Rotgrün und die Enragierten

Nicht erst seit dem Gipfel von Genua ist offensichtlich: Im neuen Jahrhundert schwillt die Globalisierungskritik zur mächtigen sozialen Bewegung an. Wenn SPD und Grüne die Entwicklung weiter verschlafen, schaden sich selbst am meisten

Netzwerk, so heißt das neueste Zauberwort aller Parteien, die politische Online-Kommunikation ist das Mantra aller Parteireformer. Doch noch so ausgefeilte digitale Informationstechnologien und anspruchsvolle interaktive Kommunikationsplattformen retten keine Partei vor Überalterung und Mitgliederschwund, wenn das entsprechende Engagement von ein bis zwei Prozent wirklich politisch Interessierten nicht auf sie gerichtet wird und die Mitarbeit im wahrsten Sinne des Wortes virtuell bleibt. Sozialdemokraten und Grünen ist es in den Jahrzehnten der "partizipatorischen Revolution" stets gelungen, soziale Bewegungen zu politisieren, Ein-Punkt-Protest in volks- oder milieuparteiliche Bahnen zu lenken, also außerparlamentarischen Protest zu binden und gegebenenfalls zu zivilisieren. So erlebte die SPD 1969 bis 1976 ihren größten Sprung nach vorn, als ihr binnen acht Jahren mehr als eine halbe Million neue Mitglieder zuströmte und die Gesamtzahl auf über eine Million schnellte. Zum großen Teil war das eine Abschöpfung der Mobilisierung, die aus der APO am Ende doch noch in die mit Hassliebe verfolgte SPD führte oder ihr via Jungsozialisten und anderen Arbeitsgemeinschaften der Sozialdemokratie direkt zugute kam.

Seit Helmut Schmidt fehlt der SPD das Interesse an sozialen Bewegungen

Wie sektiererisch sich K-Gruppen, Sozialistisches Büro (SB) oder Spontis von den Altparteien abgesetzt und Sozialdemokraten als "Sozialfaschisten" auch bekämpft haben mögen: Was über 180.000 Linksradikale des "roten Jahrzehnts" nach 1967/68 mit der SPD verband, war immer noch ein Narzissmus der kleineren oder auch größeren Differenz, nicht das wechselseitige Desinteresse, das die SPD seit Helmut Schmidt von allen politischen Basisinitiativen trennte. Der Aufschwung der neuen sozialen Bewegungen kam deshalb mehrheitlich den Grünen zugute, die sich als Bewegungspartei direkter und ungenierter aus K-Gruppen, Spontiszene und SB rekrutierten. Zwischen 1981 und 1985 gewannen sie 40.000 Mitglieder, und Ende der achtziger Jahre verbuchten sie ein Fünftel der Wählerschaft unter 34 für sich.

Joschka Fischer redet über den Zorn der Jugend wie einst die alte Welt über ihn

Genau in dieser Alterskohorte liegen heute die stärksten Verluste der SPD, und nun besteht eine gewaltige Kluft gerade zwischen den Grünen und den Aktiven der heutigen außerparlamentarischen Bewegungen und der Nicht-Regierungs-Organisationen. Vor allem zwischen ihnen und den (fälschlich so bezeichneten) "Globalisierungsgegnern" herrscht weitgehend Funkstille. Die Generation der Willy-Wähler schaut dem bunten Treiben einigermaßen verständnislos zu. Und selbst der ehemalige Straßenkämpfer Joseph Fischer redet über Zorn und Aktionismus der Jugend von heute so wie weiland die alte Welt über ihn. Als kürzlich auf einer Sommeruniversität der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung über "Achtundsechziger" und "Neunundachziger" diskutiert werden sollte und rund hundert (mutmaßlich rot-grün wählende) Stipendiaten und Jungfunktionäre eher mäßiges Interesse am Thema zeigten, versuchte der Moderator, Diskussionsfreude zu erzeugen, indem er in den Raum fragte, wer bei Gruppen engagiert sei, die in Genua demonstriert hätten? Niemand meldete sich. Oder wer jemanden aus diesen Gruppen, die hier nicht einmal einen Namen trugen, kenne? Zwei, drei müde Hände hoben sich.


