Reiseverbot in Deutschland
„Zu siebt kamen wir in ein Asylheim in Mecklenburg-Vorpommern. Die anderen sechs weinten viele Tage, denn es war wie in einem Gefängnis. Ich versuchte sie zu trösten und sprach ihnen Mut zu, damit sie durchhielten. Die alte Kaserne lag mitten im Wald. Mit den Krücken musste ich acht Kilometer über einen Feldweg gehen, um zur nächsten Ortschaft zu gelangen.“ Ali Safianou Touré floh 2002 aus Togo, nachdem sein Freund und Mitstreiter in der „Parti pour la Démocratie et le Renouveau“ auf einer Demonstration erschossen worden war und die Lage für Touré zu gefährlich wurde.
Der gehbehinderte Aktivist der Flüchtlingsorganisation „Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und Migrantinnen“ lebte über zehn Jahre lang mit einer Abschiebedrohung. Mit seiner „Duldung“, die ihm immer wieder für drei Monate verlängert wurde, erhielt er keine ausreichende Gesundheitsversorgung. Der 40-jährige Schneider litt immer stärker unter den Folgen einer Kinderlähmung. Kein Physiotherapeut massierte seine beanspruchten Schultern, keine Behörde bezahlte den Rollstuhl, den Ärzte ihm dringend empfahlen. Tabletten linderten etwas den Schmerz in den Knien und im Rücken, drückten aber auf den Magen. Die Kanzlei seiner Anwältin befindet sich in Hamburg. Die Reise ist beschwerlich, noch dazu benötigte er wegen der Residenzpflicht jedes Mal eine Genehmigung, für die er einen zusätzlichen – im Körper wie im Herzen – schmerzhaften Weg zurücklegen musste.
Ende vergangenen Jahres brach er sich bei einem Besuch in Hamburg ein Bein und liegt seitdem in einem Pflegeheim. Obwohl Touré mittlerweile keine „Duldung“, sondern einen rechtmäßigen Aufenthaltsstatus in Deutschland hat, kann er seinen Wohnsitz nicht frei wählen. Er darf aus Parchim nicht wegziehen. Da er sich nun seit einigen Monaten in Kurzzeitpflege in Hamburg befindet, hat ihm die Behörde in Parchim kurzerhand alle Leistungen gestrichen und der Mann steht ohne Krankenversicherung da. Auch das Zimmer in seiner Unterkunft in Parchim wurde gekündigt, da er sich „außerhalb des in der Erreichbarkeitsanordnung genannten Bereichs“ aufhalte. Gleichzeitig verweigert ihm das zuständige Bezirksamt in Hamburg eine „Zuzugsgenehmigung“. Touré ist, wenn er demnächst aus dem Pflegeheim entlassen wird, obdachlos.
Mit der Bewegungsfreiheit für alle Menschen tut sich Deutschland schwer
Deutschland tut sich schwer damit, eine allgemeine Bewegungsfreiheit für alle Menschen, seien es Flüchtlinge oder mobile Menschen aus der Europäischen Union, zuzulassen und als selbstverständlich anzusehen. Manchmal hat man den Eindruck, dass selbst die Grundhaltung der Freizügigkeitsrichtlinie der Europäischen Union in vielen deutschen (Politiker-)Köpfen und Behörden noch nicht angekommen ist.
„Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet“, heißt es in Artikel 11 des Grundgesetzes. Es geht um das Recht auf die freie Wahl des Wohnortes und die freie Bewegung in Deutschland. Das Grundrecht klingt nicht nur angesichts der Europäischen Freizügigkeit altbacken. Auch wer dachte, dass es sich bei der Bewegungsfreiheit um ein Menschenrecht handele, wird – zumindest in Deutschland – eines anderen belehrt: Freundinnen in einer anderen Stadt treffen, an einem Schulausflug nach Berlin teilnehmen, den Vater der Kinder im benachbarten Bundesland besuchen, in der Landeshauptstadt flanieren – all das ist nur ein Deutschenrecht. Es ist lediglich Menschen mit deutschem Pass und bestimmten Ausländergruppen vorbehalten.
