Schröders Deutschland
Im nationalen Interesse, so lautete ein seltsamer Slogan im 1983er Bundestagswahlkampf. Er warb für eine Partei, die nationaler, deutsch-interessierter Töne ganz und gar unverdächtig ist: die SPD. Damals wurde - nach dem parlamentarischen Regierungswechsel von Schmidt zu Kohl - ein Raketenwahlkampf geführt. Pro und Contra Nato-Nachrüstung. Im nationalen Interesse, das sollte heißen: Atomwaffen, die von Westdeutschland auf Ostdeutschland gerichtet sind, finden wir problematisch; wir wollen wenigstens im Kleinen den deutsch-deutschen Entspannungsprozess fortsetzen. Und: Was für Amerika und die Nato richtig scheint, muss nicht gut sein für Deutschland; wir haben eigene, eben: nationale Interessen. Die SPD, Vorsitzender: Willy Brandt, Kanzlerkandidat: Hans-Jochen Vogel, verlor die Wahl und blieb in der Opposition.
Frühjahr 1999, Abendessen im Kanzlerbungalow, Gerhard Schröder erklärt jungen Abgeordneten der SPD-Fraktion seine neue Welt. Alles innenpolitisch Instrumentalisierbare aus diesem Gespräch steht zwei Tage später in den Zeitungen, darf und soll es wohl auch. Unbeachtet bleibt Schröders außenpolitische Grundsatzerklärung. Auswärtiges ist in der SPD die Sache Weniger, und es gibt kein geeignetes innenpolitisches Konfliktschema, in das neue Sachverhalte sich einfügen ließen.
Dabei hat die Weltpolitik sich grundstürzendverändert, seit 1989/90 die realsozialistische Hemisphäre zusammenbrach. Kein Ost-West-Systemkonflikt, kein Wettrüsten, kein Gleichgewicht des Schreckens, keine robuste Balance zweier Supermächte und ihrer Satelliten, keine Sowjetunion, keine DDR mehr.
Das geltende sozialdemokratische Grundsatzprogramm gibt wenig zu dieser neuen Lage her, es wurde im Dezember 1989 quasi als Schlussdokument der alten Bundesrepublik in Berlin (West) beschlossen. Die USA sind mittlerweile die einzige Supermacht. UNO, Nato, EU, OSZE gewinnen operativ an Gewicht. Und die Nationalstaaten? Wo steht Deutschland heute?
Deutschland ist mit Abstand das größte und ökonomisch stärkste Land der EU. Schröder sagt, es gelte auch als das "europäischste" EU-Land: Die Franzosen vertreten französische Interessen, die Briten britische, von Deutschland aber seien gerade die kleineren Mitgliedstaaten gewohnt, dass es ihre Interessen mitberücksichtige.
In der Nato ist Deutschland hinter den USA der zweitgrößte Partner, der größte Allianz-Vertreter in Europa. Großbritannien lehnt sich traditionell militärpolitisch eng an Amerika an, Frankreich geht seinen Sonderweg, wie auch bisher Deutschland. Nach der Wiedererlangung der staatlichen Einheit und der vollen Souveränität müsste eine deutsche Sonderrolle in der Nato aber neu begründet werden - mit nationalen deutschen Sonderinteressen. Oder Deutschland wird ein normales Nato-Mitglied, mit allen Rechten, Lasten und Pflichten. Die Schröder-Regierung hat die zweite Option gewählt.
Damit fällt Deutschland in Europa aber eine Führungsrolle für das Bündnis zu. Die kleineren Nato-Staaten, auch und gerade die neuen osteuropäischen, fragen, bevor sie selbst entscheiden: Was wird Deutschland tun? Dem Kanzler scheint diese Position zu gefallen. Deutschland wäre dann nicht nur wie zu Helmut Schmidts Zeiten "ehrlicher Makler" (zwischen den Supermächten), sondern eher wie zu Bismarcks besseren Zeiten Macht und Makler zugleich. An der für jede demokratische deutsche Regierung konstitutiven Freundschaft mit den USA lässt Schröder keinen Zweifel. Und es bleibt bei den besonderen Beziehungen zu Russland.
Deutschland will keine Weltmacht sein, auch nicht auf dem Umweg über die Nato. Deshalb hat die Nato anlässlich ihres 50. Geburtstages eindeutig Europa als ihren Zuständigkeitsbereich festgeschrieben. Kosovo ja, Ruanda nein.
Außerhalb des hochorganisierten europäischen Nato/EU/WEU/OSZE-Friedensraumes bleibt nur die Wahl zwischen einer sich selbst mandatierenden Weltsuperordnungsmacht USA und der noch schwachen UNO mit ihren Blauhelmmöglichkeiten. Daran kann Deutschland sich gegenwärtig nur symbolisch, mit schwachen Kräften wie in Kambodscha, Somalia oder Ost-Timor beteiligen. Für ein effektives europäisches Sicherheitssystem plant nun die EU mit der WEU den Aufbau eigener militärischer Kapazitäten, eine 60.000 Mann starke europäische Eingreiftruppe. Den Koordinator einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, Mr. GASP, gibt es schon: den ehemaligen Mr. Nato, Javier Solana.
