Si arrangiano in der Dauerkrise

Selbst wenn Italien ökonomisch prosperieren würde: Der über Jahrzehnte entstandene politische und institutionelle Reformstau wäre nur sehr schwer aufzulösen. Manche Italiener meinen, das Fass müsse erst mit dramatischem Effekt überlaufen, bevor in ihrem Land grundlegender Wandel Einzug halten könne. Für Italien selbst ist das keine gute Perspektive - und für Europa insgesamt auch nicht

Spricht man Italiener derzeit auf die Politik an, ist das Meinungsspektrum vielfältig – von der Erleichterung über die Regierungsbildung nach wochenlangem parteipolitischen Gezänk bis hin zur Resignation über die Politiker, die im Land umgangssprachlich „die Kaste“ genannt werden. Das schlechte Image der politischen Klasse kommt nicht von ungefähr. Es hat mit den Privilegien der Berufspolitiker und einer nicht endenden Serie von Skandalen zu tun. Zuletzt ging es um die mögliche Verwicklung von Managern und Lokalpolitikern in riskante Investitionen und Milliardenverluste der zweitgrößten Bank Italiens Monte dei Paschi di Siena.

Nach einer aktuellen Umfrage des Fernsehsenders Rai Tre haben nur vier Prozent der Italiener Vertrauen in die politischen Parteien, und lediglich sieben Prozent glauben daran, dass die designierte Regierung (Nummer 63 der Nachkriegszeit) die fünfjährige Legislaturperiode durchhält. Dabei ist die neue Koalition aus Enrico Lettas sozialdemokratischer Partito Democratico (PD) und Berlusconis konservativem Mitte-Rechts-Bündnis Popolo della Libertà (PDL) eine – für Italien äußerst ungewöhnliche – Mehrheitsregierung nach dem Vorbild der deutschen „Großen Koalition“.

Verdenken kann man den Italienern ihre distanzierte Haltung jedoch nicht. Fragt man sie nach dem Grund für Ihr Misstrauen, hört man von vielen das Gleiche: Man habe es mit einem grundlegenden Problem der italienischen „Staatsorganisation“ zu tun. Gemeint ist zum Beispiel, dass die Angestellten im öffentlichen Dienst in hohem Maße protegiert werden und personelle Wechsel so gut wie unmöglich sind. Wer gerade an der Regierung ist, erscheint den meisten Italiener daher zweitrangig. Die Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte zeigt, dass sich die Politik trotz wechselnder Regierungen nicht spürbar ändert, da sich das Problem nicht allein auf die politischen Entscheidungsträger beschränkt, sondern die gesamte Administration betrifft. Viele Italiener fordern daher umfangreiche Reformen im gesamten Staatsapparat und einen damit verbundenen politischen „Sinneswandel“.

Die Italiener sind vor allem eines: frustriert. Die Stimmung ist angespannt. Pessimismus überwiegt. Aber teilnahmslos ist niemand! Die Politik ist und bleibt ein Thema mit höchstem Konfliktpotenzial. Wer das italienische Temperament mit seinem großen Spektrum an ostentativer Gestik erleben will, muss nichts anderes tun, als eine politische Debatte zu provozieren. Persönliche Meinungen werden selbstbewusst artikuliert und als Prinzipien begriffen. Vom Barista bis hin zur Anwältin ist das vielleicht die einzige Gemeinsamkeit in diesen Tagen.

Währenddessen breitet sich im Land eine gefährliche antieuropäische Stimmung aus. Die neue 5-Sterne-Bewegung des Satirikers Beppe Grillo erlangte bei der Parlamentswahl im Februar aus dem Stand fast 30 Prozent der Stimmen, hauptsächlich von jungen Menschen. Nach einem europapolitischen Zick-Zack-Kurs fordert die Partei derzeit eine einjährige Umfrage, an deren Ende ein Referendum über Italiens Verbleib im Euro und der EU steht. Viele Italiener geben offen zu, dass sie die neue Partei, der kein einziger Berufspolitiker angehört, aus reinem Protest gewählt haben. Sie sprechen von der Notwendigkeit eines „Knalls“. Die Politiker müssten „aufwachen“ und „Angst bekommen“. Damit spielen sie auf die von den „Grillini“ geforderten Gehaltskürzungen und die zeitliche Begrenzung der Parlamentsmandate an.