Für Asylsuchende und Menschen mit einer Duldung gilt auch im 21. Jahrhundert und über 20 Jahre nach dem Fall der Mauer: Das freie Reisen innerhalb Deutschlands ist generell verboten. Asylsuchenden ist es nach dem Asylverfahrensgesetz untersagt, ohne Erlaubnis das Gebiet der für sie zuständigen Ausländerbehörde zu verlassen. Für Menschen mit Duldung ist der Bewegungsbereich nach dem Aufenthaltsgesetz auf das Bundesland begrenzt, in dem die Geduldeten gemeldet sind. Allerdings beschneiden einige Bundesländer und einzelne Ausländerbehörden den Bewegungsraum noch enger.
Die so genannte Residenzpflicht ist ein Gesetz, das den meisten Deutschen völlig unbekannt ist. Während in den Talkshows die altbekannten, meist männlichen und deutschen Gäste über die ewiggleichen Themen – Rentendebatte, Gesundheitsreform, Geburtenrückgang, Mindestlohn, Bildung – rauf und runter sprechen, lief mit ziemlicher Sicherheit noch keine Diskussionsrunde mit Vertretern von Flüchtlingsorganisationen zum Thema Residenzpflicht. Wer wäre auch daran interessiert? Es würde keine gute Quote bringen, das deutsche Publikum hat es gar nicht nötig, sich damit zu beschäftigen. Nur wenige Deutsche machen sich die menschliche und politische Mühe, genauer hinzusehen und hinzuhören – sie haben das Problem ja nicht. Und häufig kennen sie die Auswirkungen auch überhaupt nicht, da engerer Kontakt zu Flüchtlingen kaum gepflegt wird.
„Nicht die Menschen verstoßen gegen das Gesetz, sondern das Gesetz verstößt gegen die Menschlichkeit“, sagt Ashkan Khorasani zur Residenzplicht. Der 23-jährige Mann aus dem Iran hat sich den jüngsten Flüchtlingsprotesten angeschlossen, um für die Forderungen nach Bewegungsfreiheit, Abschaffung der Isolationslager und Essenspakete, freier Arztwahl, Arbeits- und Studienerlaubnissen einzutreten. Wollen sich Flüchtlinge vernetzen, um gegen ihre Behandlung zu kämpfen, müssen sie in der Regel ihre Landkreise und Bundesländer verlassen. Angesichts der Praxis von Ausländerbehörden, Flüchtlingen die Teilnahme an politischen Veranstaltungen zu verwehren, bedeutet die Residenzpflicht zugleich ein faktisches Verbot der Versammlungsfreiheit. Aber auch andere Grundrechte, etwa die freie Ausübung der Religion, das Recht auf körperliche Unversehrtheit oder der Schutz der Ehe, werden durch die Residenzpflicht beschnitten. Derzeit sind über 150 000 Menschen von diesem in der Europäischen Union einzigartigen Zustand betroffen.
Der Begriff »Residenz« verhohnepiepelt die Öffentlichkeit
Die Residenzpflicht zählt, ähnlich wie das Asylbewerberleistungsgesetz, zu den schrecklichsten Wortschöpfungen deutscher Behörden. Der Begriff „Residenz“ verhohnepipelt die Allgemeinheit, denn er verweist nicht auf verrostete Container in den Gewerbegebieten, auf verfallene Kasernen im Wald, in die der Wind fährt und der Regen tropft, auf von Schimmelpilzen befallene Duschräume und Kellerbehausungen in entlegenen Dörfern.
