Selbstkritik ist ein Anfang
Das Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts hatte der Liberale Ralf Dahrendorf schon in den frühen achtziger Jahren vorhergesagt, als in vielen Industrieländern der wohlfahrtsstaatliche Konsens zerbrach und marktradikale Parolen verfingen, die sich gegen die Umverteilungschancen des Steuerstaats für soziale Aufsteiger richteten. Dahrendorfs scharfe Zeitansage lautete: „Das sozialdemokratische Programm ist attraktiv. Nur eben: Es ist ein Thema von gestern. Das gilt nicht nur, weil ungewollte Entwicklungen den Annahmen dieses Themas den Boden entzogen haben. Es gilt vor allem, weil das Thema seine Möglichkeiten erschöpft hat.“
(Sozial-)Demokraten wie Tony Blair, Bill Clinton und Gerhard Schröder stellten dagegen vor allem ihre Wirtschaftskompetenz heraus („It’s the economy, stupid!“), setzten auf Deregulierung plus Flexibilisierung und bauten den Sozialstaat um. Dabei ging ihre traditionelle Klientel größtenteils von Bord und wandte sich links- und rechtspopulistischen Parteien zu, die seit jeher gegen Globalisierungs-Konkurrenz und Masseneinwanderung mobil machen. Diese Gruppen sammelten sich erst in der Linkspartei sowie im Lager der Nicht-Wähler und sympathisieren heute mit der AfD. Die Sozialdemokratie muss sich Gedanken machen, wie sie diese Erosion ihrer einstigen Wählerbasis aufhalten will.
Das Problem ist strukturell, nicht personell
An die Spitze der Gewissenserforschung hat sich Parteichef Sigmar Gabriel gestellt und nebenbei klar gemacht, dass es um ein strukturelles Problem geht, nicht um einzelne Personen oder die „K-Frage“. Sozialdemokratische Parteien sind andernorts bereits noch tiefer gesunken als die SPD in den vergangenen Jahren: Das Elend der französischen Sozialisten steht allen vor Augen, in Österreich, auch ein ehemals rotes Stammland, stehen die Zeichen auf Sturm. Genau wie die skandinavischen Sozialdemokraten muss sich die SPÖ mit einer aggressiven Konkurrenz von rechts auseinandersetzen. In Ostmitteleuropa sieht es ganz bitter aus, und auch wenn die italienischen Sozialdemokraten ein wenig besser da stehen, ändert das doch nichts am allgemeinen Abwärtstrend.
Auch wer kein Parteigänger ist, muss sich über diese Entwicklung Sorgen machen. In den siebziger Jahren hat die europäische Sozialdemokratie im Management der Weltwirtschaftskrise die neuen sozialen Bewegungen verloren, außerparlamentarische Ökopaxe gründeten grüne Parteien. In den neunziger Jahren ging im neoliberalen Zeitgeist ein Teil der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer an linkspopulistische Parteien verloren und das Dienstleistungsproletariat einfach nicht mehr zur Wahl. Der österreichische Fall belegt, dass sich seitdem eine dritte Spaltungslinie aufgetan hat: Autoritäre Nationalisten fühlen sich von den Sozialstaatsparteien verlassen und verraten. Solidarität, ein Eckpfeiler der sozialistischen Internationale, gilt bei ihnen nur für Landsleute. „Deutschland zuerst“ ist die Parole der AfD, während Donald Trump mit America first! den Abwehrkampf des weißen Mannes proklamiert.
