Reprästentation und neue Souveränität
Die vergangenen Monate standen im Zeichen eines kollektiven Aufbegehrens. Stuttgart 21, Berliner Flughafen-Streit, Schulreform in Hamburg, Nichtraucherschutz in Bayern – allerorten protestierten die Bürger gegen Entscheidungen ihrer gewählten Repräsentanten. Die gute Nachricht lautet: Dieses Aufbegehren straft das gängige Lamento über Politikverdrossenheit Lügen. Denn die Bürger wollen mitreden, wenn es um Belange geht, die sie unmittelbar betreffen. Die schlechte Nachricht: Die viel zitierte Kluft zwischen den Regierenden und den Regierten scheint unaufhaltsam zu wachsen.
Derzeit artikuliert sich nicht zuletzt der Frust über Institutionen, die zwar formal intakt scheinen, tatsächlich aber Züge einer „Postdemokratie“ (Colin Crouch) tragen. Und es kommt der Unmut über eine Politik zum Ausdruck, die den Realitäten globalisierter Märkte zusehends hinterherhinkt und die – sofern sie überhaupt noch etwas gestalten kann – permanent damit beschäftigt scheint, im Hauruck-Verfahren Sozialstaatsreformen und Bankenrettungsschirme durchzudrücken, anstatt ihre Entscheidungen im Dialog mit den Wählern zu begründen. Politiker sollten „Stückwerkingenieure“ bleiben, so hat es Karl Popper einmal formuliert. Jeder Mächtige möge sich „davor hüten, Reformen von solcher Komplexität zu unternehmen, dass es ihm unmöglich wird zu wissen, was er eigentlich tut“. Heute, in einer Zeit multinationaler Verflechtung und beschleunigten technologischen, ökonomischen und sozialen Wandels, zweifeln wohl die wenigsten daran, dass Politiker „Stückwerkingenieure“ sind, ja sein müssen. Das Problem ist nur: Es hat sich der Eindruck eingestellt, sie wüssten trotzdem nicht, was sie tun.
Die Proteste, die sich zuletzt meist auf der kommunalen und Landesebene abspielten, sind der Versuch der Bürger, wenigstens in ihrer unmittelbaren Lebensumwelt die Verhältnisse wieder geradezurücken und so etwas wie Autonomie und Souveränität herzustellen. Und so nimmt es kaum Wunder, dass der Ruf nach direktdemokratischen Verfahren lauter wird. Doch so sinnvoll diese in bestimmten, vor allem lokalen Fragen sein mögen (wo die Debatten im Vorfeld der Abstimmung einer präventiven Schlichtung gleichkommen) – die zentrale Frage ist eine andere: Wie lässt sich die repräsentative Demokratie und das ihr immanente Prinzip politischer Führung jenseits des schlichten „Ja oder Nein“ von Bürgerentscheiden weiterentwickeln, so dass sie ihren Aufgaben und den Erwartungen der Bürger besser gerecht wird?
Dass das Vertrauen in die Wirkungsmacht und den Gestaltungswillen der politischen Akteure bei den Wählern schwindet, kann angesichts einer politischen Kultur kaum erstaunen, die von der Erfüllung vermeintlicher „Sachzwänge“ geprägt ist. Auch überrascht es nicht, wenn der Ruf nach „neuer“, unkonventioneller Führung Konjunktur hat. Es gibt eine weit verbreitete Sehnsucht nach starken Personen, die konkrete Probleme der Gegenwart und der Zukunft zu benennen und zu lösen vermögen. Davon zeugt der Erfolg Thilo Sarrazins, aber auch der kometenhafte Aufstieg des „Anti-Politikers aus Adelsständen“ (Süddeutsche Zeitung) Karl-Theodor zu Guttenberg. Doch dies sind bloß Oberflächenphänomene.
Keine Führung ohne Partizipation
Führung ist vielerlei: ein Kampfbegriff im politischen Diskurs, eine politisch-soziale Tatsache und, wenn es um die temporäre Delegation von Macht durch Wahlen geht, schlichtweg eine Notwendigkeit – sowohl mit Blick auf die Problemlösungsfähigkeit, als auch auf die Legitimation in der modernen Demokratie. Nur in den Institutionen der pluralistischen Repräsentativdemokratie, in Parlament, Parteien und Regierung, können dauerhafte Wertediskurse geführt, können Gemeinwohl- und Zukunftsorientierung mittels politischer Entscheidungen ausbalanciert werden. Dies kann auch bedeuten, dass gewählte Politiker unpopuläre Maßnahmen gegen Widerstände durchsetzen, denn in der repräsentativen Demokratie impliziert Führung immer auch ein gewisses Maß an unabhängiger Verantwortlichkeit. Responsiv und im Sinne des Gemeinwohls handelt erst derjenige, der sein Tun nicht eins zu eins von den Befindlichkeiten der Gesellschaft abhängig macht, sondern diese auch zu hinterfragen weiß und Veränderungsprozesse anstößt – für die er in nachfolgenden Wahlen allerdings zur Verantwortung gezogen werden kann.