Nurjana Arslanova, Sprecherin der Organisation „Jugendliche Ohne Grenzen“ ist 22 Jahre alt und lebt mit ihren Eltern und ihrem Bruder seit über zehn Jahren mit einer Duldung in Deutschland. „Jahrelang habe ich Gifhorn nicht verlassen, da es uns nicht erlaubt ist, ohne Genehmigung in Deutschland zu reisen“, sagt sie. „Aber abgesehen von der Residenzpflicht wäre es uns auch gar nicht in den Sinn gekommen, da wir überhaupt nicht das Geld dafür hatten. Gleichzeitig war es sehr seltsam, denn aus Russland wusste ich, dass Straftäter manchmal nicht die Stadt verlassen durften.“
Trotz bildungswidriger Umstände gelang es ihr, die Realschule abzuschließen. Mit ihrer Klasse durfte sie einmal nach Braunschweig und nach Wolfsburg reisen. „Heute besuche ich die Berufsbildenden Schulen in Gifhorn und lasse mich zur Sozialpädagogischen Assistentin ausbilden. Es hat lange gedauert, bis ich als Geduldete eine Arbeitserlaubnis für die Ausbildung bekam. Leider hatte mir vorher niemand gesagt, dass ich für die schulische Ausbildung gar keine Extraerlaubnis brauche. Ich suche aber dringend einen betrieblichen Ausbildungsplatz, bei dem ich auch Geld verdiene, damit ich mich selbst versorgen kann“, sagt die junge Frau.
Vor ein paar Jahren erhielt sie eine Einladung zur Jahreskonferenz der Organisation Jugendliche Ohne Grenzen (JOG). „Das hat mich sehr interessiert, aber ich brauchte eine Erlaubnis dafür. Die Ausländerbehörde hatte mir erst geantwortet, als die Konferenz schon längst vorbei war. Aber ich hätte ohnehin keine Genehmigung bekommen. Man hatte mein Anliegen sogar dem Staatsschutz weitergeleitet. Es hieß, es liege kein öffentliches Interesse vor, dass ich an der Konferenz teilnehme. Ich solle Deutschland verlassen.“
Elf Jahre Dagestan, elf Jahre Deutschland
Dennoch: Arslanova engagiert sich seit fast drei Jahren bei JOG. Mittlerweile ist sie Pressesprecherin und Landeskoordinatorin in Niedersachen. In letzter Zeit würden fast alle Reisen genehmigt, berichtet sie; der früher zuständige Mitarbeiter im Amt aber hätte noch fast jeden Antrag abgelehnt. „Wir haben es satt, uns ständig von diesen Leuten schikanieren und unter Druck setzen zu lassen. Mir kommt es vor, als ob ich eine lebenslange Strafe bekommen habe, obwohl ich keine Straftat begangen habe“, sagt die junge Frau. „Weiterhin haben wir eine Duldung, meist für drei Monate, mit all den Verboten und Einschränkungen, die damit verbunden sind.“ Weil sie 2011 sieben Tage vor dem Stichtag der Bleiberechtsregelung der Bundesregierung ihren 21. Geburtstag feierte, war sie für die festgesetzten Bedingungen zu „alt“ und bekam keine Aufenthaltserlaubnis. „Elf Jahre Dagestan, elf Jahre Deutschland. Ich bin 22 Jahre alt, ich bin nicht vorbestraft. Ich denke deutsch, ich träume auf Deutsch. Deutschland ist für mich meine Heimat“, sagt Arslanova.
Wenn Asylsuchende und Menschen mit einer Duldung den Bezirk der für sie zuständigen Ausländerbehörde verlassen möchten und sei es auch nur für wenige Stunden, haben sie ein Problem. Wie Kinder müssen sie um Erlaubnis fragen. Ein Sachbearbeiter der Ausländerbehörde entscheidet darüber, ob und für welchen Zeitraum die Reise genehmigt wird. In manchen Fällen müssen Flüchtlinge kuriose und teure Wege gehen, um eine „Verlassenserlaubnis“ überhaupt nur zu beantragen. Die Sozialwissenschaftlerin Beate Selders schildert in ihrer Studie Keine Bewegung! Die Residenzpflicht für Flüchtlinge ein Beispiel aus Hessen. Dort bekam ein Flüchtling Probleme mit der Residenzpflicht, weil er orthopädische Schuhe benötigte. Das nächste Sanitätshaus war eine Bahnstation entfernt, was ihn freute, schließlich musste er ja mehrmals zur Anprobe. Untergebracht war er in Neustadt im Regierungsbezirk Gießen. Das Sanitätshaus aber lag im Nachbarlandkreis und im Regierungsbezirk Kassel. Um die eine Station zum orthopädischen Schuhmacher zu fahren, ohne sich strafbar zu machen, hätte der Mensch mit den kranken Füßen zunächst auf eigene Kosten 70 Kilometer nach Marburg zur Ausländerbehörde fahren müssen, um eine Verlassenserlaubnis zu beantragen. In manchen Bundesländern müssen Asylsuchende und Menschen mit Duldung für ihre Spazierfahrt oder den Arztbesuch auch noch bezahlen. Ob es für derartige Gebühren überhaupt eine Rechtsgrundlage gibt, ist umstritten.