International ist nichts geblieben, wie es 1989 war. Aus der bipolaren Weltordnung ist je nach Standpunkt eine unipolare, von den USA dominierte, oder eine multipolare (Un-)ordnung mit unterschiedlich starken Einflüssen regionaler Mächte geworden. Dabei verwandelte Deutschland sich von einem Objekt der Weltpolitik in einen wichtigen souveränen Akteur der internationalen Beziehungen.
Schröder, der sich im Gegensatz zu Helmut Kohl als Kanzler eigentlich vor allem um die Innenpolitik kümmern wollte, hat gleich am Beginn seiner Amtszeit das volle Programm der internationalen deutschen Verpflichtungen zu erfüllen gehabt: EU-Präsidentschaft, Nato-Verhandlungen über Krieg und Frieden, Gastgeber des G7/G8-Gipfels (er schlägt vor, diesen exklusiven Weltweisenrat mit China zu einer G9-Runde zu erweitern). Dass der Kanzler ausgerechnet bei seiner Einweihungsrede für den umgebauten "Plenarbereich Reichstagsgebäude" den deutschen Nato-Einsatz im Kosovo-Konflikt als "Gründungsakt" bezeichnete, mag ein Lapsus gewesen sein. Aber er hat recht, wenn er im Spiegel-Gespräch sagt: "Über eines habe ich mich immer gewundert: wie wenig wahrgenommen worden ist, dass die Entscheidung zum Krieg eine fundamentale Veränderung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik bedeutet."
Kernsätze
Außenpolitische Positionen des Bundeskanzlers
Für die modernen Industrienationen gibt es keine "rechte" oder "linke" Außenpolitik.
In den demokratischen Gesellschaften der Nachkriegszeit sind die großen außenpolitischen Weichenstellungen zumeist im Konsens erfolgt.
Die beherrsche Denkfigur in der Außenpolitik ist (...) die der "Kontinuität".
Das Bekenntnis zur deutschen Geschichte und der daraus erwachsenen Verantwortung, die Unverbrüchlichkeit der europäisch/atlantischen Integration, die geographische Lage in der Mitte Europas, der Werteauftrag unseres Grundgesetzes wie auch die Exportorientierung der deutschen Wirtschaft stecken den Rahmen eindeutig ab, in dem deutsche Interessen artikulierbar sind.
Deutschland hat seinen Sonderstatus als geteiltes Land überwinden können und ist wieder ein vollständig souveräner Staat.
Deutschland ist nicht etwa eine "Mittelmacht" in Europa geworden. Vielmehr war der Prozess der endgültigen Staatswerdung von Beginn an eng verzahnt mit der Vertiefung und Erweiterung der europäischen Integration. Deutschland macht heute Außenpolitik in Europa, für Europa und von Europa aus.
Freiheit und Weltoffenheit, Demokratie und Menschenrechte, internationale Solidarität und gerechter Ausgleich zwischen den Völkern, Stabilität und Prosperität, Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit sind die bleibenden Werte und Ziele europäischer Außenpolitik.
Jede Außenpolitik ist zunächst einmal Interessenpolitik.
Eine moderne, solidarische Außenpolitik sollte (...) eine Politik des "aufgeklärten Eigeninteresses" sein.
So ist Deutschland gut beraten, sich selbst als eine große Macht in Europa zu sehen - wie es unsere Nachbarn längst tun - und seine Außenpolitik entsprechend auszurichten, um sie im Rahmen der europäisch-atlantischen Strukturen zu verfolgen.
Eine mittelbare, immer von der Rücksicht auf Nachbarn und Partner beschränkte Vertretung eigener Interessen hat die Bundesrepublik, besser vielleicht als die meisten anderen Länder gelernt.
Gerade weil Deutschland im Dialog mit Russland und seinen osteuropäischen Nachbarn geübt und anerkannt ist, gerade weil wir großmächtiges Auftreten zu überwinden gelernt haben, konnte das politisch-diplomatische Konzept - ohne das jede Militäraktion zum Scheitern verurteilt gewesen wäre - unter maßgeblicher deutscher Beteiligung umgesetzt werden: die Einbindung Russlands sowie die Eröffnung einer europäischen Perspektive für den Balkan durch den Stabilitätspakt.
Die Verantwortung, die Europa zur Eindämmung des Mordens im Kosovo übernommen hat, ist (...) tatsächlich ein Gründungsakt für ein "Europa der Menschen".
Für die internationale Politik ist eine inhaltliche und strukturelle Reform der Vereinten Nationen dringlich (...), wenn das Konzept der "Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten" nicht länger als Schutzschild für Diktatoren und Mörder missbraucht werden soll.
Für Europa schließlich geht es darum, im Bündnis mit den USA mehr und mehr Verantwortung zu übernehmen.
Die Überwindung der Kluft zwischen armen und reichen Weltregionen bleibt die größte internationale Herausforderung an der Schwelle zum 21. Jahrhundert.
Alle Zitate aus: Gerhard Schröder, Eine Außenpolitik des "Dritten Weges", in: Gewerkschaftliche Monatshefte 7-8/99