Schwedische Lektionen
Im Frühjahr 2013 machten Ausschreitungen in der Stockholmer Vorstadt Husby sowie in verschiedenen Wohnsiedlungen anderer schwedischer Städte international Schlagzeilen. Soziale Unruhen? Ausgerechnet im „Musterland“ Schweden? Ausgerechnet in einer der reichsten Metropolen Europas? Aus der Perspektive der internationalen Medien entsprachen diese Nachrichten präzise dem Prinzip „Mann beißt Hund“: Das Unwahrscheinliche ist das Interessante. Schnell waren sich die Kommentatoren einig, dass die brennenden Autos von Husby Schwedens Ruf als Land sozial gerechter Verhältnisse in Mitleidenschaft zögen.
In der Zwischenzeit ist, ausgelöst durch die Ereignisse von 2013, in der schwedischen Öffentlichkeit eine kritische Diskussion in Gang gekommen. In ihrer Mehrheit sind sich die Schweden darüber im Klaren, dass die soziale Zerklüftung innerhalb ihrer Gesellschaft (wie in den meisten anderen Ländern) in den vergangenen Jahren zugenommen hat. Trotzdem können die Ausschreitungen als Ausgangspunkt eines neuen Erwachens und Nachdenkens verstanden werden, besonders im Hinblick auf die Entwicklungen in den großen Städten sowie die wachsende Marginalisierung und Armut in vielen multiethnischen Vorstädten und randständigen Wohngebieten.
Die bereits eingetretene Zerklüftung wird durch die auf Arbeitsanreize abzielende Workfare-Politik („arbetslinjen“) noch verstärkt, die von Schwedens Mitte-rechts-Regierung seit 2006 vorangetrieben wird. Aufgrund dieser Politik sind die Leistungen innerhalb des Sozialversicherungssystems beschnitten worden. Gleichzeitig aber wurden große Gruppen der Gesellschaft in rein wirtschaftlicher Hinsicht besser gestellt; vor allem Berufstätige durften sich über niedrigere Steuern freuen. Im Ergebnis ist es zu einer verstärkten Polarisierung zwischen Insidern und Outsidern der schwedischen Gesellschaft gekommen: zwischen denen, die auf dem Arbeitsmarkt eine starke Position innehaben, und jenen, bei denen dies nicht der Fall ist.
Bis etwa 1980 waren die Einkommensunterschiede in Schweden rückläufig. Doch einem aktuellen Bericht der OECD zufolge ist Schweden dasjenige Land, in dem seit 1995 Einkommensunterschiede am stärksten gestiegen sind. Und der Trend verläuft eindeutig weiter in diese Richtung. Michael Forster, ein ranghoher Experte der OECD, stellt fest: „Wenn sich diese Entwicklung über weitere fünf oder zehn Jahre fortsetzt, dann wird Schweden innerhalb des OECD-Raumes kein Beispiel mehr für ein egalitäres Land sein.“
Was bedeutet heute eigentlich der Begriff »Schwedisches Modell«?
Bis heute wird das schwedische Modell sehr stark mit Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung in Verbindung gebracht. Beide zusammen drückten der schwedischen Gesellschaft im 20. Jahrhundert lange Zeit ihren Stempel auf. Seit einigen Jahren versucht nun die Regierungskoalition der rechten Mitte (Allianz für Schweden) unter Führung der Neuen Moderaten Partei und deren Galionsfiguren, Premierminister Fredrik Reinfeldt und Finanzminister Anders Borg, ebenfalls Anspruch auf die Kategorie des „Schwedischen Modells“ zu erheben. Es ist also ein Konflikt darüber ausgebrochen, was dieses Konzept bedeutet, welche spezifischen Politiken zu dieser Überschrift passen und wie daher die Institutionen des Sozialstaats konstruiert sein sollten. Wie ist es zu diesem Wandel gekommen?