Ein anderer Fall: „Bei Ihrem Vortrag Ihre Frau zu treffen um mit ihr Sex zu haben, handelt es sich nicht um einen Grund, der den Voraussetzungen entspricht“, beschied der niedersächsische Landkreis Northeim im Falle des Metallarbeiters Ghassan El-Zuhairys. Der geduldete Flüchtling sei, schrieb die Süddeutsche Zeitung, im Oktober 2010 trotzdem nach Dessau gefahren, wo seine Frau aufgrund der Verteilungsquote lebte. Reiseanträge müssen rechtzeitig gestellt und vor allem gut begründet werden. Sehnsucht allein hätte jedenfalls in Northeim nicht ausgereicht. Auch die Teilnahme an Gottesdiensten, Demonstrationen, Familienfeiern, Kongressen und Sportwettkämpfen wurde in ungezählten Ablehnungsbescheiden versagt. Warum fahren Sie so oft zum Anwalt? Wen wollen Sie besuchen? Wie lautet die Adresse der Person? Um was für eine Demonstration handelt es sich? Wie haben Sie die Bekannte kennengelernt? Und wo? Hatten Sie für diesen Ort eine Erlaubnis? Fragen über Fragen, die bis in den Intimbereich der Flüchtlinge gehen. Fragen, die demütigen und entrechten. Viele Flüchtlinge ersparen sich deshalb das bittere Procedere, reisen ohne Erlaubnis und riskieren damit Strafen mit weitreichenden Folgen. Da sie im Wiederholungsfall als vorbestraft gelten, haben sie später Probleme etwa bei der Arbeitssuche oder der Bleiberechtsregelung.
Fadenscheinige Begründungen
Das Gesetz sieht Geldbußen bis zu 2 500 Euro vor, im Wiederholungsfall eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr. Und warum? Die Bundesregierung antwortete im Sommer 2010 auf eine Kleine Anfrage der Linken: Die Residenzpflicht diene dazu, das Asylverfahren schnellstmöglich durchzuführen und die Antragstellenden jederzeit an einem bestimmten Ort erreichen zu können. Doch solche Begründungen sind fadenscheinig. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl weist darauf hin, dass die Erreichbarkeit für die Behörden während des Asylverfahrens bereits durch eine Wohnsitzadresse gegeben sei. Die Reisefreiheit müsse man dazu nicht einschränken. Auch Regelungen, die mit der Verteilung der Kosten für Asylbewerber zu tun haben, erforderten keine Beschränkung der Bewegungsfreiheit.
Nach Ansicht der Ausländerbehörde des Landratsamts Wartburgkreis in Thüringen beeinträchtigen unerlaubte Reisen jedoch „die öffentliche Sicherheit und Ordnung maßgeblich“, ja „verletzen die Interessen der Bundesrepublik erheblich“. So jedenfalls stand es 1999 im Ausweisungsbescheid, den das Amt dem Asylbewerber Jose Maria Jones wegen mehrmaligen, „vorsätzlichen“ Verstoßes gegen die Residenzpflicht zustellte. Die Behörde schrieb auch: „Gerade im Bereich der Verstöße gegen die räumliche Beschränkung des Bereichs der Aufenthaltsgestattung ist bei Asylbewerbern zunehmend und in umfangreichen Maße eine Anhäufung derartiger Straftaten im Bundesgebiet festzustellen, so dass hier eine Ahndung mit allen Mitteln durch die Behörde geboten ist, um andere Ausländer von einem ähnlichen Fehlverhalten abzuhalten.“
Die sozialliberale Koalition hatte die Residenzpflicht 1982 als Teil des Asylverfahrengesetzes eingeführt. Hintergrund war die steigende Zahl an Asylanträgen. Mit Ausnahme der Zeit des Prager Frühlings Ende der 1960er Jahre hatte die Zahl der jährlichen Anträge zuvor um die 5 000 gependelt. Doch spätestens mit dem Militärputsch in der Türkei 1980 begann die Zahl der Anträge auf über 100 000 zu steigen. Das neue Gesetz bescherte den Flüchtlingen neben der Residenzpflicht die Lagerunterbringung, Essenspakete, Gutscheine statt Bargeld, die gesetzliche Regelung des Verteilungsverfahrens auf die Bundesländer sowie das Arbeitsverbot.
