Sehnsucht nach Sicherheit

Die politische Kultur Ostdeutschlands seit 1990 ist geprägt von Verunsicherung, fehlenden Traditionen und der Suche nach Identität. Diese Nachfrage konnte die SPD nur in seltenen Ausnahmefällen bedienen. Das erklärt ihre heutige Lage

Die Bilder der Nacht vom 3. Oktober 1990 sind unvergessen. Mit Tränen in den Augen steht Willy Brandt am Reichstag. Keiner hat dem Osten Deutschlands so früh die Hand gereicht wie dieser Sozialdemokrat. Niemand hat so hautnah miterlebt, was die deutsch-deutsche Teilung bedeutete, wie der ehemalige Bürgermeister von Berlin. Und dann wurde schließlich wahr, was Brandt so lange erträumt hatte: die Wiedervereinigung.

Wie würde Willy Brandt wohl – 25 Jahre nach dem Mauerfall – das Ergebnis der Bundestagswahl 2013 deuten? Würde er verstehen, warum dieses Vierteljahrhundert nicht zu einer sozialdemokratischen Epoche geworden ist? Wo sich doch gerade seine Partei als Interessenvertreterin der Menschen versteht, die für sozialen Fortschritt sowie gute Arbeits- und Lebensbedingungen für alle eintritt.

Die Zahlen sind ernüchternd. Heute kann die SPD im Osten Deutschlands gerade einmal 19 Prozent der Menschen von ihrem Programm und ihren Politikern überzeugen. Das ist überraschend wenig, zieht man die Argumente der frühen neunziger Jahre noch einmal zu Rate. Damals glaubten die politischen Kommentatoren, dass die ehemalige SED in Form der PDS nur noch ein paar Wahlen erfolgreich überstehen und sich das Kapitel von selbst erledigen werde, wenn erst die letzten aktiven Jahrgänge der Erben Honeckers ausgestorben sein würden. Mit wachsendem Wohlstand und zunehmendem Heimatgefühl im vereinten Deutschland, so glaubten damals nicht nur die Sozialdemokraten, würden die Wähler zwischen Ostsee und Erzgebirge erkennen, dass die PDS-Sicht keine Zukunft hat. Nach zehn Jahren, spätestens, lauteten die Prognosen, werde sich das Wahlverhalten des Ostens dem des Westens angenähert haben. Was für eine Fehleinschätzung!

Stolpe und Platzeck: Stabilität in unsicherer Zeit

Im prosperierenden Südosten der Region – einst eine sozialdemokratische Hochburg – haben 40 Jahre DDR die Erinnerungen der Menschen an die Werte von Karl Liebknecht und August Bebel verblassen lassen. Seit 1990 wählen die Sachsen stets die CDU in die Regierung und zeigen der SPD die kalte Schulter; in Thüringen sieht es nicht anders aus. Nur in Brandenburg kann die SPD mit stabiler Unterstützung rechnen. In den Ministerpräsidenten Manfred Stolpe und Matthias Platzeck sahen die Brandenburger dasselbe, was Kurt Biedenkopf für die Sachsen war: das Versprechen von Stabilität und Integrität herausragender Persönlichkeiten. Stolpe und Platzeck – das waren für die Menschen in Brandenburg Männer aus der Region, die Identität stifteten in unsicheren Zeiten. Sie wurden vor allem wohl deshalb gewählt und erst in zweiter Linie als Vertreter sozialdemokratischer Politik. Ob dies auch für den soeben wiedergewählten Dietmar Woidke gelten wird, müssen die kommenden Jahre zeigen.

Doch warum nur wählen die meisten Ostdeutschen 25 Jahre nach dem Fall der Mauer entweder CDU oder Linkspartei? Warum halten sie Abstand zu den Grünen? Warum sind sie so zahlreich bereit, ihren Protest mit Stimmen für Parteien rechts der Mitte zu artikulieren? Wer Antworten auf diese Fragen sucht, wird immer wieder auf Verunsicherung, fehlende politische Traditionen, die Suche nach Identität sowie Sehnsucht nach wirtschaftlicher Sicherheit stoßen. Ja, man muss zur Kenntnis nehmen, dass die „Wende“ 1990 für die meisten Menschen in den neuen Bundesländern ein Schock war. Der rasante wirtschaftliche Niedergang, der Verlust von Arbeit und Wertschätzung, die Entwertung von Lebensleistung und Ausbildung haben zu einer Angst der Ostdeutschen geführt, die wahrscheinlich noch zwei Generationen nachwirken wird. Sozialleistungen und gute Renten haben das nicht kompensieren können. Der direkte ökonomische Vergleich zum Westen rief in Ostdeutschland ein kollektives Gefühl der Minderwertigkeit hervor, das noch verstärkt wurde durch die zahlreichen „Besserwessis“, die selbstbewusst in Ministerien, Rathäuser und Landratsämter einzogen und dort Aufbauhilfe leisteten. Was gut gemeint war, geriet nicht selten zu einer zusätzlichen Demütigung.