Die neue Internationale, die das Mehrfache an Mitgliedern und Aktivisten gegenüber der Studentenbewegung der Sechziger Jahre haben dürfte, sich vor der Anti-AKW- und Friedensbewegung der Achtziger nicht zu verstecken braucht und auch mehr Menschen in Bewegung versetzt hat als die Bürgergruppen der ehemaligen DDR - dieses Konglomerat ist der SPD wie den Grünen fremd und äußerlich geblieben. Man kann sich jovial an sie "ranschmeißen", gewinnt damit aber nicht einmal in einer Stadt wie Berlin, wo sich diese kritische Masse geradezu ballt und nun wohl eher der PDS zugute kommen dürfte.

Halbherzige Ausflüge in die Spaßkultur helfen nicht weiter

Das habe, zogen die Jungfunktionäre zur Begründung heran, mit der schwierigen Regierungsbeteiligung der früheren Oppositionsparteien zu tun. Diese erleichtert es gewiss nicht, einer kapitalismuskritischen Bewegung Ökosteuer und Klimaverhandlungen als Fortschritt zu verkaufen. Doch darf man annehmen, dass sich auch dann, wenn Helmut Kohl noch regieren würde, die "Enragierten" von heute weder der SPD noch den Grünen anschließen würden und für diese kaum eine Brücke zu attac oder anderen, eher unideologischen Vertretern der Globalisierungskritik zu schlagen wäre. Solche Kooperation liegt derzeit jedenfalls außerhalb der Reichweite jener "Vereine, Verbände, Gewerkschaften und Initiativen", mit denen Franz Müntefering seinen "10 Vorschlägen zur Parteireform" zufolge die "Vorfeldarbeit beleben" und die "Zielgruppenansprache modernisieren" will. Die Zielgruppe wird weder erreicht durch halbherzige Ausflüge in die Spaß- und Partykultur, in der sich politische Parteien erfahrungsgemäß lächerlich machen, noch durch forciert-hektische Computeralphabetisierung und Internet-Anschlüsse.


Ein Medium ist immer nur ein Medium, wie gerade die routinierte Nutzung neuer Kommunikationstechnologien durch die aktuellen Protestgruppen zeigt, die sich ihrer ohne jene Emphase und Euphorie bedienen, welche Neu- und Quereinsteigern an den Tag legen. Vernetzung signalisiert politisch Aktiven nicht per se "Angeschlossenheit" und "Modernität", solange sie der laufenden "Modernisierung" der Wissensgesellschaft skeptisch gegenüberstehen und auch nicht partout "drin" sein wollen, sondern sich als Ausgeschlossene betrachten und den "Überflüssigen" eine Stimme verleihen wollen. Darin mag eine gute Portion politische Romantik stecken, doch es muss allen politischen Parteien zu denken geben, die nach Anschlüssen an die New Economy gieren und die Akteure der Neuen Politik einfach links liegen lassen. Programmatisch kann man diesen kaum etwas vormachen; an Sachkunde und themenbezogener Mobilisierung sind die heutigen, in der Mehrzahl professionellen Nicht-Regierungsorganisationen und hochkompetenten Protestgruppen den Parteien weit voraus.

Die echte Netzwerkpartei, flexibel und offen - das wäre das ideale Medium

Ein Punkt, an dem ein kritischer Dialog ansetzen könnte, ist immerhin das innere Demokratiedefizit der außerparlamentarischen Kampagnen, die ihren umfassenden Vertretungsanspruch in moralischen Appellen reklamieren, aber selten der Nagelprobe einer innerorganisatorischen Abstimmung unterziehen, die Parteien - wenigstens der Satzung nach - auferlegt ist. Und für diesen Dialog wären echte Netzwerkparteien, flexibel nach innen und offen nach außen, mit flachen Hierarchien und themenbezogener Mobilisierung, das ideale Medium.