Ihren Vorläufer hatte die „räumliche Beschränkung des Aufenthalts“ übrigens in der „Ausländerpolizeiverordnung“ von 1938. Diese galt faktisch bis 1965, als das Ausländerrecht, das heutige Aufenthaltsgesetz, in Kraft trat. Sowohl der Wortlaut als auch das Strafmaß der einschlägigen Passage des Asylverfahrengesetzes von 1982 waren fast identisch mit der Verordnung der Nationalsozialisten zur Residenzpflicht. Der Europäischen Union gelang es 2003 nicht, die Bewegungsfreiheit in der Richtlinie zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern festzuschreiben – der Druck aus Deutschland, damals unter dem Innenminister Otto Schily (SPD), war zu groß.
Aus der Perspektive von Betroffenenorganisationen wie „The Voice“, der Flüchtlingsinitiative Brandenburg (FIB) oder der Karawane erinnert die Residenzpflicht an die südafrikanischen Passgesetze zu Zeiten der Apartheid. Sie sehen in der Residenzpflicht den Nährboden für rechte Gewalt, weil sie Flüchtlinge schwäche und „minderwertige“ Menschen entstehen ließe. Deshalb wehren sich Flüchtlinge seit über 30 Jahren gegen ihren Gebietsarrest und den Eingriff in die Grundrechte unbescholtener Menschen. Manche beschränken sich auf individuelle Vorgehensweisen, indem sie schlicht nicht um Erlaubnis fragen oder – seltener – auf gerichtlichem Wege eine Genehmigung erstreiten. Andere schließen sich Initiativen für die Rechte von Flüchtlingen und Einwanderern an, die vor rund zwölf Jahren begannen, das Thema auf ihre Agenda zu setzen. Der Flüchtlingskongress in Jena im Jahr 2000 war der Startschuss für eine Kampagne gegen die Residenzpflicht.
Es folgten Aktionstage, Anfragen, Petitionen, Memoranden und Mobilisierungen zu Gerichtsprozessen. Massenproteste hat die Residenzpflicht zwar nie ausgelöst, aber die Aktionen wirkten wie beharrliche Nadelstiche. Gleichwohl erlitten sie mit den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts 1997 und des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 2007 Niederlagen. Darin entschieden auch die obersten Gerichte, dass das Reiseverbot mit dem Grundgesetz und mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar sei.
Viel Arbeit, unklarer Zweck
Noch vor zehn Jahren hätte jedoch kaum eine in der Politik tätige Person gewusst, was es mit der Residenzpflicht für Flüchtlinge auf sich hat. Seit einigen Jahren ist das Thema immerhin im Bundestag und in den Landtagen angekommen. Inzwischen haben einzelne Bundesländer, darunter Berlin, Brandenburg, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein, den Radius des Gebietsarrests etwas erweitert, etwa um Schulbesuche und Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Dort darf sich ein Teil der Geduldeten und Asylsuchenden im ganzen Bundesland bewegen oder wie in Mecklenburg-Vorpommern und Bayern in etwas größeren Gebieten als bisher. Die Abschaffung der entsprechenden Bundesgesetze steht aber immer noch aus.