Unlängst wurden die nordischen Länder von der Wirtschaftszeitschrift The Economist mit großem Lob überschüttet. „The next supermodel“ lautete dort die Überschrift einer umfassenden Analyse. Positiv vermerkt wurden dabei vor allem Umbaumaßnahmen mit liberalisierender Stoßrichtung. Tatsächlich haben sich die nordischen Staaten in den vergangenen Jahren erheblich von den sozialdemokratisch geprägten Wirtschafts- und Sozialmodellen fortbewegt, die sie einst erfolgreich gemacht hatten. Die veränderte Wahrnehmung dessen, was als nordisches Modell verstanden wird, kommt auch in der Analyse The Nordic Way zum Ausdruck, einem Bericht, der bereits 2011 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos vorgelegt wurde. In seinem Aufsatz Nordic Capitalism: Lessons Learned vertritt etwa der Ökonom Klas Eklund die Auffassung, die nordischen Wohlfahrtsmodelle kämen deshalb besser als andere Länder durch die Krise, weil sie bereits früher eigene Krisenzeiten, wirtschaftliche Probleme und heftige Rezessionen durchlebt und ihre Wirtschafts- und Sozialmodelle anschließend wieder auf Kurs gebracht hätten. Eklund argumentiert, der Erfolg dieser Länder basiere heute gerade nicht mehr auf hohen Steuern, sondern eher auf dem Gegenteil davon: Die nordischen Länder hätten die Notwendigkeit weniger großzügiger Sozialversicherungssysteme eingesehen und umfangreiche „Marktreformen“ verwirklicht. Man könnte diese Sichtweise als die „höhere Ideologie“ bezeichnen, die in Schweden seit der Krise der neunziger Jahre bis hinein in die jüngste Gegenwart vorgeherrscht hat.
Das schwedische Modell ist noch aus einem anderen Blickwinkel neu interpretiert worden, nämlich hinsichtlich der Beziehung zwischen Individuum und Kollektiv. In ihrem Buch Are Swedes People? Affinities and Independence in Modern Sweden vertreten die Autoren Henrik Berggren und Lars Trägårdh die grundlegende These, der spezifisch schwedische Wohlfahrtsstaat habe die Individuen unabhängiger von ihren Familien und von der Zivilgesellschaft gemacht, als dies bei Menschen in anderen Wohlfahrtsmodellen der Fall sei. In Schweden würden entscheidende Bereiche des sozialen Daseins in kollektiven Formen organisiert, etwa öffentliche Stipendienprogramme und die Systeme der sozialen Sicherheit. Dies habe dort zu einer besonderen Form von „staatlichem Individualismus“ geführt.
Die Ära der sozialdemokratischen Hegemonie ist Geschichte
Diese individuelle und individualisierende Dimension des schwedischen Wohlfahrtsmodells haben nicht nur die Sozialdemokraten übernommen, sondern auch die konservativen Neuen Moderaten – oder doch zumindest einige ihrer führenden Vertreter. Traditionellere Vertreter der Moderaten Partei halten nicht viel vom Begriff des „Schwedischen Modells“, weil sie darunter ein sozialdemokratisches Konzept verstehen. Doch im Lichte der vielen Veränderungen der vergangenen Jahre sowie angesichts der aktuellen öffentlichen Debatte haben auch die „Neuen Moderaten“ die Kategorie des Schwedischen Modells für sich entdeckt und versuchen, sie begriffspolitisch in ihrem Sinne zu übernehmen und neu zu definieren.
Ein kurzer Rückblick hilft, die aktuelle Debatte in ihren historischen Kontext zu setzen. In den siebziger Jahren brachte das Schwedische Modell in sozialer Hinsicht hervorragende Ergebnisse hervor. Gleichzeitig aber wurde es von der politischen Rechten zunehmend kritisiert, die den öffentlichen Sektor deutlich zusammenstreichen wollte. Auch in Schweden machte die neoliberale Gegnerschaft zum öffentlichen Sektor Boden gut. Eine – einstweilen noch milde – Steuerrevolte gegen die sozialdemokratische Hochsteuergesellschaft kam in Gang. Aber zu dieser Zeit wurde Schweden, wie die anderen nordischen Länder, noch von einer starken sozialdemokratischen Partei dominiert. Aufgrund ihres Bündnisses mit dem Gewerkschaftsdachverband LO besetzte die Sozialdemokratie im Grunde die zentrale Schaltstelle der schwedischen Politik. Sie war die Sonne, um die alle anderen Planeten kreisten. Doch nach und nach hat sich das geändert.