Ein Bild aus fernen Tagen: Da hängt der frühe Gysi als Plakat an den grauen Wänden Ost-Berlins, verschmitzt grinst der PDS-Politiker unter seiner Mütze hervor, während der Slogan verkündet: "Gegen ein Großdeutschland". Damals, im März 1990, kritisierte Gregor Gysi den deutsch-deutschen Einigungsprozess noch scharf. Zu schnell gehe das alles, zu forciert werde es umgesetzt. Heute dagegen behauptet der wendige Anwalt: "Die CDU war sicher die geeignetste Partei, um die staatliche Einheit herzustellen." Ach, Genosse Gregor, solch eine Behauptung aus deinem Mund?
Entwarnung. Dies ist kein neokonservatives Credo. Eher ein rhetorischer Gysi-Knallfrosch, um den Leser aufzuschrecken. Das relativierende "aber" folgt prompt - gleich im nächsten Augenblick des Gesprächs: "Aber sie (die CDU) ist kulturell und mental außerstande, die innere Einheit des Landes zu bewerkstelligen." Es fehle den Christdemokraten an Toleranz. "Die CDU kann einfach nicht akzeptieren, dass zur Einheit Bürger gehören, die aus dem Osten kommen und die die DDR nicht nur ablehnen. Wer sich ihrem Weltbild nicht unterordnet, ist in ihren Augen nicht vereinigungstauglich." Die Folge: "Daraus erwächst für SPD und PDS eine große Aufgabe." Nämlich in Deutschland ein versöhnliches Klima für den mentalen Mauerfall zwischen Ost und West zu schaffen.
Eine griffige Formel: Staatliche Einheit von Rechts, innere Einheit von Links. "Scheitern SPD und PDS jetzt daran, werden wir das mit der inneren Vereinigung noch mal um eine Generation verschieben müssen." So sprach der Politiker nicht nur im taz-Interview vom Juni, sondern auch in Talk-Shows, Hintergrundkreisen oder auf Veranstaltungen. Die Argumentation gehört zur festen Schrittfolge seiner Kandidatenkür, die bekannt ist für ihre kunstvollen Rhetorikpirouetten und luftigen Gedankensprünge. Nur eine weitere Showeinlage beim betörenden politischen Schleiertanz des Gregor G.?
Nein, diesmal ist etwas dran. Zwar hatte Gysi vor einem Jahr schon mit ähnlicher Argumentation die Nähe zur CDU gesucht, als er im Bundestag sagte: "Nur PDS und CDU können den Kalten Krieg zusammen beenden." Doch der Aufruf zum Links-Rechts-Bündnis verhallte erwartungsgemäß ungehört. Inzwischen ist Gysi sicherer in seiner Einschätzung. Er besinnt sich schlicht westdeutscher Vergangenheit: Wie hat sich die CDU bis 1989 verhalten, und welche Strategien verfolgte die SPD? Und siehe da - im Berliner Wahlkampf werden tatsächlich die Traditionsfäden wieder aufgenommen, die nach der Wende abgerissen schienen. Zumindest, wenn es um die Sozialdemokraten geht.

Im Lippenbekenntnis zur Einheit erweist sich der christdemokratische Charakter

Denn die Christdemokraten sind sich ohnehin treu geblieben. Im Lippenbekenntnis liegt ihr Charakter, wenn es um die deutsch-deutsche Frage geht. "Wir sind und bleiben eine Nation", rief Kanzler Helmut Kohl am 10. November 1989 wütend in die pfeifende und grölende Menge vor dem Schöneberger Rathaus, die in ihrer Sektlaune nun wirklich nichts von Pathos hören wollte. Hoch im Kurs stand bei ihr dagegen Walter Momper. Der meinte: Ein Wiedersehen wolle man feiern, keine Wiedervereinigung.
Ein Jahr später war alles anders. Was in der Novembernacht noch als Plattheit und anmaßende Floskel eines glücklosen Kanzlers abgetan werden konnte, trat ein. Eine Nation, ein Volk und ein politischer Feind, der alle Verantwortung trug: die SED-PDS. Die Floskeln und Phrasen, bis zuletzt von CDU/CSU-Mitgliedern gebetsmühlenartig vorgetragen, füllten sich seit 1989 plötzlich mit Leben. Statt "Wiedervereinigungslüge" - ein linkes Schlagwort der achtziger Jahre - jetzt also Wiedervereinigungsvision. Und die gab das schnelle Tempo vor: kein Dritter Weg, kein Zögern, keine Zaudern. Hauptsache: Machen.