Viele Flüchtlinge haben sich das Recht auf freie Bewegung trotzdem längst genommen. Die Residenzpflicht verursacht zudem in Verwaltung, Behörden, Justiz und bei der Polizei Arbeit, deren Zweck sich offenbar nicht mehr allen Beteiligten erschließt – schon gar nicht in Zeiten von Sparmaßnahmen. Zumindest führte dies das Brandenburger Innenministerium – neben den grundrechtlichen Aspekten – an: „Gleichzeitig entfiel bei den Ausländerbehörden auch viel bürokratischer Aufwand, der zuvor bei der Bearbeitung und Entscheidung von entsprechenden Anträgen getrieben werden musste.“
Manche Bundesländer halten eisern an der Residenzpflicht fest, etwa das von der SPD regierte Hamburg. Dort sind von der Regelung mehr als 6 000 Menschen betroffen. Im vergangenen Jahr erteilte die Stadt 600 „Verlassenserlaubnisse“ – die Zahl der Ablehnungen ist nicht bekannt, da die Anträge der Hamburger Innenbehörde zufolge nicht statistisch erfasst werden. Für die Hamburger Flüchtlinge gilt zudem eine Besonderheit: Hamburg verbannt seine Flüchtlinge vor die Stadttore. In Nostorf/Horst bei Boizenburg in Mecklenburg-Vorpommern befindet sich eine entlegene „Wohnaußenstelle“ der Hamburger Erstaufnahmeeinrichtung, in die auch schulpflichtige Kinder geschickt werden. Die wenige Kilometer entfernte Stadt Lauenburg an der Elbe dürfen die Menschen aus dem Iran, aus Afghanistan, aus Somalia und dem Sudan nicht besuchen, denn die wiederum liegt in Schleswig-Holstein. „Wer Mecklenburg-Vorpommern zugewiesen wurde, darf natürlich nur mit Genehmigung nach Hamburg“, schreibt die Hamburger Innenbehörde. Auch gegen länderübergreifende Regelungen, wie sie etwa zwischen Niedersachsen und Bremen sowie zwischen Berlin und Brandenburg bestehen, sperrt sich Hamburg hartnäckig.
Manche Bundesländer halten eisern an der Residenzpflicht fest
Wie geht es weiter? Eine von Bremen, Brandenburg, Berlin und Nordrhein-Westfalen ausgehende Bundesratsinitiative, die zum Ziel hatte, die Residenzpflicht im ganzen Bundesgebiet weitgehend aufzuheben, scheiterte im Jahr 2010. Auch die Anträge der Linkspartei und der Grünen im Bundestag fanden im Frühjahr 2011 keine Mehrheit. Damals stimmte die SPD gegen den Antrag der Linkspartei und enthielt sich beim Antrag der Grünen. Im Mai 2012 forderte die SPD dann selbst den Bundestag auf, die Residenzpflicht bis auf einige Ausnahmen abzuschaffen. Nun will die Linkspartei einen weiteren Versuch starten. Sie fordert die Abschaffung der Residenzpflicht ohne Ausschlussklauseln und ohne die Zwangsverteilung auf bestimmte Orte. Die rot-grüne Landesregierung von Rheinland-Pfalz kündigte zudem eine neue Bundesratsinitiative an. Doch die Aussichten sind schlecht. Einige Bundesländer, darunter Hessen (CDU), Hamburg (SPD) und Sachsen-Anhalt (CDU und SPD) sehen nach eigenen Angaben keine Gründe, die räumlichen Beschränkungen aufzuheben.