Junge Akademiker finden keine Jobs

Italien hat es in den vergangenen Jahrzehnten versäumt, die notwendigen wirtschaftspolitischen Reformen durchzuführen. Die arbeitsrechtlichen Vorschriften müssen dringend erneuert werden, um jungen Menschen den Eintritt ins Berufsleben zu erleichtern. Veraltete Arbeitsgesetze versetzen Arbeitgeber mit mehr als 15 Angestellten in eine absurde Lage: Festangestellte sind nahezu unkündbar, während die Kosten für Lehrlinge exorbitant hoch und vor allem für Kleinunternehmer nicht tragbar sind. Junge Akademiker finden keine Jobs, unbezahlte Praktika und befriste Arbeitsverträge sind immer noch die Regel. Nepotismus ist weit verbreitet, Beziehungen sind leider oft der einzige Garant für einen festen Job.

Auch ökonomisch sieht es für Italien alles andere als vielversprechend aus. Zwar sind die Renditen auf Staatstitel nach den Spitzenwerten im Jahr 2012 auf ein verträgliches Maß gesunken, dennoch beträgt die Staatsverschuldung 127 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei nahezu 38 Prozent. Nur in Spanien und Griechenland sind noch mehr Jugendliche ohne festen Job. Vergleiche mit diesen Krisenstaaten weisen die von Natur aus stolzen Italiener dennoch vehement zurück. Indessen beläuft sich die Steuerlast für Unternehmen auf fast 44 Prozent. Die Italiener fragen sich empört, warum sie eine der höchsten Abgabenquoten der EU haben und trotzdem keine vernünftigen Sozialleistungen erhalten.

Unter Premierminister Mario Monti hat der italienische Staat so wenig Geld für Investitionen und Forschung ausgegeben wie noch nie. Im Alltag konnten sich die Italiener wenig dafür kaufen, dass seine Technokratenregierung bei den europäischen Partnern äußerst beliebt war. Auch in Deutschland hatten viele den Eindruck, es sei Monti gelungen, endlich die nötige politische Professionalität in das heruntergewirtschaftete Berlusconi-Italien zurückzubringen. Gewiss: Die Übergangsregierung hat überfällige Gesetze wie die Anhebung des Rentenalters auf den Weg gebracht, doch gingen diese Maßnahmen fast ausschließlich zulasten der Geringverdiener, der jungen Leute und Rentner. Die Politikergehälter blieben unangetastet. Das haben die Italiener Monti sehr übel genommen und seine Zentrumspartei bei den Parlamentswahlen abgestraft. In der Konsequenz ist nicht nur die soziale Unzufriedenheit gewachsen, sondern die Abneigung gegenüber „der Kaste“ gleich mit.

Was Italien angesichts dieser vielschichtigen Krise braucht, ist ein politisches und gesellschaftliches „Umdenken“. Aber warum gelingt der Wandel trotz wechselnder politischer Mehrheitsverhältnisse nicht? Dafür gibt es vor allem drei Gründe:

Erstens wird die italienische Politik seit Jahrzehnten von den gleichen Protagonisten dominiert. Neben Berlusconis PDL ist auch die sozialdemokratische PD voller „Dinosaurier“, wie die Italiener sie nennen. Einer der prominentesten Vertreter dieser Spezies, der Senator auf Lebenszeit Giulio Andreotti, ist kürzlich verstorben. Andreotti war für die Democrazia Cristiana (DC) sage und schreibe siebenmal Ministerpräsident. Ab und an werden die Karten neu gemischt, aber die Entscheidungsträger bleiben dieselben und das nicht nur auf oberster Ebene, sondern im gesamten politischen Apparat.

Ein Beweis dafür sind satirische TV-Sketche aus den neunziger Jahren: Viele von ihnen könnten von heute sein. Die Folge ist ein Dickicht an Verflechtungen und sich daraus bedingenden beruflichen und privaten Abhängigkeiten, die auch vor Parteigrenzen keinen Halt machen. Vergleichsweise wenig Beachtung fand in Deutschland die Tatsache, dass der Onkel des Regierungschefs, Gianni Letta, Abgeordneter der PDL und einer der ältesten Parteifreunde Berlusconis ist. Scheinbare „Zufälle“ wie diese empören viele Italiener, da Berlusconi im Hintergrund anscheinend nach wie vor die Strippen zieht.