Die gute Nachricht von der ersten „Wertekonferenz“ der SPD Anfang Mai war, dass die Partei sich damit problembewusst und selbstkritisch auseinandersetzt, die weniger gute lautet, dass sie kaum Antworten weiß außer den altbekannten: Bildungsgerechtigkeit, Rentensicherheit, höhere Kapitalertragssteuern. Die SPD hat sich im Gefängnis der Großen Koalition zu stark auf Reparaturen am Sozialstaat konzentriert, ohne dass es ihr gedankt wurde. Korrekturen des dysfunktional gewordenen Finanzkapitalismus müssten tiefer ansetzen, doch ob die Sozialdemokraten dazu den Willen und vor allem die Macht haben, ist zweifelhaft. Schon die Finanztransaktionssteuer wird durch die Finanzlobby verhindert, deren monströse Züge die Panama Papers allseits vorgeführt haben.
Es droht ein falsch adressierter Klassenkampf
Haben sich die Sozis darüber sichtbar empört? Nein, und so wabert ein ambivalentes Gefühl sozialer Ungerechtigkeit durchs Land, das in Entsolidarisierung mündet. Populisten führen eine Art falsch adressierten Klassenkampf: Sie suchen die Verantwortung nicht bei den Urhebern und Nutznießern sozialer Ungleichheit, sondern erklären Einwanderer, die Globalisierung per se und eine ganze Religion pauschal zu Sündenböcken – so wie es Antisemiten im 19. und 20. Jahrhundert mit den Juden gemacht haben. Judenhass, erklärte August Bebel seinerzeit, sei der Sozialismus der dummen Kerls. Will die SPD verhindern, das ihre Anhänger einem engstirnigen Nationalismus nachhängen, der hinter hohen Mauern Schutz vor allem Fremden sucht (ohne ihn zu finden), muss sie einen neuen Gesellschaftsvertrag aufsetzen, der Fremde einschließt und die Sorge für die natürliche Umwelt einbezieht.
Das geht über die herkömmliche Vorstellung von Generationengerechtigkeit hinaus. Die SPD versteht darunter Chancengleichheit für schlechter gestellte Kinder, die Gleichstellung von Frauen und die Verhinderung von Altersarmut – Themen, die in der Ellbogengesellschaft leicht vergessen werden. Aber darf die Wahrung sozialstaatlicher Besitzstände auf Kosten künftiger Generationen gehen? Dagegen muss die Sozialdemokratie sich europäisch und global verbünden und nationalstaatliche Sozialpolitik mit nachhaltiger Entwicklung verknüpfen. Vor allem die „Dekarbonisierung“, die im Dezember vergangenen Jahres in Paris vereinbarte stufenweise Reduzierung von Treibhausgasemissionen auf Null, ist mehr als technischer Umweltschutz und sozialökologische Modernisierung. Es ist eine große Transformation unserer Gewohnheiten – von der Produktion über den Konsum bis hin zur Mobilität und Raumplanung.
Die planetarischen Grenzen sind zurück
Zu oft haben alle Parteien des Industriezeitalters diese Perspektive nur als Verlust von Arbeitsplätzen und als Verzicht auf Annehmlichkeiten deklariert und damit die Chancen verschenkt, die eine derartige Umwälzung in sich birgt. „Gerecht“ (oder besser: solidarisch) ist, unseren Kindern und Kindeskindern eine Welt zu hinterlassen, die sie wenigstens nicht schlechter stellt, wozu namentlich eine Beschränkung der Erderwärmung auf höchstens zwei Grad gehört. Im Industrialismus wurden die planetarischen Grenzen verkannt, jetzt kommen sie gebieterisch zurück.
Gerecht ist auch, was Umweltexperten fordern, nämlich die Energieeinsparung zum wichtigen Kriterium beim Mietspiegel, bei Transferleistungen für das Wohnen sowie bei der Investitionsumlage auf die Mieten zu erheben. Solidarisch ist es natürlich auch, Arbeitnehmern in emissionsintensiven Branchen einen sanften Umstieg zu ermöglichen, was den Kohleausstieg aber nicht endlos verzögern darf. Interessanterweise sind die meisten Unternehmen zum grünen Kapitalismus bereit, sie warten bloß auf ein klares Signal aus der Politik. Noch ist die Sozialdemokratie viel zu stark auf die Großunternehmen (ebenso auf die Großstädte und Gewerkschaften) des fossil-industriellen Komplexes fixiert.