Doch die Akzeptanz all dieser abstrakten Vorteile der repräsentativen Demokratie ist heute geringer denn je. Und sie schwindet weiter, je mehr Bürger an der demokratischen Qualität politischer Entscheidungsprozesse zweifeln, etwa weil sich ihre gewählten Repräsentanten hinter dem Adjektiv „alternativlos“ verstecken. In Wirklichkeit geht es stets auch um Wertepräferenzen, denen ein breiter Diskurs vorausgehen kann und sollte. Beispielsweise hat die gesellschaftliche Alterung zweifelsohne den Status einer „Tatsachenwahrheit“. Dennoch sind die daraus abgeleiteten politischen Maßnahmen alles andere als wertfrei. So wie sich Politik nicht allein nach Maßgabe vermeintlich empirisch objektivierbaren Wissens gestalten lässt, beruht Führung in der Demokratie weder allein auf einem generellen Wissens- noch auf einem Kompetenzvorsprung. Sie ist keine kognitive Einbahnstraße, sondern ein dialogischer Prozess. Darauf hat schon Max Weber verwiesen: Die viel zitierte „charismatische Führung“ beschrieb er nicht als Resultante spezifischer Persönlichkeitseigenschaften, sondern als Merkmal einer sozialen Zuschreibung. Ihren Erfolg führte er auf die Bewährung des politischen Führers vor der Gesellschaft zurück, auf seine Leistung, und nicht auf ein Ensemble von Charaktermerkmalen.
Eine zeitgemäße Praxis politischer Führung muss die Output-Dimension ebenso berücksichtigen wie die Input-Dimension: Führung braucht Partizipation, um auch über den Moment hinaus akzeptiert zu werden. Was die SPD im Rahmen der Agenda 2010 bitter erfahren hat, gilt auch für Infrastrukturprojekte, etwa für den Bau von Bahnhöfen, Flughäfen oder Energieleitungsanlagen: „Top down“-Lösungen und Hauruckverfahren mögen kurzfristig Entscheidungskosten verringern. Mittelfristig führen sie zu einer demokratischen Diskreditierung der Vorhaben, eben weil sie gesellschaftliche Beteiligungsansprüche nicht berücksichtigen. Auf die Globalisierung hat die Politik mit der Abgabe nationaler Kompetenzen auf die europäische Ebene reagiert. Nun muss sie den veränderten Handlungsbedingungen Rechnung tragen und sich für stärkere Mitwirkung öffnen.
Wie lässt sich das Wissen der Bürger einbeziehen?
Nicht zuletzt aufgrund der hohen Koordinierungskosten beschränkte sich Partizipation in den großen repräsentativen Demokratien der Moderne früher vor allem auf Wahlen, die Mitgliedschaft in Interessengruppen oder auf lokales Engagement. Die Politik stand wirklicher Teilnahme jenseits von Wahlkabinen und Parteimitgliedschaften skeptisch gegenüber, auch weil die Bürger sich oft „unübersichtlich und unverbindlich“ verhielten, wie es Leo Penta formuliert, ein Fachmann für community organizing.
Mit dem Internet steht nun ein Medium zur Verfügung, das beträchtliche Potenziale für eine den gesellschaftlichen und technologischen Realitäten angemessene partizipative Öffnung der Politik bereithält. Möglich wird eine „kollaborative Demokratie” (Beth Noveck), die nicht nur Deliberation umfasst im Sinne von Bildung, Artikulation, Austausch und Abgleich von Meinungen, sondern auf die ergebnisorientierte Mitwirkung der Bürger abzielt. Das Wissen der Bürger als Experten ihrer eigenen Lebensumwelt mit einzubeziehen, kann wichtige Beiträge für bessere Politikergebnisse liefern. Zudem lassen sich auf diese Weise jene Wertedebatten intensiv führen, die politische Maßnahmen stets überwölben.
Gesellschaftliche Teilhabe mittels Wahlen gilt als demokratisch, da alle Bürger in gleicher Form partizipieren können. Dagegen basieren die neuen Arten demokratischer Partizipation darauf, dass sich die Menschen gemäß ihrer Interessen, Präferenzen und Kompetenzen je unterschiedlich einbringen. Es handelt sich um eine neue Form egalitärer Teilhabe, die in der Praxis durchaus problematisch ist. Zum Beispiel deutet der Hamburger Schulstreit darauf hin, dass sozial höher gestellte Bürger partizipative Angebote häufiger annehmen als sozial niedriger gestellte.
Dennoch, das Internet birgt große Chancen, die Interaktion zwischen Führenden und Folgenden zu revitalisieren – und zugleich neues Wissen und zusätzliche Legitimität zu stiften. Für die Politik bedeutet das: Sie muss dazu übergehen, die Menschen draußen im Land nicht nur zu „erreichen“ oder „abzuholen“, sondern als Subjekte ihres Lebens ernst zu nehmen. Dafür müssen sich die handelnden Akteure von „repräsentativen Alleinvertretungsansprüchen“ (Roland Roth) lösen. Der Verlust einer autoritären Form der Kontrolle, den eine derart gestaltete Führungspraxis mit sich bringt, ist kein Angriff auf die zentralen politischen Intermediäre, Parteien und Verbände. Im Gegenteil: Er liegt in ihrem eigenen Interesse – und im Interesse des politischen Systems insgesamt. «