Schafft die Geheimwahl ab!
Zu den Konsequenzen des neuen Fünf-Parteien-Systems in der Bundesrepublik gehört nicht nur, dass Wahlen und die anschließende Koalitions- und Regierungsbildung ergebnisoffener und mithin spannender geworden sind. Auch die Bestellung der Regierungschefs in den Parlamenten, die als Nachvollzug der Regierungsbildung eigentlich eine Formsache sein sollte, birgt zunehmend Überraschungen. Dies kann soweit gehen, dass eine vereinbarte Koalition ganz scheitert wie im Falle der schleswig-holsteinischen Ministerpräsidentin Heide Simonis vor vier Jahren. Dieser Fall bleibt allerdings die Ausnahme. In der Regel begnügen sich die „Abweichler“ (dieser aus dem Sprachgebrauch totalitärer Systeme stammende Begriff sollte in einer Demokratie verbannt werden) damit, ihrem Kandidaten einen Denkzettel zu verpassen, indem sie ihm oder ihr die sicher geglaubte Zustimmung verweigern. So fehlten Angela Merkel bei der Wiederwahl zur Kanzlerin mindestens neun Stimmen aus dem eigenen Lager, die ihre Mehrheit im ersten Wahlgang freilich nicht gefährdeten. Christine Lieberknecht konnte demgegenüber erst im dritten Wahlgang zur thüringischen Ministerpräsidentin gekürt werden, in dem laut Verfassung die relative Mehrheit reicht. Diese Mehrheit war auch durch die Gegenkandidatur Bodo Ramelows (Linkspartei) nicht gefährdet. Ramelow hätte nur gewählt werden können, wenn die SPD-Fraktion annähernd geschlossen von der Kandidatin der gemeinsam verabredeten Regierung abgerückt wäre. Die Gegenkandidatur führte zudem dazu, dass Lieberknecht auch aus den Reihen der oppositionellen FDP Stimmen erhielt.
Nach der verpatzten Wahl beschuldigten sich Union und SPD erwartungsgemäß gegenseitig, der Kandidatin die Stimmen versagt zu haben. Auch nach Angela Merkels Wahl zur Kanzlerin begann das öffentliche Rätselraten, wer die Abtrünnigen gewesen sein und welche Motive sie zu ihrem Handeln veranlasst haben könnten. Über den eigentlichen Urheber des abweichenden Verhaltens hat man in dieser Debatte bezeichnenderweise erneut kein Wort verloren: Es ist der Modus der geheimen Abstimmung. Die Wahl „mit verdeckten Stimmzetteln“, wie es in den meisten parlamentarischen Geschäftsordnungen heißt, wird bei der Bestellung des Bundeskanzlers und der Länderregierungschefs in der Bundesrepublik als so selbstverständlich betrachtet, dass kaum jemand daran Anstoß nimmt. In Wirklichkeit bedeutet sie jedoch einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Prinzipien der Demokratie.
Das Transparenzgebot muss durchweg gelten
Als Argument für die geheime Wahl wird in der Regel das in Artikel 38 des Grundgesetzes geschützte freie Mandat ins Feld geführt. Um den Abgeordneten vor den Pressionen zu bewahren, die er bei einem Abweichen von der Fraktionslinie unweigerlich zu gewärtigen hätte, soll er dem Zwang enthoben werden, sich bekennen zu müssen und mit offenem Visier zu kämpfen. Zu Ende gedacht würde das bedeuten, dass auch bei Gesetzesbeschlüssen, die ja fraktionsintern ebenfalls umstritten sein können, stets geheim abgestimmt werden müsste. Dies würde dem Transparenzgebot politischer Entscheidungen widersprechen, das dem demokratischen Prinzip inhärent ist. Entsprechend verlangt die Geschäftsordnung des Bundestages die offene Abstimmung über die Gesetze, die auf Antrag einer Minderheit sogar namentlich erfolgen muss.
Wenn grundlegende Parlamentsentscheidungen dem Transparenzgebot unterliegen, so ist nicht einzusehen, warum davon ausgerechnet die Entscheidung über die Bildung und den Bestand einer Regierung ausgenommen sein soll. Bei dieser handelt es sich ja um eine politische Richtungsentscheidung schlechthin. Gerade hier haben die Wähler einen Anspruch zu erfahren, wie sich „ihr“ Abgeordneter bei der Abstimmung verhält. Denn in einem parlamentarischen Regierungssystem beruht die Demokratie nicht nur auf dem Prinzip der freien Zustimmung der Abgeordneten, sondern auch darauf, dass diese Abgeordneten als Vertreter einer Partei gewählt werden. Fühlen sie sich dem Wählervotum verpflichtet, können sie sich von den Positionen ihrer Partei deshalb – trotz freien Mandates – nicht nach Belieben entfernen. Nach Belieben heißt, dass sie es tun könnten (vielleicht sogar tun sollten), sofern dafür gute Gründe vorliegen. Das wäre zum Beispiel der Fall, wenn sich die Partei nach den Wahlen selbst von Positionen entfernt, die sie gegenüber den Wählern zuvor vertreten hat (wie im Jahr 2008 in Hessen). Gute Gründe liegen gewiss nicht vor, wenn die Abgeordneten nur aus persönlichen Motiven mit Nein stimmen (weil sie sich zum Beispiel bei der Zusammenstellung des Kabinetts übergangen fühlen). Dies zu erkennen und gegebenenfalls zu sanktionieren setzt aber die Offenlegung der Gründe voraus. Demokratie heißt also, dass die Parlamentarier für ihr „abweichendes“ Verhalten vor dem Wähler einstehen müssen. Die geheime Regierungswahl ist damit nicht vereinbar.
Es zeugt von wenig Mut, wenn Abgeordnete, die einem Koalitionsvertrag auf Parteitagen in offener Abstimmung ihr Plazet geben, unter dem schützenden Deckmantel der Geheimwahl im Parlament genau das Gegenteil tun. Vielleicht mag es tröstlich sein, dass die Politiker sich in ihren diesbezüglichen Charaktereigenschaften von den Normalbürgern nicht sonderlich unterscheiden. Dies heißt aber keineswegs, dass ein solches Verhalten durch die Verfahrensregeln noch ermuntert werden sollte. Statt billige Medienschelte zu üben und eine Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre zu fordern (was in der Konsequenz auf ein Weniger an Demokratie hinausläuft), täte Bundestagspräsident Norbert Lammert gut daran, sich endlich einmal für die Abschaffung der überkommenen Geheimwahl einzusetzen. Diese vermag zwar die deutsche Demokratie um ein zusätzliches Spannungsmoment zu bereichern, hat aber mit demokratischen Grundsätzen wenig zu tun.