Vor der Wiedervereinigung gruselt
es viele Linke noch heute

Das muss Gysi, dem ehemaligen SED-Mitglied, gefallen: Lippenbekenntnisse, die - einmal wach geküsst - zum Leben erweckt werden. Hatten doch gerade die Sozialisten vierzig Jahre lang versucht, die Leidenschaft des DDR-Bürgers durch Losungen wie "Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist" zu entflammen. Das ging schief. Ließ sich in der optimistischen Aufbauära der fünfziger und sechziger Jahre noch mancher FDJ-ler zwischen Warnemünde und Oberhof begeistern, war spätestens in den depressiven Achtzigern alles vorbei. Im Westen tobte die Spaßgesellschaft, im Osten gab es nur hohle Sprüche. Verloren standen die Agitationstafeln vor den VEB′s und Kombinaten.
Die CDU/CSU hatte mit Wiedervereinigungs-Beschwörungen gewiss mehr Erfolg als die SED mit der sozialistischen Losung. Trotzdem gruseln sich viele Linke bis heute. Pathetisch, oberflächlich, scheinheilig und nicht zeitgemäß sei so ein politisches Bekenntnis. Aber wie heißt es so schön: Hauptsache, die Formel stimmt. Wer will schon genau wissen, ob die Worte wirklich von Herzen kommen?
Doch für Hochmut gibt es keinen Grund. Ein ähnliches Bekenntnis machte die bundesrepublikanische Erfolgsgeschichte nach 1945 erst möglich. Einmal auf die Demokratie eingeschworen, konnten sich Täter und Mitläufer ungestört ihrem privaten Wirtschaftswunder zuwenden. Und begannen so nach und nach, das ungewohnte System zu akzeptieren und, anders als noch in der Weimarer Republik, zu schätzen. Ähnliches gilt für die "Blockflöten"-Parteien aus der DDR, von denen die CDU gleich zwei geschluckt hat. Einmal auf die Demokratie vereidigt - und schon ist fast alles vergessen, was vor 1989 lag.
Die CDU gesteht Menschen zu, dass sie sich verändern können. Sie müssen nur ein eindeutiges Signal setzen: gegen DDR-Nostalgie und PDS-Verständnis. Dieses Prinzip gilt auch im Berliner Wahlkampf. Für Frank Steffels neu gegründeten "Gesprächskreis Innere Einheit", mit dem der CDU-Spitzenkandidat den Ostteil der Stadt von seiner Dialogfähigkeit überzeugen will, genügt ein klares Wort als Eintrittskarte. Das erklärt, warum sich so unterschiedliche Charaktere wie der ehemalige Berliner SED-Chef Günther Schabowski mit der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley unter der Ägide des Reinickendorfer Steffel zusammenfinden. Der Schwur gegen die PDS verbindet die drei Wesensfremden. Ein politisches Konzept ist das nicht.

Formeln und Floskeln - Tupperware zur Aufbewahrung des rechten Glaubens?

