Schluss mit dem Defizitdenken
Seit Jahren steht die Reform des Gesundheitssystems ganz oben auf der politischen Agenda. Wirkliche Strukturreformen konnten bislang trotz mehrerer Anläufe nicht umgesetzt werden. Im Bundestagswahlkampf wurde das reformbedürftige Gesundheitswesen wieder zum zentralen Thema – neben den Dauerbrennern Steuer- und Arbeitsmarktpolitik. Der Streit um die Frage „Bürgerversicherung oder Kopfpauschale“ artete streckenweise in eine Art Glaubenskrieg aus.
Jetzt finden sich die Krieger aus Wahlkampfzeiten gemeinsam in einer Koalition wieder. Kommentatoren und Experten rätseln bereits über mögliche Mischmodelle, diskutieren „Bürgerpauschalen“ und andere Wortungetüme. Manch einer befürchtet, dass vom Reformeifer des Wahlkampfes letztlich nur kurzfristige Maßnahmen zur Stabilisierung der Beiträge übrig bleiben. Die inhaltlichen Unterschiede der beiden Großen scheinen nach einem zugespitzten Wahlkampf unüberbrückbar. Dennoch: Grundlegende Reformen sind nötig und möglich. Auch in einer Großen Koalition.
Wir wissen schon lange, woran unser Gesundheitssystem krankt. Der demografische Wandel stellt das System vor große Herausforderungen. Die Menschen leben länger, und mit steigendem Alter wächst das Krankheitsrisiko. Gleichzeitig wird der Anteil älterer Menschen in der Gesellschaft immer größer: Im Jahr 2030 werden bereits 34 Prozent der Gesamtbevölkerung das sechzigste Lebensjahr überschritten haben. Hinzu kommt der medizinische Fortschritt: Neue, komplexe und somit kostenintensive Behandlungsmethoden werden entwickelt, immer mehr neue und immer teurere Medikamente kommen auf den Markt. Gleichzeitig schwinden die Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung. Konjunkturschwäche, hohe Arbeitslosigkeit sowie der zurückgehende Anteil von Löhnen und Gehältern am gesamten Einkommensspektrum führen zu sinkenden Einnahmen und steigenden Beiträgen. Das belastet den Faktor Arbeit zusätzlich. Die Gesundheitsreform des Jahres 2003, von einer „Großen Gesundheitskoalition“ beschlossen, kann zwar erste Erfolge verbuchen. Doch das beschriebene Grundproblem bleibt ungelöst.
Und immer wieder Finanzierungsfragen
Auch bei den Wahlkampfdebatten über die beiden Modelle Bürgerversicherung und Kopfpauschale standen die Fragen der Finanzierung und der Beitragshöhe im Vordergrund. Die Verbreiterung der Finanzierungsgrundlage, wie sie die Bürgerversicherung vorsieht, wäre ein wichtiger erster Schritt. Mit der Einbeziehung aller Einkommensarten würde der Problematik des rückläufigen Anteils von Löhnen und Gehältern am gesamten Einkommensspektrum begegnet und die Finanzierung des Gesundheitssystems auf eine stabilere Basis gestellt. Die Mehreinnahmen gäben Spielraum zur Senkung der Krankenkassenbeiträge, der Faktor Arbeit würde entlastet. Zudem wären die Einnahmen der Krankenkassen unabhängiger von kurzfristigen Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt.
Auch dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit wird durch die Einbeziehung aller Einkommensarten besser Rechnung getragen. Bislang zahlt ein gesetzlich Versicherter, der ausschließlich über ein monatliches Gehalt verfügt, vergleichsweise mehr in die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) als ein GKV-Mitglied, dessen monatliches Einkommen sich aus Gehalt und Zinseinnahmen zusammensetzt. Selbst wenn beide über das gleiche Einkommen verfügen, wird der Letztgenannte aufgrund der nicht berücksichtigten Zinseinnahmen weniger belastet. Diese Ungleichbehandlung wäre mit der Einbeziehung aller Einkommensarten beseitigt.
Bislang kurieren wir bloß an Symptomen
Die Finanzierungsgrundlage muss also dringend verbreitert werden. Die Chancen dafür stehen nicht so schlecht, wie manch einer glauben mag. Teile der Union – vor allem die Christsozialen – haben sich längst von der Kopfpauschale verabschiedet. Das Wahlergebnis hat die Einsicht wachsen lassen, dass radikale und zudem unausgegorene Systemwechsel wie eine Kopfpauschale oder eine Flat Tax in diesem Land nicht mehrheitsfähig sind. Das macht Hoffnung auf einen tragfähigen Kompromiss.
Doch mit der Stabilisierung der Einnahmeseite allein ist noch nichts gewonnen. Bislang war unser Hauptproblem, dass wir häufig nur an einem Symptom kurierten: dem Beitragssatz. Doch was nützen uns stabile Einnahmen und Beitragssätze, wenn das Geld in ineffiziente Strukturen fließt? Nicht viel. Deshalb brauchen wir eine umfassende, wettbewerbliche Strukturreform für eine erfolgreiche und nachhaltige Neugestaltung des Gesundheitssystems. Also: Ran an die Strukturen! Das erfordert vor allem fünf Schritte:
Zunächst einmal müssen erstens gleiche Bedingungen für gesetzliche wie für private Krankenversicherer geschaffen werden. Also: Versicherungspflicht für alle. Jeder muss sich versichern und jede Versicherung – privat wie gesetzlich – muss jeden ohne Risikoprüfung aufnehmen. Zwischen den Krankenkassen – auch den privaten Versicherern – muss mehr Wettbewerb ermöglicht werden. Der Risikostrukturausgleich soll in einen echten Ausgleich zwischen allen Kassen umgewandelt werden.
