Säge nicht am Ast, auf dem du sitzt
Vor 25 Jahren stand die deutsche Wirtschaftsunion kurz vor ihrem ersten Geburtstag. Von Aufbruchsstimmung aber war in den ostdeutschen Betrieben nur noch wenig zu spüren. Angst und Ungewissheit hingen in der Luft. Die einstigen DDR-Großbetriebe waren den neuen Wettbewerbsbedingungen nicht gewachsen. Innerhalb kürzester Zeit folgten Stilllegungen und Massenentlassungen. So auch im Land Brandenburg. Zwischenzeitlich war jeder zweite Brandenburger ohne reguläre Beschäftigung. Mutige Brandenburger Sozialdemokraten wie Manfred Stolpe und Regine Hildebrandt kämpften deshalb jahrelang Hand in Hand mit Betriebsräten und Gewerkschaften für den Erhalt industrieller Kerne.
Was keinesfalls selbstverständlich war, wurde schließlich wieder Realität: Nach schmerzhaften Einschnitten und wichtigen Weichenstellungen ist Brandenburg erneut ein starker Industrie-standort geworden. Für diesen Industriestandort haben steigende Energiekosten unmittelbare Auswirkungen. Denn in Brandenburg erwirtschaften die sechs energieintensivsten Branchen allein bereits einen Umsatz von rund 11,6 Milliarden Euro – fast halb so viel wie das gesamte verarbeitende Gewerbe. Die umsatzstärkste energieintensive Branche ist übrigens nicht die Metall- oder die Chemieindustrie. Es ist eine Branche, auf die wir gleichfalls alle jeden Tag angewiesen sind: die Ernährungswirtschaft.
Nicht nur beim Umsatz, sondern auch auf dem Arbeitsmarkt sind die „Energieintensiven“ ein Schwergewicht. So stehen in der Ernährungswirtschaft rund 12 000 Beschäftigte in allen Teilen des Landes in Lohn und Brot. Bei der BASF in Schwarzheide sind es rund 1 700 Frauen und Männer. Und bei PCK Schwedt, der viertgrößten Raffinerie in Deutschland, arbeiten rund 1 100 Menschen. Damit ist PCK einer der größten und wichtigsten Arbeitgeber im Osten.
Ob PCK, BASF, Arcelor Mittal in Eisenhüttenstadt, Riva Stahl in Brandenburg an der Havel oder vergleichbare Betriebe: die energieintensiven Unternehmen sind wirtschaftliche Anker ihrer Regionen. Sie zahlen anständig – nach Tarif – und bieten gute Arbeitsbedingungen. Dazu muss man wissen: In Brandenburg sind nur 24 Prozent aller Betriebe tarifgebunden.
Energieintensive Industrie vor dem Aus?
Vor diesem Hintergrund muss es uns tief beunruhigen, dass die Investitionen der „Energieintensiven“ deutschlandweit deutlich gesunken sind. Viele Unternehmen verzichten auf den Ausbau und die Modernisierung ihrer Produktionsanlagen. Im Ausland hingegen wurden teils umfangreiche Investitionen getätigt. Ich sehe daher die Gefahr, dass sich die energieintensive Industrie schrittweise aus Deutschland zurückzieht. Das Problem steigender Energiekosten spielt bei den rückläufigen Investitionen nicht die alleinige, aber eine zunehmend bedeutende Rolle, wie eine Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags aus dem Jahr 2015 belegt.
Die deutsche und auch die europäische Energie- und Klimapolitik verschärfen diesen Druck zusätzlich. Würden die Pläne der EU-Kommission zur Verschärfung des künftigen Emissionsrechtehandels verwirklicht, so wäre das Gift für den Industriestandort Deutschland. Vor allem für die Unternehmen der Grundstoffindustrie hätte die Reform verheerende Folgen – das heißt für Stahlunternehmen oder Zementbetriebe. Sie sichern rund 500 000 gut bezahlte Arbeitsplätze in Deutschland und sind der Grundstein für erfolgreiche Wertschöpfungsketten.
Erinnern wir uns: Von der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise haben sich diejenigen Länder am schnellsten erholt, die einen hohen Industrieanteil aufweisen. In Deutschland liegt der Industrieanteil heute bei rund 22 Prozent. Im EU-Durchschnitt beträgt er gerade einmal 15 Prozent. Wir haben also ein elementares Interesse daran, auch diese Branchen langfristig zu halten. Denn mit Finanzdienstleistungen und Internet-Startups alleine können wir keinen nachhaltigen Wohlstand für alle erwirtschaften.