Schon in den achtziger Jahren war das Schwedische Modell erheblichen Spannungen ausgesetzt. Besonders die ständigen Konflikte innerhalb der Arbeiterbewegung kamen einem „schwedischen Rosenkrieg“ gleich. Der Ausbau des öffentlichen Sektors verlangsamte sich. In den neunziger Jahren schließlich stellte eine schwere Wirtschaftskrise das Schwedische Modell auf den Prüfstand. Die regierenden Sozialdemokraten leiteten drastische wirtschaftspolitische Maßnahmen ein, senkten den Staatsanteil am Bruttoinlandsprodukt und setzten Kürzungen im Sozialversicherungssystem durch.
Die nordischen Wohlfahrtsmodelle leben noch. Aber sie sind bedroht
In den frühen Jahren des 21. Jahrhunderts erholte sich das Schwedische Modell wieder – ebenso wie ähnliche Varianten in den anderen nordischen Ländern. Zwar haben die „Neuen Moderaten“ seit 2006 umfassende Änderungen des schwedischen Wirtschafts- und Sozialmodells durchgesetzt. Doch in Bezug auf wachsende Produktivität, steigende Reallöhne und höhere Beschäftigung wurden vergleichsweise zufriedenstellende Ergebnisse erzielt. Internationale Vergleiche ergaben für die nordischen Modelle Spitzenplätze, und die Einwohner Skandinaviens bekundeten in Umfragen größere Lebenszufriedenheit als die Einwohner anderer Regionen in Europa und der Welt.
Anders gesagt: Alles in allem haben die Grundlagen der nordischen Wohlfahrtsmodelle überlebt. Und hohe Geburtenraten sorgen bis heute dafür, dass sich die demografischen Strukturen dieser Länder weniger alarmierend entwickeln als in den meisten anderen Ländern der Europäischen Union. Darüber hinaus haben die nordischen Länder die Wirtschaftskrise seit 2008 relativ gut bewältigt und sich schneller erholt als viele andere Staaten in Europa. In vielerlei Hinsicht also erfreut sich das schwedische Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktmodell durchaus guter Gesundheit.
Und dennoch werden an den Rändern dieses vergleichsweise hellen Bildes zunehmend dunkle Flecken sichtbar. Sollte zugelassen werden, dass sich diese Flecken ausbreiten, dann wird das auf Solidarismus basierende Schwedische Modell zerbrechen. Bereits heute ist es erheblichen Belastungen ausgesetzt, und auf verschiedenen Gebieten wachsen mit den Herausforderungen auch die Konflikte. Diese sind aus der Perspektive anderer europäischer Gesellschaften deshalb besonders lehrreich, weil das Schwedische Modell gern als leuchtendes Beispiel angeführt wird, an dem sich andere Staaten orientieren sollten. Im Folgenden werden die sechs zentralen Herausforderungen und Konfliktfelder erläutert:
Deregulierung, Risikokapitalismus und Gewinnstreben im öffentlichen Sektor: Wie soll der Sozialstaat organisiert werden? Und worin soll die Rolle privater Unternehmen auf dem Gebiet öffentlich finanzierter Leistungen bestehen? Sozialstaatliche Leistungen werden in Schweden heute nicht mehr wie früher vor allem in Form einer öffentlichen „Planwirtschaft“ erbracht, sondern unter den Bedingungen eines zunehmend marktorientierten Wohlfahrtsbetriebes. Dies hat zu einer Identitätskrise der Arbeiterbewegung geführt. Die schwedische Sozialdemokratie ist zwar zutiefst pragmatisch, aber sie identifiziert sich immer noch zu einem erheblichen Teil mit dem öffentlichen Sektor. Und es bestehen innerhalb der Arbeiterbewegung auch Spannungen in Bezug auf die Frage, welche privaten Alternativen auf dem Feld der Sozialstaatlichkeit akzeptabel sind. Die meisten Menschen betrachten die derzeitigen Verhältnisse kritisch. Keine Einigkeit besteht hingegen über die Alternativen sowie darüber, wie schnell und wie umfassend Veränderungen des aktuellen Systems durchgesetzt werden können und sollen.