Damit die Krankenkassen sich dem Wettbewerb stellen können, muss zweitens die Kassenlandschaft neu geordnet werden. Dazu müssen auch Fusionen zwischen verschiedenartigen Kassen möglich sein. Nur Krankenkassen einer gewissen Größe können die an sie gestellten Anforderungen hinsichtlich Qualität und Wettbewerb ausfüllen.
Mehr Wettbewerb für alle Akteure ist nur möglich, wenn drittens auch neue Vertragsformen zwischen Krankenkassen und Ärzten geschaffen werden. In Zukunft müssen Einzelverträge zwischen Ärzten und Kassen auch außerhalb der Kassenärztlichen Vereinigungen erlaubt sein.
Offene Vertragsstrukturen müssen viertens künftig auch zwischen Krankenkassen und Arzneimittelherstellern geschaffen werden. Die momentane Überregulierung des Arzneimittelmarktes macht das System intransparent und ineffizient. Die Preisspannenverordnung muss abgeschafft werden, um auch in diesem Bereich mehr Wettbewerb zu ermöglichen. Komplizierte und undurchsichtige Zulassungsverfahren müssen vereinfacht und beschleunigt werden. Verfahrensabläufe bei Zulassungsanträgen müssen bei gleichzeitiger Gewährung der Arzneimittelsicherheit verbessert werden.
In Wirklichkeit geht es um Innovation
Fünftens müssen die Patientenrechte gestärkt werden. Bereits heute gibt es zahlreiche Einzelgesetze zum Patientenschutz. Das Ziel muss sein, diese Vielzahl von Regelungen zu ordnen und in einem großen, übersichtlichen Gesetz zum Schutz der Patientenrechte zu bündeln. Dazu gehört auch das Recht zu einem würdigen und selbst bestimmten Lebensende. Deshalb muss die Patientenverfügung eine gesetzliche Basis bekommen.
Neben allen notwendigen Strukturreformen, wie sie hier skizziert wurden, müssen wir künftig den Fokus stärker auf die enormen Innovations-, Wachstums- und Beschäftigungspotenziale des Gesundheitsmarktes richten, statt uns nur auf Kosten und Einsparmöglichkeiten zu konzentrieren. Es ist irrsinnig, wenn wir uns über mangelndes Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit beklagen, gleichzeitig aber einen viel versprechenden Wachstumsbereich vernachlässigen oder ihn gar in seiner Entwicklung hemmen. Natürlich ist in Zeiten leerer Kassen Sparsamkeit geboten, doch falsch eingesetzte Programme zur Kostendämpfung können Wachstumsbremsen werden und uns die Chancen auf einem zentralen Markt der Zukunft verbauen.
Wir brauchen ein innovationsfähiges Gesundheitssystem. Hierzu müssen wir neue Technologien und Behandlungsansätze fördern. Das kostet erst einmal Geld, kann aber am Ende dazu führen, dass Prozesse effizienter und damit preiswerter werden. Dies wird am Beispiel der elektronischen Gesundheitskarte deutlich. Sie verbessert die Kommunikation aller Beteiligten an der Gesundheitsversorgung. Doppeluntersuchungen und Fehlbehandlungen können so vermieden werden, und im administrativen Bereich wird es zu Kosteneinsparungen kommen.
Die Gesundheit als Wachstumsbranche
Die Biotechnologie, eine der Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts, muss ein Schwerpunkt der Forschungsförderung im Gesundheitsbereich bleiben. Schon heute beruht ein Großteil aller pharmazeutischen Innovationen auf Erkenntnissen aus der Biotechnologie. Damit Deutschland auch weiterhin eine führende Stellung in diesem Bereich einnimmt, müssen wir auf eine bessere Verzahnung zwischen Grundlagenforschung und anwendungsorientierter Forschung setzen und zugleich kleine und mittelständische Biotechnologie-Unternehmen stärker fördern. Die Gesetzgebung zur Anwendung der Biomedizin muss innovationsfreundlich gestaltet sein, ohne die Risiken der neuen Technologien zu vernachlässigen. Um die vielfältigen Zukunftschancen der Wachstumsbranche Gesundheit nutzen zu können, brauchen wir insgesamt eine stärkere Verzahnung von Forschungs-, Gesundheits- und Wirtschaftspolitik.
Legt die großen Schlagworte beiseite!
Um unser Gesundheitssystem wieder fit für die Zukunft zu machen, müssen also drei zentrale Maßnahmen ergriffen werden: Die Finanzen der Krankenversicherungen müssen auf eine solide Grundlage gestellt, Strukturreformen angepackt und Innovationen im Gesundheitsbereich gefördert werden. Die Große Koalition muss diese Reformen anpacken. Sie muss die Kraft aufbringen, sich über die Partikularinteressen der zahlreichen Akteure im Gesundheitswesen hinwegzusetzen. Das ist möglich, wenn beide Seiten für die kommenden vier Jahre die großen Schlagworte wie Bürgerversicherung und Gesundheitsprämie erst einmal beiseite legen. Denn keiner der beiden Großen wird bereit sein, das Modell des anderen komplett mit zu tragen. Die hier genannten Maßnahmen müssen nicht zwangsläufig dem einen oder anderen Modell zugeordnet werden.
Das bedeutet nicht, dass wir das Projekt der Bürgerversicherung aufgegeben sollten – im Gegenteil. Die Große Koalition ist auf maximal vier Jahre ausgerichtet – genug Zeit, um unser Konzept der Bürgerversicherung weiterzuentwickeln und an die dann hoffentlich erfolgten Reformschritte anzupassen. Gelingt uns dies, dann besteht die reelle Chance, dass der Wähler uns spätestens im Jahr 2009 den Auftrag gibt, unser Modell als Ganzes zu verwirklichen.