitslosigkeit stelle sich die Frage, ob Rot-Grün den Mut dazu hat, zusätzliches Geld in die Hand zu nehmen. Auch bei diesem Thema „residiere“ Merkel nur.
Vor dem Hauptgang bitten wir um kleine Portionen. Cem Özdemir bekommt Ravioli gefüllt mit Brennessel, Salbei und Parmesan. Ich habe eine Lasagne Muntagnola, nach dem Rezept von Mamma Angela. Alles bio und wieder alles hausgemacht! Grüne und rote Köstlichkeiten, beides! Off the record diskutieren wir noch Möglichkeiten, der CDU mithilfe vernünftiger Erststimmenabsprachen einige Wahlkreise oder Bürgermeister abzunehmen. Wir sehen rot-grünes Entwicklungspotenzial. Dazu passt, dass Inhaber Pino Bianco ein Rot-Grüner durch und durch ist: In seiner Heimat ist er Anhänger der Partito Socialista Democratico; in Berlin wählt er die Grünen und unterstützt die Partei gelegentlich auch.
Bianco hat seine Küche ganz seiner süditalienischen Heimat verpflichtet, der Basilikata. Das Konzept kommt an. Es ist ein Abend mitten in der Woche, und die Trattoria a’ Muntagnola ist ab sieben Uhr voll. Vier Karten sind erhältlich: eine gerollte Standardkarte, eine Wochenkarte, eine Weinkarte und, alles zusammenfassend, ein kleines Buch in sage und schreibe 28 Sprachen.
Die Trattoria existiert seit 1991. Seit 2012 wird auch das (Bio-)Gemüse aus dem eigenen Garten verarbeitet, das Pino am Rande von Tempelhof anbaut. Namensgeberin und gute Seele des Restaurants ist seine Mamma Angela: Ihr Ehemann nannte sie liebevoll die „Frau aus den Bergen“ (a’ Muntagnola). Zusammen haben beide ein Kochbuch „Basilikata“ herausgegeben, sie pflegen einen deutsch-italienischen Stammtisch und bewirten seit zwölf Jahren einmal wöchentlich die Kinder der benachbarten Kita.
Auch Cem Özdemir liegt der Nachwuchs besonders am Herzen. Kindertagesstätten sollten nicht nur in ausreichender Zahl vorhanden sein, findet er, sondern zudem qualitativ gut ausgestattet: „Das sage ich auch als Vater!“ Das Gleiche gelte für Ganztagsschulen „inklusive gesundem Mittagessen“. Und warum sollte nicht auch an staatlichen Schulen jedes Kind die Chance haben, ein Musikinstrument zu lernen, fragt Özdemir. Für ein zentralistischeres Bildungssystem trete er jedoch nicht ein, „schon um meinen Freund Winfried Kretschmann nicht zu ärgern“. Aber man dürfe die Länder in der Bildungspolitik nicht allein lassen. „Vonnöten sind da pragmatische Lösungen, und auch die CDU sollte sich nicht verschließen.“ Wichtig ist ihm, dass es keinen permanenten Zick-zack-Kurs gibt: „Wir brauchen einen Bildungskonsens!“
Beim Espresso macchiato enden dann aber die rot-grünen Gemeinsamkeiten. „Ich bin Vorsitzender einer stolzen Partei – so wie auch die Sozialdemokratie eine stolze Partei ist“, betont er. Wir kommen zu den Unterschieden zwischen beiden Parteien. Das SPD-Programm sei doch in Steuerfragen viel radikaler, „wenn man zum Beispiel an die geforderte Vermögenssteuer denkt, im Gegensatz zur Vermögensabgabe der Grünen“. Dasselbe gelte für Infrastrukturfragen: „Die SPD baut noch Brücken über Straßen, die es gar nicht gibt. Oder Tiefbahnhöfe, wo oberirdische Lösungen ausreichen würden.“ Und weiter: „Ich sag das mal polemisch: Wo der CDUler aufhört zu bauen, fängt der SPDler mit dem Betonmischer an.“
Aber Cem Özdemir wird schnell wieder versöhnlich. „Ich bin Realo. Meine Familie hat einen Arbeiterhintergrund. Das Geld für den Türkei-Urlaub musste her. Da war kein Platz für Fantastereien“, beschreibt Cem Özdemir seine politische Sozialisation. „Ich hätte auch in der SPD landen können. Ich war Bafög-Empfänger, habe die Fachhochschulreife nachgemacht.“ Das alles seien sozialdemokratische Errungenschaften. „Es gab tolle Lehrer in der SPD. Das hab ich bei der 150-Jahr-Feier der SPD auch noch einmal bemerkt.“ Zum Beispiel habe ihn die schwäbisch-protestantische Verantwortungsethik von Erhard Eppler in dessen Buch Wege aus der Gefahr sehr geprägt. Doch dann gab es den „einen Grund“, warum er doch den Grünen beitrat: Helmut Schmidt. Wegen der Atom- und Friedensfragen habe er keine andere Wahl gehabt.
Ach so: Ich trank die leckere grüne Traube Malvasia, einen D’Avalos di Gesualdo Bianco. Cem Özdemir hatte einen Roten bestellt: Basilicata Rosso Vignali der Rebsorte Aglianico. Das war bestimmt Zufall. Jeder, was er lieber mag.