Schon während der Amtszeit der bürgerlichen Regierung in den Jahren 1991 bis 1994 waren im sozialen Sektor sowohl Modelle des freien Wettbewerbs als auch des Prinzips der Wahlfreiheit eingeführt worden. Die Bürger wurden zunehmend als Kunden begriffen. Als die Sozialdemokraten im Jahr 1994 erneut die Regierung übernahmen, wurden die in diesem neumodischen Geist verabschiedeten Gesetze nicht wieder rückgängig gemacht. Aber die Idee des Wettbewerbs im Sozialbereich hatte Auswirkungen, die nicht einmal ihre bürgerlichen und wirtschaftsliberalen Befürworter vorhersagen oder sich vorstellen konnten. Veränderungen dieser Art – etwa Waldorf-Lehrmethoden in Schulen – wurden zunächst als Wegbereiter für genossenschaftliche Initiativen und allgemein größere zivilgesellschaftliche Vielfalt angepriesen. Tatsächlich aber drängten auf der Grundlage der neuen Regelungen nun immer stärker private Unternehmen und Risikokapitalkonglomerate in den sozialen Sektor – weitaus mehr als nichtkommerzielle und gemeinnützige Anbieter von Leistungen. Das Wettbewerbsprinzip, die Idee des Kaufens und Verkaufens sowie verschiedene der Privatwirtschaft entliehene Marktmodelle eroberten den öffentlichen Sektor.
Der Sozialstaat als privat bewirtschaftete Zone
Als 2006 die Parteien der rechten Mitte nach 12 Jahren in der Opposition wieder an die Macht gelangten, verabschiedeten sie sofort neue Gesetze, die den bereits angelaufenen Privatisierungsprozess beschleunigten. Das Schwedische Modell hat seither einen fundamentalen Wandel weg von öffentlich „geplanten“ und staatlich beaufsichtigten Verhältnissen hin zu einer Marktstruktur durchlaufen. Zwar wird das Sozialsystem immer noch mittels allgemeiner Steuern finanziert, doch in operativer Hinsicht handelt es sich zunehmend um eine privat bewirtschaftete Zone.
Seit einigen Jahren jedoch werden solche Marktmodelle wieder zunehmend kritisch unter die Lupe genommen. Die Kritik an der schlechten Qualität von Pflegediensten und Schulen wächst. Besondere Beachtung findet dabei die zu geringe Personalausstattung vieler privater Anbieter. Natürlich besteht hier ein Zusammenhang mit dem Wunsch privater Auftragnehmer, ihre Kosten zu drücken, um ihre Gewinne zu steigern. In der Öffentlichkeit wächst das Befremden darüber, dass für Anbieter von Sozial-, Bildungs- oder Gesundheitsdienstleistungen überhaupt das Motiv der Gewinnmaximierung im Mittelpunkt stehen kann.
Insgesamt hat die öffentliche Debatte über den Zusammenhang zwischen staatlicher Aufsicht und privater Leistungserbringung im öffentlichen Sektor in jüngster Zeit eine neue Wendung erfahren. Auch innerhalb der schwedischen Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung wird heftig darüber gestritten, welche Rolle private Anbieter und Profite im öffentlichen Sektor spielen sollen. Dabei hat die Auffassung, dass private Gewinnorientierung auf diesem Feld unterbunden werden sollte, zunehmend an Zustimmung gewonnen. Im Frühjahr 2013 beschlossen die schwedischen Sozialdemokraten deshalb auf ihrem Parteitag, dass Kommunen die Möglichkeit besitzen sollten, private Auftragnehmer abzulehnen und auf Non-Profit-Alternativen zu bestehen. Der Parteitag entschied zudem, dass den Gemeinden bei der Gründung unabhängiger Schulen eine entscheidende Rolle zuzukommen habe.
