Revolution auf zwei Rädern
Das Fahrrad als urbanes Verkehrsmittel boomt. Überall nimmt der Radverkehr zu, immer mehr Großstädter verzichten sogar ganz auf das Auto. Nicht nur gewinnen die Städte dadurch an Lebensqualität, sondern das Rad bietet auch Lösungen für viele gesellschaftliche Herausforderungen. Ein hoher Anteil von Fahrrädern am Verkehr ist eine wesentliche Voraussetzung für eine lebenswerte und attraktive Stadt. Fahrradfreundliche Städte und Gemeinden werden als positiv wahrgenommen, autozentrentierte Städte hingegen als negativ. Das ist mit Blick auf Bewohner- und Fachkräftegewinnung ein entscheidender Standortvorteil. Doch trotz zahlreicher offenkundiger Vorteile scheint die Politik diese Entwicklung noch nicht hinreichend erkannt zu haben. Noch immer sind deutsche Städte auf den Autoverkehr ausgerichtet. Die Radinfrastruktur entspricht nicht selten dem Stand der achtziger Jahre und wird dem zunehmenden Radverkehr nicht mehr gerecht. Dadurch entstehen Kapazitätsengpässe, Unfallherde – und Frust bei den Verkehrsteilnehmern. Klar ist: Wir brauchen ein neues verkehrspolitisches Programm, das den Ansprüchen einer fahrradfreundlichen Stadt entspricht.
Sicher und komfortabel soll das Radfahren sein
Die Grundvoraussetzung dafür, dass mehr Menschen auf das Fahrrad umsteigen, ist eine sichere und komfortable Radverkehrsinfrastruktur. So gaben in einer Umfrage in Kopenhagen jüngst 93 Prozent der Radfahrer an, das Rad deswegen zu benutzen, weil es bequem und sicher ist. Darüber hinaus ist es entscheidend, sich über die verschiedenen Typen von Radfahrern klar zu werden. Den Radfahrer gibt es nicht. Beispielsweise wurden in der amerikanischen Stadt Portland mittels einer repräsentativen Befragung vier Typen von Radfahrern identifiziert. Rund ein Drittel der Befragten kann sich überhaupt nicht vorstellen, das Fahrrad als Verkehrsmittel zu nutzen. Ein halbes Prozent der Befragten sah sich als stark und furchtlos. Weitere gut sechs Prozent waren vom Rad bereits überzeugt und begeistert. Diese beiden Gruppen von zusammen rund sieben Prozent fahren immer und unter allen Umständen mit dem Fahrrad. Entscheidend für die Planung einer fahrradfreundlichen Stadt ist jedoch die vierte Gruppe: 60 Prozent bezeichneten sich zwar als interessiert am Fahrradfahren, aber auch als besorgt. Sie benutzen das Fahrrad zumeist nur in der Freizeit. Als normales, alltägliches Verkehrsmittel ist es ihnen zu gefährlich.
Die Städte und Kommunen müssen diese Gruppe der interessierten, aber besorgten Menschen in den Fokus rücken. Unbestritten muss die Radverkehrsführung objektiv sicher sein, aber sie muss eben auch von den Menschen als sicher erlebt werden. In der Regel bedeutet das eine Führung des Radverkehrs auf eigenen Fahrspuren auf der Fahrbahn. Diese müssen möglichst breit und an kritischen Stellen farblich hervorgehoben sein. So genannte protected bikelanes sind getrennte Fahrspuren, die sich zwar auf der Fahrbahn befinden, aber durch physische Baumaßnahmen wie Flexipoller oder Blumenkübel vom Autoverkehr getrennt sind. Sie werden als besonders sicher empfunden.
So cool und erfolgreich wie Kopenhagen
Die Herausforderung für die Bürgermeister und Landräte besteht darin, die vom Autoverkehr genutzte öffentliche Fläche zu reduzieren und dem Radverkehr zu eröffnen. Jeder Bürgermeister will eine so coole und erfolgreiche Stadt wie Kopenhagen regieren. Aber dazu gehört auch Mut. In Kopenhagen hat man den Mut, Parkplätze zu Radwegen umzugestalten, breite Radspuren anzulegen und Brücken nur für den Radverkehr zu bauen. In Deutschland haben sich bereits einige Regionen aufgemacht, attraktiv für die Menschen und den Radverkehr zu werden. Andere brauchen noch Anschubhilfe.
Die besten Absichten einer Kommune und der größte Mut eines Bürgermeisters helfen aber nicht weiter, wenn die Pläne für den Ausbau des Radverkehrs nicht finanziert werden können. Deshalb ist das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz unbedingt fortzuführen. Dabei müssen ausreichend Mittel für den umweltfreundlichen Dreiklang aus zu Fuß gehen, Radverkehr und Öffentlichem Personennahverkehr (ÖPNV) festgeschrieben werden. Ohne diese Zuschüsse von Bund und Ländern wird der Ausbau der Fahrradinfrastruktur aufgrund der Finanzausstattung der Kommunen weitgehend zusammenbrechen.
Sein ganzes Potenzial kann der Radverkehr aber erst durch die Verknüpfung mit anderen Verkehrsmitteln, besonders mit dem ÖPNV ausschöpfen. Diese „Multimodalität“ entspricht immer mehr dem Lebensgefühl der Menschen, speziell der jungen Großstädter. Das Prinzip „Teilen statt besitzen“ wird durch ein vielfältiges Multimodalitätskonzept hervorragend verwirklicht. Das eigene Fahrrad gehört ebenso dazu wie öffentliche Leihradsysteme, die Fahrradmitnahme im ÖPNV, gute und sichere Abstellanlagen an den Haltestellen und Car-Sharing.