Der (unvermeidliche) Geburtsfehler der SPD

Wer dieses Gefühl aufzugreifen wusste, wer in Bürgerzentren und Rentnertreffs aktive Lebenshilfe geben konnte, das war – und ist es zum Teil bis heute – die Linkspartei. Sie als Hort ewig Gestriger und Sammelbecken altkommunistischer Kader zu bezeichnen, trifft eben nicht den Kern. Viele Kommunalvertreter und Landespolitiker der Linkspartei haben gezeigt, dass sie durchaus die politische Sprache der Menschen im Osten verstehen und sich für deren Interessen einsetzen. Kein Wunder, dass die Linkspartei im Osten bislang zumeist die zweite Kraft nach der Union gewesen ist.

Wo aber liegen die Ursachen dafür, dass man in Ostdeutschland den Sozialdemokraten offenbar nicht zutraut, das Land in bessere, gerechtere Zeiten zu führen? Für Antworten darauf muss man auch die Wendezeiten in Erinnerung rufen. Es war ein Geburtsfehler, dass die ostdeutsche SDP im Oktober 1989 von Menschen gegründet wurde, die allesamt Getriebene des SED-Staates waren. Sie lehnten verständlicherweise jeden Gedanken daran ab, in der Staatspartei nach Überbleibseln sozialdemokratischen Gedankengutes zu suchen. In ihren Augen gab es diese nicht mehr in der Partei, die einst Kommunisten und Sozialdemokraten zwangsvereinigt hatte. Der westdeutschen SPD wurde damit auch das Innehalten und Nachdenken über ihre eigenen Wurzeln im Osten unmöglich gemacht. Als die Mauer sich öffnete, fanden die Genossen aus Bonn eine noch junge Gruppierung im Osten vor, die keinen Zweifel daran aufkommen ließ, dass die Bewertung der DDR und ihrer Menschen ihr oblag. Die Möglichkeit einer Öffnung der SPD in Richtung SED war damit verbaut, denn die SDP-Mitglieder lehnten jede Initiative dahin ab. Die SPD konnte selbst ehemaligen SED-Mitgliedern nicht die Hand reichen.

Für die SPD im Osten waren die Folgen dieser Startprogrammierung massiv. Denn der implizite Nicht-Aufnahme-Beschluss, den es formell nie gegeben hat, führte dazu, dass die Sozialdemokraten ihre Parteistrukturen auf dem Gebiet der früheren DDR komplett neu aufbauen mussten – und das in einer Zeit, in der die Menschen verunsichert waren durch Arbeitsplatzverlust und den Wegfall ihrer gewohnten Lebensstrukturen. Wer dachte in diesen Zeiten schon an den Eintritt in eine Partei, noch dazu in eine, die keine gefestigten Strukturen aufwies und deren Gallionsfiguren größtenteils Männer der Kirche waren? Wer sich zu christlichen Werten hingezogen fühlte, trat eher an die CDU heran. Wer die Kälte des Kapitalismus ablehnte, suchte Unterschlupf in der PDS, der späteren Partei „Die Linke“. Und jene wiederum, die die DDR in den späten achtziger Jahren von innen heraus – auch als Mitglieder der SED – verändern wollten, sich also den freiheitlichen Werten der SPD nahe fühlten, waren längst vor den Kopf gestoßen und in die Parteilosigkeit abgewandert.

Herzlich willkommen? Nicht bei der SPD

Als die SPD es schließlich ihren Regionalgliederungen freistellte, über die Aufnahme ehemaliger SED-Mitglieder selbst und nach konkreter Prüfung der Kandidaten zu entscheiden, war es bereits zu spät. Während die Union als Volkspartei Signale des Verstehens und Verzeihens sendete und den Ostdeutschen einen Teil ihrer persönlichen Verantwortung für die DDR abnahm, taten die Sozialdemokraten das Gegenteil: Alle waren verdächtig; wer in der DDR nicht zum Widerstand gehört hatte, stand unter Rechtfertigungszwang. Das mag pauschal nicht überall so gegolten haben, aber die Menschen besaßen gerade in jenen Zeiten der Verunsicherung feine Antennen für Zeichen von Ablehnung oder Zuwendung. Bis heute kämpft die SPD im Osten mit einer geringen Mitgliederzahl und schwachen Strukturen.