Hieraus ergibt sich eine wichtige Lehre für andere Staaten in Europa. In der britischen Debatte über die Zukunft des Nationalen Gesundheitssystems NHS etwa verweisen David Camerons Konservative gern auf Schweden als Vorbild. Tatsächlich aber bestehen in diesem Kontext gute Gründe, andere Staaten Europas ausdrücklich vor dem in Schweden eingeschlagenen Weg zu warnen. Die schwedische Erfahrung hat gezeigt, dass Deregulierung im Wohlfahrts- und Bildungssektor bei weitem nicht in dem Maße die Entstehung von Non-Profit-Alternativen begünstigt hat, wie viele Menschen glaubten und wie es auch als Argument für den Umbau angeführt worden war. Stattdessen haben sich in den schwedischen Sozialsystemen private Unternehmen, große Konzerne und Risikokapitalisten ausgebreitet. Dies wurde kaum vorausgesehen, als diese „Reformen“ diskutiert und verwirklicht wurden. Andere Staaten sollten die Entwicklungen in Schweden deshalb genau unter die Lupe nehmen. Heute steht eine wieder sehr viel strengere Regulierung von Schulen sowie medizinischen und pflegerischen Leistungen auf der Tagesordnung. Jedenfalls diskutiert und fordert dies die schwedische Sozialdemokratie.
Starke Wirtschaft und hohe Arbeitslosigkeit – wie passt das zusammen?
Hohe Arbeitslosigkeit und strenger Fiskalkonservatismus: Die Ausrichtung der zukünftigen Wirtschaftspolitik bietet ebenfalls Anlass zur Diskussion. Nach der Wirtschaftskrise der neunziger Jahre wurde die schwedische Wirtschaftspolitik neu konzipiert. Der Schwerpunkt lag nunmehr verstärkt auf Fiskalkonservatismus und strengerer Regulierung. Dies ist dem Land in der Folge zugutegekommen; gemessen an europäischen Maßstäben befinden sich die schwedischen Staatsfinanzen und die Wirtschaft in guter Verfassung. Aber gleichzeitig ist eine hohe Arbeitslosigkeit zu verzeichnen. Sie liegt deutlich über dem Niveau, das in Anbetracht der Stärke der schwedischen Wirtschaft als angemessen gelten könnte. Diskussionen um Möglichkeiten einer expansiveren Wirtschaftspolitik lassen eine Renaissance keynesianischer Perspektiven zumindest denkbar erscheinen. Parallel dazu halten Debatten über die Zinspolitik der Schwedischen Reichsbank an. Einstweilen ist die Sozialdemokratie in dieser Frage noch etwas uneinig. Aber Anzeichen sprechen dafür, dass eine wachsende Zahl von Bürgern den früheren schwedischen Fiskalkonservatismus inzwischen in Frage stellt.
Der Rückzug des Staates aus der aktiven Industriepolitik: Fraglich geworden ist auch die geeignete Rolle des Staates und der Politik auf dem Feld der Industrie- und Handelspolitik. Während der Wirtschaftskrise der siebziger Jahre war der Staat in hohem Maße am Management der Krise in der schwedischen Industrie beteiligt. Während der Rezession nach dem Finanzdebakel des Jahres 2008 hingegen blieb die schwedische Regierung auffallend passiv. Viel deutet heute darauf hin, dass Industriepolitik sowie die Förderung langfristiger unternehmerischer Orientierungen sowohl in der Industrie als auch in den Dienstleistungssektoren zu wichtigen politischen Themen der Zukunft avancieren. Nach 1989 betrachtete die schwedische Sozialdemokratie die Globalisierung in einem positiven Licht. Dabei legte sie den Schwerpunkt darauf, Brücken zwischen alten und neuen Arbeitsplätzen zu bauen, statt darauf einzuwirken, in welcher Weise die Wirtschaft funktioniert. Diese Strategie erscheint aus heutiger Perspektive nicht mehr ausreichend. Wahrscheinlich wird – nicht nur in Schweden – in Zukunft ein aktiverer Ansatz notwendig sein.