So bleibt es wohl in der nächsten Zeit beim Herumdoktern an einzelnen Lockerungen hier und da, an ausgefeilten Ausnahmeklauseln und ausgeklügelten Gebietserweiterungen. Die Ausländerbehörden in den Bundesländern mit reformierter Residenzpflicht können nach wie vor den Bewegungsradius auf einen Landkreis oder sogar eine Stadt beschränken. Die Gründe dafür sind vielfältig: Aufenthalt in einer Aufnahmeeinrichtung, Verurteilungen wegen (selbst geringfügiger) Straftaten, Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen und vor allem: fehlende Mitwirkung an der Ausreise. Pro Asyl kritisiert: „So wurde die Residenzpflicht in vielen Bundesländern von einer pauschalen Schikane für alle Asylsuchenden und Geduldete in eine individuell verhängbare Sanktionsmöglichkeit umgewandelt, mit der die Ausländerbehörden Betroffene nach eigenem Gutdünken bestrafen und unter Druck setzen können.“
Trotz umständlicher Liberalisierung: Das verfassungsfeindliche Abschreckungsrecht bleibt bestehen. Die alte Devise, wonach Flüchtlinge nicht gefährdet sind, sondern gefährlich, ist nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch im Parlament immer noch präsent. Das Menschenrecht auf freie Bewegung wird mit zweierlei Maß gemessen. Und vielen Deutschen, die es – trotz gefühlter und in Studien nachgewiesener Ängste und Bedrohungsvorstellungen – weich und warm haben, scheinen allgemeingültige Grundrechte nicht viel wert zu sein. Es sind meist die Flüchtlinge selbst, und nicht die Deutschen, die für den Protest gegen diese Ungleichheit ihre Gesundheit aufs Spiel setzen und die Übergriffe der Polizei und von Nazis sowie Geldstrafen und Schikanen der Behörden in Kauf nehmen.
Ein Existenzminimum unter dem Existenzminimum?
Die Residenzpflicht fügt sich ein in die Kette weiterer Sondergesetze, die Flüchtlingen im Land ihrer Asylsuche Rechte entziehen: Arbeits- und Studienverbot, Isolation, Gutscheine statt Bargeld, Kettenduldungen. Besonders das Asylbewerberleistungsgesetz schafft eine Menschenwürde mit Rabatt. Grüne und Linke fordern schon lange dessen Abschaffung, CDU/CSU, FDP und SPD allerdings möchten an dem Gedanken festhalten, es gebe ein Existenzminimum unterhalb des Existenzminimums. Doch diese Gesetze produzieren ausgegrenzte Menschen und fördern deren Abwertung durch Medien und Menschen. Dies begünstigt Rassismus und rechte Gewalt. Politisch und gesellschaftlich betriebene Ausschlüsse hinterlassen – auf allen Seiten – ihre Spuren im Denken, Fühlen und Handeln.
Die von dem Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer benannte „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ sorgt dafür, dass Asylsuchende ökonomisch und rechtlich schwächer gestellt werden. Die Flüchtlingsabschreckungspolitik weist ihnen eine untergeordnete Statusposition zu und stabilisiert, legitimiert und erzeugt damit gleichzeitig die Ungleichwertigkeit und die mit ihr verbundene Ungleichheit immer wieder neu.
Thorbjørn Jagland, der Generalsekretär des Europarats, prägte nach Anders Behring Breviks Massaker in Norwegen die Formulierung „tiefe Sicherheit“, welche er vom polizeilichen und militärischen Denken abgrenzte. Diese in der Gesellschaft verankerte „tiefe Sicherheit“ soll die in der europäischen Menschenrechtskonvention niedergelegten Werte zur Basis haben, darunter Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz. Die Residenzpflicht hingegen durchdringt den Lebensalltag von Flüchtlingen. Demütigung, Isolierung, Ausgrenzung und Entrechtung bestimmen die Lebensrealität nicht nur dann, wenn sie tatsächlich ihren Landkreis verlassen möchten oder müssen. Sie verstärken ein generell belastendes Lebensgefühl, Mensch zweiter Klasse zu sein und – besonders bei Polizeikontrollen auf Bahnhöfen und in Regionalzügen – stigmatisiert zu werden.
Manchen mag die Abschaffung der Residenzpflicht als große Hürde erscheinen, weil hierdurch ein altes, lange gepflegtes Schwarz-Weiß-Gemälde zerrissen würde. Andere wiederum meinen, hierdurch würde nur ein winziges Mosaiksteinchen aus dem hässlichen Bild der Abschreckungspolitik gegenüber Asylsuchenden herausbrechen. Fest steht: Für die betroffenen Flüchtlinge selbst wäre die Bewegungsfreiheit ein echter Schritt nach vorne. Vielleicht auch für die Demokratie in Deutschland.