Damit wir die industriellen Grundfesten unseres Wohlstands sichern können, brauchen wir vor allem stabile industrie- und energiepolitische Rahmenbedingungen, die Investitionen in Deutschland fördern und nicht erschweren. Dazu gehört auch eine verlässliche, faktenbasierte Perspektive für die heimische Braunkohle. Ein willkürlich politisch definierter „Tag X“ für den Braunkohleausstieg bietet aber gerade keine verlässliche Perspektive. Egal, welche Jahreszahl hinter diesem Tag steht. Einzig und allein der technologische Fortschritt darf unser Maßstab sein.
Perspektiven für die Lausitz
Mit anderen Worten: Erst wenn wir über ausreichend Netze und Speicher verfügen, um jederzeit eine preislich wettbewerbsfähige und stabile Energieversorgung zu sichern – erst dann können wir uns den Ausstieg aus der Braunkohle leisten. Aktuell sind wir davon noch weit entfernt. Der Netzausbau lahmt und die Speicherforschung steckt noch in den Kinderschuhen. Hierzu nur eine Zahl, die zeigt, wo wir wirklich stehen: Derzeit können wir ganze 11,3 Prozent unseres Primärenergieverbrauchs, also Wärme, Verkehr, Strom und so weiter aus den erneuerbaren Energien decken. Um ein Bild zu gebrauchen: Noch sind wir auf hoher See. Und daher sollten wir unser Schiff nicht selbst versenken, bevor wir den Hafen erreicht haben.
Gerade für die Lausitz hätte ein übereilter Ausstieg aus der Braunkohle verheerende Folgen. Wie auch Sabrina Schulz (Heft 6/2015) einräumt, müssen sich die Menschen in dieser Region auf „einen fairen Deal und eine Perspektive für die Zukunft“ verlassen können. Kritiker verweisen in diesem Zusammenhang gern auf den „längst überfälligen“ Strukturwandel. Dazu kann ich nur sagen: der Strukturwandel in der Lausitz ist nicht „längst überfällig“ – er findet längst statt! Nach der Wiedervereinigung hat die Region einen beispiellosen Aderlass erlebt. Die Zahl der Beschäftigten in den Kraftwerken und Tagebauen ist von knapp 80 000 auf rund 8 000 zusammengeschmolzen. Von den Folgen hat sich die Lausitz bis heute nicht vollständig erholt. Gleichwohl hat sich hier in den vergangenen 25 Jahren eine innovative, mittelständische Industrielandschaft entwickelt, die auch von der Nähe zur Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg profitiert. Hinzu kommt eine wachsende Tourismuswirtschaft rund um das Lausitzer Seenland.
Darum: Wer die Lausitz für gestrig hält, ist falsch gewickelt. Im Januar hat sich die Innovationsregion Lausitz gegründet, die alle wichtigen Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft unter einem Dach vereint. Unterstützt von der Landesregierung werden die in der Innovationsregion vereinten Kräfte dem Strukturwandel neue Impulse geben. Fest steht: Dieser Aufbruch würde durch einen abrupten Kohleausstieg zunichte gemacht.
Was uns die Energiewende kostet
Die „Sicherheitsbereitschaft“, die im neuen Strommarktgesetz des Bundes festgehalten ist, ist für die Region bereits ein sehr weitgehender Kompromiss. Das Kraftwerk Jänschwalde beteiligt sich daran mit insgesamt 1 000 Megawatt. Brandenburg leistet somit einen erheblichen Beitrag zur Minderung der Kohlendioxidemissionen in Deutschland. Diesen Kompromiss gilt es nun zu verwirklichen, statt willkürliche weitere Szenarien für den Kohleausstieg in die Welt zu setzen.
Ganz nebenbei: Auf die Stromerzeugung entfallen rund 15 bis 20 Prozent des Energieverbrauchs in Deutschland. Damit liegt die Stromwirtschaft deutlich hinter dem Verkehrssektor mit etwa 30 Prozent und dem Bereich Wärme inklusive Prozesswärme mit ungefähr 50 Prozent. Eine kluge Energiepolitik muss sich auch diesen Bereichen verstärkt widmen.
Neben mehr energiepolitischem Realismus brauchen wir eine ehrliche Diskussion darüber, was uns die Energiewende in ihrer derzeitigen Form kostet. 50Hertz, der Betreiber der großen Stromautobahnen in Ostdeutschland, musste im vergangenen Jahr 900 Millionen Euro in den Netzausbau investieren. Doch selbst diese gewaltigen Investitionen halten mit dem rasanten Ausbau der erneuerbaren Energien nicht Schritt.