Der Konflikt zwischen EU-Freizügigkeit und Gewerkschaften: Nicht weniger umstritten ist die Frage danach, in welcher Weise heute der Arbeitsmarkt zu funktionieren habe. Offen ist in Schweden besonders, ob die Gewerkschaften ihre – gemessen an europäischen Standards – große Bedeutung weiterhin wahren können. Trotz schwieriger Herausforderungen ist es ihnen bislang gelungen, ihre Mitgliedschaft auf hohem Niveau zu halten und sich der Entwicklung eines Niedriglohnsektors erfolgreich zu widersetzen. Aber sie haben es mit großen und tiefer liegenden Bedrohungen zu tun. Der Mitgliederbestand der Gewerkschaften ist in mehreren Branchen niedrig, und zum Beispiel die Entsenderichtlinie der EU sowie die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs im „Laval“-Fall haben wirksame Gegenmaßnahmen der Gewerkschaften behindert. Es ist von strategischer Bedeutung, dass das Schwedische Modell die Entstehung eines Niedriglohnsektors der „working poor“ auch weiterhin verhindert. Dies ist besonders deshalb notwendig, um im internationalen Maßstab Alternativen zu deregulierten, für die Beschäftigten nachteiligen Arbeitsmärkten präsentieren zu können. Aber es ist auch wichtig, auf der Ebene der Europäischen Union darüber zu diskutieren, in welchem Umfang der Freizügigkeit Vorrang gegenüber sozialen Belangen und wirksamer Vertretung von Arbeitnehmerinteressen durch die Gewerkschaften eingeräumt werden sollte.
Bildung war und bleibt die zentrale sozialdemokratische Antwort
In historischer Perspektive hat sich die sozialdemokratische Politik in Schweden immer stark auf Bildung konzentriert. So sollten die Bürger in den Stand versetzt werden, ihre Fähigkeiten und Qualifikationen zu verbessern, um den heutigen Anforderungen gerecht werden zu können. Es ging darum, Brücken für den Übergang von alten zu neuen Arbeitsformen zu errichten. Diese Idee verkörperte bereits das berühmte Rehn-Meidner-Modell aus dem Jahr 1951, dessen entscheidenden Eckpunkte arbeitsmarktorientierte Ausbildung und lebenslanges Lernen waren. In der Zeit vor 2006 wurde ein umfangreiches Programm für den „Wissensschub“ verwirklicht und die Sekundarstufe II auf obligatorische vier Jahre verlängert. Dies bleibt weiterhin die zentrale sozialdemokratische Antwort auf die Anforderungen unserer Zeit.
Die Herausforderungen für das schwedische Arbeitsmarktmodell und die Gewerkschaftsbewegung muss im Lichte dieses komplexen Hintergrundes gesehen werden. Um die Frage, welche Rolle Niedriglohnjobs in der schwedischen Wirtschaft spielen und ob die Gewerkschaften auch weiterhin ein wichtiger Faktor auf dem Arbeitsmarkt sein sollen, werden heftige Kämpfe ausgetragen, an deren Ausgang sich die Zukunft des schwedischen Modells der kollektiven Tarifverhandlungen entscheiden wird.
Die Fragmentierung der Sozialversicherung und der Druck auf den Universalismus: Aufmerksamkeit verdient ebenso die Konstruktion des schwedischen Sozialversicherungssystems. Die Versicherungsleistungen innerhalb des universellen Wohlfahrtsmodells waren in der Vergangenheit umfangreich und boten Ersatz im Fall von Einkommensverlust. Doch wie bereits erwähnt, sind die öffentlich-kollektiven Sicherungssysteme seit den neunziger Jahren geschwächt worden. Geblieben ist eine Art Grundsicherungsnetz. Seitdem müssen zunehmend ergänzende Maßnahmen kollektiver oder individueller Art das Vakuum füllen, welches das frühere kollektive Versicherungssystem hinterlassen hat. Dies hat dazu geführt, dass Gruppen und Einzelpersonen mit ausreichenden eigenen Mitteln in der Lage sind, ihre eigenen Versicherungen abzuschließen, während Gruppen mit schwächerem wirtschaftlichen Status das nicht tun können. Hierdurch ist eine größere und wachsende Kluft zwischen den verschiedenen Gruppen entstanden, die auf lange Sicht das universelle Wohlfahrtsmodell untergräbt und es durch individuelle, ungerechte und irrationale Sozialversicherungsmodelle ersetzen könnte.