Das hat seinen Preis - bis hin zur politischen Verformung. Verwundert reibt sich mancher die Augen, wenn wieder ein linker DDR-Bürgerrechtler vor den Toren der CDU steht. Doch nicht Ideen für Gegenwart und Zukunft reizen zum Eintritt ins andere Lager, sondern der verlässliche, fast ritualisierte Umgang mit der Vergangenheit. "SPD/PDS: Verrat an der Vergangenheit. Falsch für die Zukunft", steht auf dem ersten offiziellen Wahlkampfplakat der Berliner CDU. Für Bürgerrechtler wie Bärbel Bohley, Vera Lengsfeld oder Günter Nooke eine Befriedigung. Für andere eine ewiggestrige Diskussion - und ein erstarrtes Bekenntnis.
Was denn nun? Sind politische Formeln und Floskeln eine Art Tupperware, die eine Glaubenshaltung über Jahre und Jahrzehnte frisch hält und konserviert? Oder gleichen sie einem geschlossenen Gefäß, in dem nach und nach das Gedankengut eintrocknet, schlierig wird oder gar schimmelt? Es kommt auf die Erwartung an.

Stell dir vor, wir sind elf Jahre ein
Volk - und keiner hat sich verändert

"Im Unterschied zu vielen Sozialdemokraten und den meisten Grünen hat sich die Union seit ihrer Gründung als die Partei der Deutschen Einheit verstanden. Wir haben dieses Ziel unserer Verfassung nie aufgegeben", verkündete Helmut Kohl vor einem Jahr stolz im Berliner Tränenpalast. Damals, zum zehnten Jahrestag der deutschen Einheit, war ein Deutungskampf um 1989 ausgebrochen: Welche Partei darf sich die Wiedervereinigung auf die Fahnen schreiben? Doch indem Kohl, Merkel und andere versuchen, lückenlos nachzuweisen, wie die Partei kaum schwankend dem Zeitgeist der siebziger und achtziger Jahre trotzte, wird die Erinnerung steril. Denn eines ist sicher - so einfach ist es nie gewesen.
Für viele Deutsche war und ist die Einheit erst von Desinteresse und dann von Zögern, Zweifeln, Hoffnungen und Enttäuschungen begleitet. Eine ziemlich komplexe Erfahrung also. Die aber wird verdrängt. Weitgehend ungestört leben die beiden deutschen Teile aneinander vorbei. Nur 13 Prozent der Westdeutschen und 29 Prozent der Ostdeutschen werten - laut einer Umfrage der Münchner Forschungsgruppe Deutschland - die Wiedervereinigung als Ereignis größter Bedeutung für die heutige Bundesrepublik. 1989, war da was?
Das konservative Lippenbekenntnis "Pro Einheit, contra PDS" verhindert eine Auseinandersetzung. Denn eigentlich müsste die Wiedervereinigung ein Prozess sein. Und den kann man nur durchmachen, wenn man nicht am Anfang schon dort steht, wo man am Ende landet. Stell dir vor, wir sind elf Jahre ein Volk und keiner hat sich verändert.
Der CDU ist der schmerzhafte, anstrengende Ost-West-Dialog schlicht nicht möglich. Sie will von der PDS - wortwörtlich - nichts mehr hören. Aber es geht nicht mehr ohne die PDS. Sogar Marianne Birthler, Leiterin der Gauck-Behörde, muss einräumen, Gysis Truppe sei "die einzige Partei, die kulturell dem Osten verbunden ist." Also muss die SPD den bislang gemiedenen Raum "Ostdeutsche Relikte und Mentalitäten" betreten, in dem die PDS harrt und aus dem sie schon seit Jahren abgeholt werden will. Schließlich haben die Sozialdemokraten traditionell das Rüstzeug, um nicht gleich bei Worten wie Sozialismus, Vergesellschaftung oder gar Marx schreiend davonzulaufen. SPD und PDS könnten auf der politischen Ebene den "gruppendynamischen Prozess" zwischen Ost und West in Gang bringen, den der Historiker Christian Meier schon 1991 forderte.