Nicht nur muss die Kohleverstromung bis 2025 aus dem Energiemix verschwinden, auch der Verbrennungsmotor kann nach 2030 im Individualverkehr nicht überleben. Das ist nicht zuletzt für die deutsche Industrie ein aufregendes Konversionsprogramm, dessen Kosten über die Jahre hinweg aufzubringen sind, und zwar nicht aus der Portokasse. Die von „John Doe“ publizierten Praktiken in der Finanzwelt belegen, dass ein geradezu absurder Überschuss an Liquidität besteht, während zugleich die Steuerflucht die öffentlichen Haushalte ausdörrt. Eine solidarische Finanzwirtschaft muss entsprechende Fonds bereitstellen, nicht zuletzt aus einer globalen Kohlenstoffsteuer. Eine weitere Einnahmequelle bieten die großen Vermögen, die derzeit ohne wesentliche Effekte für das Gemeinwohl und die künftigen Generationen insgesamt an Einzelne vererbt werden, wodurch nur neue Privilegien entstehen und die soziale Spaltung vertieft wird. Die Erbschaftssteuer muss deshalb eine spürbare Generationenkomponente erhalten. Wenn die SPD jetzt auf undeklarierte und unversteuerte Vermögen zugreifen will, ist das ein erster richtiger Schritt. Systematischere Lösungen müssen folgen.
Diese Umverteilungsvorschläge deuten schon an, wie stark die Themen Energie- und Verkehrswende mit Gerechtigkeitsaspekten verbunden sind und welche konkreten Solidaritätsleistungen in der „Einen Welt“ das nach sich zieht. Denn für die Energiewende dürfen nicht die kleinen Leute in Europa und die Armen in der restlichen Welt zur Kasse gebeten werden.
Globale Nachhaltigkeitspolitik und Kooperation
Damit käme eine zweite, starke Seite der deutschen Sozialdemokratie zur Geltung, die von Willy Brandt und Erhard Eppler bis hin zu Frank-Walter Steinmeier die deutsche Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit wesentlich geprägt hat. Denn globale Nachhaltigkeitspolitik, die anders als die autoritären Nationalisten von Wladimir Putin bis Donald Trump auf inter- und supranationale Kooperation setzt, ist ihrer Intention und Wirkung nach nichts anderes als zeitgemäße Friedenspolitik.
Das Klimaabkommen von Paris und die in New York beschlossenen Nachhaltigkeitsziele der 2030-Agenda der Vereinten Nationen sind Meilensteine, die man einmal mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 vergleichen wird. Derzeit stehen sie bei vielen Regierungen und der internationalen Politik nicht hoch im Kurs: Krieg, Terror, Staatszerfall, Gewalt und Flucht sowie das Auseinanderdriften der Europäischen Union scheinen die Nachhaltigkeitsziele zu verdrängen. Dabei werden sich alle diese Krisen noch verschärfen, wenn die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit bedroht oder gar zerstört sind. Dann kann es weder Frieden zwischen den Völkern noch gesellschaftlichen Fortschritt geben.
Eine Außen- und Entwicklungspolitik, die mit Blick auf die Zukunft geführt wird, dreht den Spieß um: Ambitionierter Klimaschutz und die Verwirklichung der Agenda 2030 stärken die Kooperation zwischen den Staaten. Gemeinsam mit der Energie- und Verkehrswende ist dies das unternehmerische Projekt unserer Zeit, das ganz nebenbei sinnvolle Arbeit und ein erfülltes Leben schafft. Ob die SPD es anpackt, dafür streitet und wirbt, bleibt abzuwarten, aber es wäre die wirkliche Alternative für Deutschland und Europa. «
Eine frühere Version dieses Textes erschien am 13. Mai 2016 im „Handelsblatt“.