Die Finanzierung des Schwedischen Modells nach den Steuersenkungen für die Mittelschichten: Die Höhe der Steuersätze bildet eine weitere Herausforderung für das Schwedische Modell. Über die künftige Finanzierung des Wohlfahrtsstaates wird bereits seit langem diskutiert. Zwar sind die Steuern in Schweden noch immer sehr hoch, aber sie wurden bereits so weit nach unten gedrückt, dass der Staatsanteil am Bruttoinlandsprodukt aus Steuern und Sozialabgaben inzwischen auf etwa 44,5 Prozent gesunken ist. Es gibt derzeit keine große politische Partei, die Steuererhöhungen befürwortet, wenngleich viele Menschen der Ansicht sind, dass diese in Zukunft wieder notwendig sein werden. Das schwedische Wohlfahrtsmodell kommt einem breiten Spektrum der Gesellschaft zugute, und vieles deutet darauf hin, dass die Steuersenkungen der Moderaten Partei die Qualität der öffentlichen Dienstleistungen und den Umfang der sozialen Sicherungssysteme untergraben haben. In seinem Buch Ein kritischer Blick: Sieg und die Krise der Sozialdemokratie vertritt der ehemalige Finanzminister Kjell-Olof Feldt die Auffassung, die Sozialdemokraten müssten in Zukunft wieder darüber diskutieren, wie durch höhere Steuern höhere öffentliche Einnahmen erzielt werden können.
In diesem Kontext kommt es darauf an, in der öffentlichen Debatte und in der Politik nach innovativen und kreativen Ansätzen dafür Ausschau zu halten, wie öffentliche Gemeinschaftsgüter langfristig finanziert werden können. Die Ankündigung von Steuererhöhungen führt bekanntlich weder in Schweden noch in anderen Ländern auf direktem Weg zu Wahlsiegen, auch wenn der öffentliche Sektor und die grundsätzliche Möglichkeit verbesserter Einnahmen des Staates durchaus erhebliche Zustimmung finden. Aber es gibt natürlich verschiedene Arten von Steuern. Beiträge zu den Sozialversicherungen werden nicht unbedingt als Steuern wahrgenommen, und auch ihre Rundfunk- und Fernsehgebühren bezahlen die Schweden noch immer eher loyal.
Wo liegt die richtige Balance zwischen öffentlichem Sektor und Markt?
Im Grunde betreffen alle genannten Punkte die Frage nach der richtigen Rolle der Politik in der Gesellschaft und dem geeigneten Gleichgewicht zwischen öffentlichem Sektor und Markt. Das bisherige schwedische Wohlfahrtsmodell deckt viele Bereiche ab und setzt dabei in erheblichem Umfang auf die Finanzierung über Steuern. Die Zukunft des Sozialstaats hängt nun davon ab, wie viel von unserem Konsum die einzelnen Bürger in ihrer Eigenschaft als Privatpersonen finanzieren sollten, und wie viel die Gemeinschaft aller Bürger im öffentlichen Sektor und in kollektiven Formen aufbringen sollte. Die Frage nach den richtigen Steuersätzen wird also neu diskutiert werden müssen.
Bereits in den späten fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts argumentierte der amerikanische Ökonom John Kenneth Galbraith, dass ein größerer Anteil unseres Verbrauchs im öffentlichen Sektor und nicht in der privatwirtschaftlichen Sphäre stattfinden sollte. Andernfalls werde der private Sektor reich und der öffentliche Sektor arm. Diese Gefahr ist heute kein bisschen kleiner als damals – und keineswegs allein in Schweden.
Aus dem Englischen von Tobias Dürr
Wir danken der Friedrich-Ebert-Stiftung (Stockholm) und dem Policy Network (London) für die Genehmigung zum Druck dieses Textes. Eine erweiterte Fassung des Textes in englischer Sprache finden Sie hier (PDF)