Weitere 350 Millionen Euro musste allein 50Hertz im vergangenen Jahr aufwenden, um das Netz stabil zu halten. Deutschlandweit war rund eine Milliarde Euro dafür nötig! Denn die stark schwankende Einspeisung von Wind- und Solarstrom bedeutet permanenten Stress für unsere Netzinfrastruktur. Wenn uns draußen der Wind um die Ohren bläst, droht die Überlastung der Stromnetze. Um einen Kollaps zu verhindern, müssen ganze Windparks zwangsabgeschaltet werden.
Belastet wird der Bäcker um die Ecke
Derzeit verliert dabei vor allem eine Gruppe: die ostdeutschen Verbraucherinnen und Verbraucher. Sie müssen die Netzkosten indirekt über ihre Stromrechnung begleichen. Besonders betroffen sind die Brandenburger, die überproportional hohe Netzentgelte zahlen. Der Grund dafür ist der hohe Ausbaugrad der erneuerbaren Energien in Brandenburg. Diese zusätzlichen Kosten belasten den Bäcker um die Ecke und den Lackierbetrieb im Nachbarort genauso wie die junge Familie im Eigenheim oder die Rentnerin in der Plattenbausiedlung. Ändern kann das nur die Bundesregierung. Sie ist in der Pflicht, für eine faire Verteilung der energiewendebedingten Kosten zu sorgen. Dazu gehören ein einheitliches Netzentgelt auf der Ebene der Übertragungsnetze sowie die schnellstmögliche Streichung der so genannten vermiedenen Netzentgelte.
Nicht nur durch die grüne Brille gucken
Gerade für die Sozialdemokratie ist es eine grundsätzliche Aufgabe, Energiepolitik nicht nur durch die grüne Brille zu betrachten. Vielmehr muss Energiepolitik zugleich auch sozial- und industriepolitisch gedacht werden. Auch für die Energiepolitik gilt: Wir dürfen uns nicht von denen verabschieden, die uns am dringendsten brauchen. Natürlich haben wir auch einen klimapolitischen Auftrag. Das ist unbestritten. Wir haben eine Verantwortung gegenüber unserer Umwelt und nachfolgenden Generationen. Aus vielen Gesprächen weiß ich: Die meisten Unternehmerinnen und Unternehmer sind hoch motiviert und sehr bemüht, Energie und Ressourcen zu sparen – schon aus eigenem ökonomischem Interesse. Doch leider gibt es auch in der Sozialdemokratie und bei der CDU Stimmen, die in der Klimapolitik eine Art olympische Disziplin sehen. Frei nach dem Motto: „Immer höher, weiter, schneller!“ Aber Vorsicht: Wenn wir in nationalen Alleingängen bei den Klimazielen immer weiter draufsatteln, werden wir in erheblichem Maße industrielle Wertschöpfung und Arbeitsplätze verlieren.
Der Nutzen für das Weltklima wäre dabei allerdings winzig. Denn der deutsche Anteil am weltweiten Kohlendioxid-Aufkommen beträgt ganze zweieinhalb Prozent. Es ist angebracht, den Blick ein wenig zurechtzurücken und auf die wirklichen Probleme zu richten. Weltweit werden in den nächsten Jahren rund 2 500 neue Kohlekraftwerke geplant. Die allermeisten davon in Ländern, denen das Wohlergehen ihrer Arbeiter herzlich egal ist – vom Weltklima ganz zu schweigen. In Indien, einem der weltweit größten Kohlendioxid-Emittenten, werden Kinder zur Arbeit in Kohlegruben gezwungen. In Kolumbien werden Gewerkschafter ermordet, die für den Schutz der Kohlearbeiter eintreten. Und in russischen Bergwerken herrschen teilweise Arbeitsbedingungen wie vor 100 Jahren. Wollen wir wirklich, dass unsere energieintensiven Industrien in diese Länder abwandern?
„Abwandern“ ist nicht gleichzusetzen mit wichtigen und notwendigen Auslandsinvestitionen. „Abwandern“ bedeutet die energiekostenbedingte Verlagerungen von Produktion ins außereuropäische Ausland. Nicht wenige Unternehmen haben dort bereits einen Fuß in der Tür. Ich sage: Als Industrienation sollten wir nicht an dem Ast sägen, auf dem wir sitzen. Die Deindustrialisierung in Teilen Ostdeutschlands nach der Wende hat uns gelehrt: Was einmal weg ist, das kommt so schnell nicht wieder.