Hinter den sieben Bergen guckten sich
die SPD-Genossen den Bruderstaat schön

Könnten. Denn noch wird gemauschelt. Am liebsten würde die Berliner SPD die PDS durch die Hintertür abholen. Einerseits stimmt Bürgermeister Klaus Wowereit tönend in den Chor der Entschuldigungsforderer zum Mauerbau ein, andererseits streckt er deutlich die Hand zum Mitregieren aus. Zu unklar ist man sich auch im Willy-Brandt-Haus: Knüpfen wir an Egon Bahrs These des Vergebens und Vergessens an oder berufen wir uns auf Schwante? Am 7. Oktober 1989 gründete sich im brandenburgischen Dorf Schwante übereilt die SDP. Ein Coup. Plötzlich hatte man verhindert, dass sich Reformkräfte aus der SED abspalten und flugs zur ostdeutschen SPD erklären. Der Zugang zur SPD blieb den SED-Genossen verwehrt - über den Einlass wachten die Bürgerrechtler. Dabei hatten in der Bonner Baracke viele Genossen mit dem Reformflügel der SED geliebäugelt. Sie fühlten sich überrumpelt.
Als dann die Einweckgläser mit den Geruchsproben von Oppositionellen auftauchten, sich Berge von Stasi-Akten auftürmten und der Zynismus der SED-Führung deutlich wurde, war der Schrecken groß. Davon hatte man am Rhein natürlich nichts gewusst. Verschanzt hinter den Sieben Bergen hatten sich die SPD-Genossen den sozialistischen Bruderstaat schön geguckt. Kinderhort und Antifaschismus, Bitterfelder Weg und Arbeitersolidarität. Jetzt aber stellte sich der klare Schnitt der ostdeutschen SPD als richtig heraus. Nie wieder mit der SED. Und eigentlich auch nicht mit der PDS.

"Eigentlich wäre ich lieber in der SPD",
sagt der Professor. Doch es kam anders

Pustekuchen. Seit 1994 wird toleriert und koaliert. Verständnisvoll reagieren SPD-Genossen auf die PDS-Entschuldigung, man habe "um großer Ideale willen Strukturen der Unterdrückung mitgetragen und Verfolgung Andersdenkender zugelassen". Mancher, der als westdeutscher Sozialdemokrat lange an den Reformkern der SED geglaubt hat, glaubt heute wieder an die Demokratiefähigkeit der PDS.
Und tatsächlich - die Nähe ist da. "Eigentlich wäre ich ja anfangs lieber in die SPD gegangen", erzählt zum Beispiel der Berliner Kulturwissenschaftler Horst Groschopp freimütig. Doch für die SED-Mitglieder hieß es nach der Wende: "Njet. Kein Zutritt." Also entschied er sich für die PDS. Über solche Fälle wie Groschopp freut sich Gysi noch heute diebisch - die "Elite Ost" wählt PDS.
Viele Bürgerrechtler finden solche Annäherungen despektierlich. Noch protestiert eine SPD-Politikerin wie Christine Bergmann gegen Rot-Rot und Bundestagspräsident Wolfgang Thierse nuschelt unerfreut in seinen Bart. Doch sie haben nichts dagegenzusetzen - außer Mahnungen zur Vergangenheit. Wo sind sie geblieben, die Stimmen von Schwante? Männer wie Markus Meckel, Martin Gutzeit, Thomas Krüger. Zu wenig haben es ostdeutsche SPD-Politiker nach 1990 geschafft, Partei und Wählerschaft in Ost und West wirklich zu prägen. Trotz drei amtierender Ministerpräsidenten und zwei Bundesministern.
Natürlich - es ginge in der Bundesrepublik auch weiterhin ohne die PDS. So hoch sind die Wahlergebnisse der SED-Nachfolgepartei nicht. Doch die Folge wäre - wie zuletzt in der Hauptstadt - eine erstarrte politische Landschaft. Eine Bekenntniswüste, in der sich deutsch-deutsche Vegetation müht. Soll die Wiedervereinigung eine andere Qualität bekommen, müssen die West- und Ostlinke endlich in einen Dialog treten. Wie beginnt die letzte Strophe des Liedes: "Kein schöner Land in dieser Zeit"? "Ihr Brüder wisst, was uns vereint."

zurück zur Ausgabe