Hinzu kommt wohl – und da gibt es Parallelen zu den Grünen –, dass Teile der Bürgerbewegung, zu denen auch SDP-Mitglieder und -Sympathisanten zählten, anfänglich noch nach einem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ strebten und einen „Dritten Weg“ suchten, während die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung längst auf dem Marsch in den Westen und zur D-Mark war. Was zählte, war die ganz praktische Frage, wie man mit Ostlohn und Ostrente würde überleben können, wenn die D-Mark kommt. Helmut Kohl hatte die Dimension dieses historischen Moments erkannt und die deutsche Einheit zum politischen Ziel gemacht, noch bevor es dafür einen Generalplan gab. Ganz anders die SPD: Bis weit in das Jahr 1990 hinein stritten die westdeutschen Genossen öffentlich darüber, ob man überhaupt mit der DDR näher zusammenrücken wolle und welche Nachteile dabei zu befürchten seien. SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine wollte seinerzeit sogar den Zuzug der Ostdeutschen in den Westen begrenzen, und auch die Währungsunion lehnte er ab. Was bei den meisten Ostdeutschen auf Dauer hängen blieb, war die Erinnerung an eine CDU, die ihnen die Hand reichte, während die SPD ängstlich über den Preis der Einheit für die eigenen West-Genossen debattierte. Ein „Willkommen“ sah anders aus. Ins wiedervereinigte Deutschland startete die SPD daher als Westpartei – eingekeilt zwischen der CDU und den SED-Nachfolgern von der PDS. „Links“ war man Anfang der neunziger Jahre im Osten, wenn man sich zur Partei Gregor Gysis bekannte.

Quotenossis oder Außenseiter

Aus der PDS-Hoheit über das „Linkssein“ erwuchsen der SPD zermürbende Jahre innerer Zerrissenheit und politischer Handlungsunfähigkeit. Weitgehend dominiert von westdeutschen Wertvorstellungen konnte die CDU ihren politischen Gegner mit „Rote-Socken“-Kampagnen immer wieder in Bedrängnis bringen. Rot-rote Bündnisse wurden als Annäherung der SPD an die SED-Nachfolger verunglimpft und sorgten in der Sozialdemokratie für Spannungen und Unruhe. So war die SPD außerstande, ein angst- und spannungsfreies Verhältnis zur späteren Linkspartei aufbauen. Koalitionsoptionen, die die PDS womöglich hätten entzaubern können, wurden unterdrückt. Dieser Prozess hält bis heute an und entzweit die Partei immer wieder – aktuell etwa in der Koalitionsfrage in Thüringen. Kann man es den Ostdeutschen verdenken, dass sie zu einer solchen Partei kein tieferes Zutrauen entwickeln?

Bleibt der Blick auf das aktuelle Personal sowie die politischen Inhalte der SPD und deren Wirkung auf die Ostdeutschen. Von den Ausnahmeerscheinungen Stolpe und Platzeck abgesehen, wird die SPD bis heute weitgehend von Westdeutschen dominiert. Die daraus resultierenden Erfahrungswerte, Umgangsformen und persönlichen Verbindungen machen ostdeutsche Sozialdemokraten auf ihrem Weg in den Parteistrukturen meist entweder zu „Quoten-Ossis“ oder zu Außenseitern ohne tiefe Verankerung im Apparat. Das war bei Wolfgang Thierse so und ist heute bei Familienministerin Manuela Schwesig nicht anders. Vielleicht kann man gerade an dieser Politikerin sehen, wie unterschiedlich die west- und ostdeutschen Prägungen noch immer sind. Schwesig wuchs in einer Umgebung auf, in der die gleichberechtigte Entwicklung der Geschlechter selbstverständlich war. Nun trifft sie auf Sozialdemokratinnen aus dem Westen, deren Leben und politische Entwicklung tief mit dem Kampf um Emanzipation verwoben ist. Man kann sich vorstellen, wie unterschiedlich dadurch die Vorstellungen von richtiger Politik für Frauen und Familien ausfallen.

Und wer ein aktuelles Beispiel dafür sucht, wie man mit einer Politik, die im Westen als fortschrittlich gilt, im Osten auf Unverständnis stoßen kann, der möge das Wort „Herdprämie“ aus zwei Blickwinkeln betrachten. Als die SPD die Einführung des Betreuungsgeldes als „Herdprämie“ verunglimpfte, bezichtigte sie damit unwillkürlich Mütter und Väter der Altbackenheit, die auf Karriere und Einkommen verzichten, um ihre kleinen Kinder eine Zeitlang zu Hause zu betreuen. In einer westdeutschen Gesellschaft, in der arbeitende Mütter von kleinen Kindern erst seit vergleichsweise kurzer Zeit zur Selbstverständlichkeit gehören, mag sich die SPD mit diesem Kampfbegriff den Glanz der Modernität verleihen können. In der DDR aber mussten Frauen ihre Babys aus gesellschaftlichem Druck oft unter Zwang in fremde Obhut geben. Sie empfinden es nun als neu gewonnene Freiheit, sich zwischen Kita und eigener Betreuung entscheiden zu können – eine Perspektive, aus der das Betreuungsgeld keineswegs als „rückständig“ erscheint.

Das Beispiel zeigt: Die Erfahrungshorizonte von Ost und West sind noch immer unterschiedlicher als die zwischen Hamburg und Stuttgart. Die Lebenswirklichkeiten sind verschieden und damit auch die Erwartungen an Politik. 25 Jahre sind für eine echte Annäherung wohl einfach noch zu wenig.

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