Schweden unter Schock
Warum sollte jemand seine eigene Nachbarschaft niederbrennen? Eine Woche lang wüteten im Mai Unruhen in mehreren der vergessenen Vorstädte von Stockholm. Diese Unruhen, die in dem Plattenbauviertel Husby begannen, verleihen den bislang eher zusammenhanglosen öffentlichen Debatten über soziale Missstände in Schweden, die es auch nach früheren Ausschreitungen gab, eine ganz neue Ausrichtung. Denn die Bewohner der vergessenen Vorstädte werden nicht mehr schweigen.
In Husby, kaum mehr als 20 U-Bahnminuten vom Stadtzentrum der schwedischen Hauptstadt entfernt, sind in den vergangenen Jahren verschiedene politische Organisationen entstanden. Die lauteste von ihnen trägt passenderweise den Namen „Megafonen“. Die Einwohner haben einfach die Nase voll von der Ungleichheit und der verbreiteten Verachtung, die den Vorstädten entgegengebracht wird. Ihre Interpretation der Ereignisse vom Mai 2013 fällt deshalb anders aus als das gängige Bild, das Polizei, Behörden und Journalisten zeichnen. In überzeugender Weise legen die Einwohner dar, dass die aktuellen Unruhen in einem größeren politischen Kontext stehen.
Einfach gesagt: Die Vergessenen von Husby haben sich das Recht genommen, die eigene Stimme zu erheben. Und das macht einen Unterschied aus. Die Wirkung haben wir in Schweden unmittelbar bemerkt. Will man Erklärungen für die Gewalt finden, muss man ihre tieferen Ursachen erkennen: das fehlende Interesse der Politiker im Stockholmer Rathaus, die fortschreitende Demontage des schwedischen Wohlfahrtsstaates und die verbreitete Massenarbeitslosigkeit.
Äußerer Anlass der Unruhen war die Erschießung eines 69-jährigen Einwohners von Husby – nach Polizeiangaben ein Fall von Notwehr. Doch Augenzeugenberichte über zügellose Polizeigewalt dürfen nicht verharmlost und heruntergespielt werden. Die gesamte Situation ist nun eine politische geworden. Zwar ist die Zahl derer gering, die Sturmhauben aufsetzen, Autos abbrennen und Schaufenster zerschlagen. Doch unglücklicherweise verschlimmern ihre Gewalttaten das Leben der einfachen Bevölkerung in diesen sowieso schon verarmten Vierteln nur noch weiter. Sie provozieren neue Wut, neue Angst und neue Frustration.
In seinem viel beachteten Buch The Precariat beschreibt der britische Soziologe Guy Standing „die neue gefährliche Klasse“ der westlichen Gesellschaften des frühen 21. Jahrhunderts (siehe hierzu auch der gleichnamige Text von Standing in Heft 4/2011 der Berliner Republik). Eine wachsende Zahl von Menschen lebt ohne jede stabile Verbindung zum Arbeitsmarkt. Sie sind – selbst in Zeiten günstiger Konjunktur – gezwungen, sich von einem kurzfristigen Job zum nächsten zu hangeln und genießen wenig oder gar keinen sozialen Schutz. Standing nennt diese Gruppe von Menschen das Prekariat. Flankiert werde diese Gruppe zudem von einem Heer von mehr oder minder dauerhaft Arbeitslosen.
Aufstieg der »neuen gefährlichen Klasse«
Standing argumentiert, dass das Prekariat niemals der Gesellschaft angehören wird. „Es liegt kein ‚Schatten der Zukunft‘ über ihren Handlungen.“ Denn die Zukunft verspreche den Prekären nichts: weder Karriere noch Unterstützung seitens der Gesellschaft. Dies mache das Prekariat zur „neuen gefährlichen Klasse“, weil es so gänzlich abgekoppelt und damit unberechenbar sei. Aber das Prekariat bestehe nicht nur aus Niedriglöhnern, es greife weit in die Gesellschaft aus und sei die Folge hyperflexibler Arbeitsmärkte.
Wer die getrennten Pressekonferenzen von „Megafonen“ und Premierminister Fredrik Reinfeldt verfolgte, stellte einen wichtigen Unterschied fest. Reinfeldt verwies nur auf die Probleme der Einwanderung und sprach von „Tätern, die an Gewalt als Methode glauben“. Die Sprecher von „Megafonen“ hingegen versuchten, ihre Erklärungen in einen breiteren politischen Kontext zu stellen, indem sie auf Rassismus, Segregation und Ungleichheit als soziale Probleme hinwiesen. Guy Standings Untersuchungen zu den Lebensbedingungen des Prekariats eröffnen hier die Perspektive neuer und anderer Antworten.
„Megafonen“ ist nicht die einzige politische Bewegung, die im Laufe der vergangenen Jahre in Schwedens vergessenen Vorstädten entstanden ist. In Göteborg und Malmö gibt es beispielsweise „Pantrarna“ („Die Panther“). Nicht wenige dieser Aktivisten sind jung, radikal und wütend. Mit ein bisschen Geschick und politischer Cleverness könnten sie die gesamte Debatte um Segregation, rassistische Diskriminierung und Ungleichheit in Schweden zum Besseren wenden.
Aus dem Englischen von Tobias Dürr
Wir danken „Dagens Arena“ (www.dagensarena.se) für die Genehmigung zum Abdruck dieses Textes.