Bei vielen jungen Leuten hat das Fahrrad heute einen höheren Status als das Auto. Neben den objektiven Bedingungen für den Radverkehr ist dieser Status des Fahrrades entscheidend für eine höhere Nutzung. Hierfür sind vor allem Vorbilder wichtig. Prominente, Arbeitgeber, Bürgermeister, Minister und unsere Bundeskanzlerin müssen sich auf den Sattel schwingen und öffentlich zeigen, dass sie Fahrrad fahren. Der Bund sollte hier die vielfältigen Lösungen nutzen, die das Fahrrad für gesellschaftliche Probleme bereithält. Würde das gelingen, könnte man zahlreiche Politikfelder positiv beeinflussen.
Radverkehrsförderung ist Wirtschaftsförderung
Es ist offensichtlich, dass die Energiewende nur gelingen kann, wenn es auch zu einer Verkehrswende kommt. Der Verkehrssektor ist nach der Industrie der zweitgrößte Primärenergieverbraucher in Deutschland. Durch eine Kombination des Fahrrads mit dem ÖPNV kann besonders der innerstädtische Autoverkehr deutlich reduziert werden. Rund 50 Prozent aller innerstädtischen Autofahrten sind kürzer als fünf Kilometer, wobei die Durchschnittsgeschwindigkeit des Autoverkehrs in deutschen Städten bei deutlich unter 20 Kilometern pro Stunde liegt. Dass ein erhöhter Radverkehrsanteil zudem das Klima und die Umwelt schützt, liegt auf der Hand und sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt.
Das Fahrrad stellt aber auch einen wichtigen wirtschaftlichen Faktor dar. Allein im Bereich des Radtourismus werden in Deutschland jährliche Umsätze von zurzeit rund zehn Milliarden Euro erzielt. Damit stellt der Radtourismus gerade in strukturschwachen ländlichen Gebieten einen nicht zu unterschätzenden wirtschaftlichen Faktor dar. Radverkehrsförderung ist Wirtschaftsförderung.
Umso bedauerlicher, dass die Bundesregierung Elektromobilität immer noch ausschließlich „A-u-t-o“ buchstabiert. Dabei hat sich die Gesellschaft bereits anders entschieden: Weit über einer Million (nicht geförderter) Fahrräder mit Elektroantrieb – so genannter Pedelecs – stehen gerade einmal rund 13 000 (stark geförderte) Elektroautos gegenüber. Eine reine Umrüstung der Autoflotte auf Elektroantrieb bietet kaum Lösungen für die innerstädtischen Probleme, nicht zuletzt aufgrund des knappen öffentlichen Raums. Im Bereich der Elektromobilität ist ein grundlegender Wandel der Politik der Bundesregierung notwendig. Das Fahrrad, muskelbetrieben oder als Pedelec, gehört zusammen mit dem ÖPNV in das Zentrum der Bemühungen hinsichtlich Elektromobilität.
Die Bundesregierung verschläft die Revolution
Nicht zuletzt beeinflusst das Fahrrad auch den Gesundheitszustand der Menschen. Schon heute erzeugt Bewegungsmangel Kosten für das Gesundheitssystem in Milliardenhöhe. Schon durch die tägliche Fahrt zur Arbeit würden viele Arbeitnehmer jene halbe Stunde Bewegung täglich abdecken, die die Weltgesundheitsorganisation fordert. Die immer geringere eigenständige Mobilität von Kindern führt bereits in jungen Jahren zu Bewegungsmangel. Folglich steigt die Zahl von Kindern mit Adipositas und Diabetes. Deshalb gehören Aktionen wie „Mit dem Rad zur Arbeit“ oder „Mit dem Rad zur Schule“ dringend in den Präventionskatalog unserer Krankenkassen.
Am Ende ist es aber auch mit Blick auf die zukünftige Radverkehrsinfrastruktur nicht anders als bei vielen politischen Projekten: Politische Aussagen manifestieren sich in Haushaltstiteln. Ohne eine entsprechende Finanzierung bleiben politische Bekenntnisse Sonntagsreden. Im laufenden Haushaltsjahr wurde der Radverkehrsetat zwar wieder auf 80 Millionen Euro aufgestockt, liegt damit aber immer noch um 20 Millionen Euro unter dem Haushaltsansatz von 2002. Die 80 Millionen Euro stehen für den Bau von Radwegen an Bundestraßen und zu einem kleinen Teil für nicht investive Maßnahmen zur Verfügung. Damit reichen sie nicht einmal aus, um die notwendige Instandhaltung der bestehenden Radwege an Bundesstraßen durchzuführen. Wenn der Bund seine Rolle als Vorbild und als Ideengeber ernstnehmen will, müssen die Mittel für den Radverkehr aufgestockt werden. Dabei sollten auch bauliche Modellmaßnahmen finanziert werden.
Fest steht: Die Bundesregierung ist beim Radverkehr in vielfältiger Weise gefordert. Die Bedeutung des Fahrrades geht deutlich über den eigentlichen Verkehrsbereich hinaus und kann dazu beitragen, auch andere gesamtgesellschaftliche Probleme zu lösen. Leider sind die Ministerien bisher nicht bereit oder in der Lage, das Lösungspotenzial des Fahrrades für ihre Aufgaben zu erkennen und entsprechend zu handeln. Wirtschaft, Umwelt, Gesundheit, Justiz, Bildung und Finanzen auf Bundesebene schlafen tief und fest. Der steigende Radverkehrsanteil am Gesamtverkehr, die sprunghaft ansteigende Zahl der Pedelecs und das positive Image zeigen: Das Fahrrad ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Jetzt wird es endlich Zeit, dass das Thema auch in der Mitte unserer Entscheidungsträger in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ankommt.