Hinzu kommt, dass die italienischen Parlamentarier in der EU zu den Topverdienern gehören. Skandale sind in Italien keine Ausnahme, sondern sozusagen systemimmanent. Jüngstes Beispiel: Dem Noch-Bürgermeister von Rom, Gianni Alemanno (PDL), wird vorgeworfen, er habe rund 2 000 Verwandte und Bekannte mit Posten in der römischen Verwaltung versorgt. Über deutsche Affären wie die des ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff zucken die Italiener nur müde mit den Achseln. In Italien wäre wegen vergleichbarer Vorwürfe niemand zurückgetreten. Eine zunehmende Entfremdung zwischen Politikern und Bürgern ist zur bitteren Normalität geworden. Die Mehrheit hat sich daran gewöhnt, das politische Establishment als gescheitert zu betrachten.

Man ist stolz darauf, Regeln zu umgehen

Zweitens beschränkt sich das strukturelle Problem nicht auf die politische Klasse, sondern es ist in weiten Teilen der Gesellschaft zu beobachten. Ein weit verbreitetes Motto der Italiener ist Sinnbild hierfür: das arrangarsi. Man ist stolz darauf, Regeln zu umgehen und sich einen persönlichen Vorteil zu verschaffen. Das beginnt beim Schwarzfahren und endet bei der Begünstigung von Freunden bei der Besetzung politischer Posten. Die Gelassenheit, die man derartigem Verhalten im Kleinen einräumt, wird zum Problem, wenn opportunistisches Benehmen in der Gesellschaft überwiegt. Dieses Verhalten mag auch mentalitätsbedingt sein, aber es wird vom italienischen Staat mit seinen bürokratischen Hürden geradezu heraufbeschworen.

Das italienische Steuersystem ist so kompliziert, dass der Beruf des Steuerberaters seit jeher zu den gefragtesten überhaupt zählt. Für einen normalen Postbesuch sollte man am besten den ganzen Vormittag einplanen. Und um in Rom legal ein Fahrrad zu leihen, muss man einen Pass und eine Sozialversicherungsnummer vorweisen sowie in der Lage sein, einen mehrseitigen Vertrag auf Italienisch zu unterschreiben. Kein Wunder, dass Dienstleistungen wie diese flächendeckend „schwarz“ und ohne lästigen Papierkram angeboten werden.

Drittens ist das politische und legislative Regelwerk Italiens zutiefst reformbedürftig. Dazu gehört zunächst einmal die Änderung des aktuellen Wahlgesetzes, das mit seiner Mehrheitsprämie den Wählerwillen verzerrt und Mehrheitsbündnisse erschwert. Anders als nach dem deutschen Wahlgesetz ist es den italienischen Wählern nicht möglich, Direktkandidaten zu wählen. Nicht ohne Grund wird das Gesetz von den Italienern als „Schweinerei” bezeichnet. Die neue Regierung arbeitet mit Hochdruck an einer Reform; zusätzlich wurde eine Kommission für Verfassungsreformen eingerichtet. Das aktuelle Wahlgesetz – im Jahr 2005 unter Silvio Berlusconi verabschiedet – veranschaulicht, wie politische „Spielregeln“ häufig von einzelnen Parteien instrumentalisiert werden, um vorhandene Missstände zu verschärfen und Reformen zu erschweren. Ferner muss endlich eine solide gesetzliche Grundlage für die Trennung zwischen Politik und Medien geschaffen werden. So werden in Italien alle Printmedien staatlich subventioniert. Das fehlende Vertrauen in die Unabhängigkeit der Berichterstattung schlägt sich nicht zuletzt darin nieder, dass es nirgendwo sonst in Europa so wenige Zeitungsabonnements gibt wie in Italien.

Kaum Problembewusstsein, wenig Sinneswandel

Die italienische Parteienlandschaft war im vergangenen Jahrzehnt von starkem Lagerdenken geprägt. Der durch politische Grabenkämpfe und ungewöhnlich häufige Regierungswechsel entstandene Reformstau wäre für jede Regierung selbst dann eine Herausforderung, wenn Italien wirtschaftlich florieren würde. Trotz dieser ernsten Lage und der tiefen Vertrauenskrise, sind das Problembewusstsein und die Bereitschaft zum erforderlichen Sinneswandel im politischen Establishment erschreckend gering ausgeprägt. Doch dieser Sinneswandel wird nur handlungsfähigen und entschlossenen Politikern gelingen. Vor diesem Hintergrund ist dem Land zu wünschen, dass die neue Regierung größere Stabilität erlangt, als ihr die meisten Italiener zutrauen. Einige Bürger kommentierten die mangelnde Ernsthaftigkeit der Politiker zugespitzt mit dem Satz, in Italien müsse das Fass immer erst überlaufen, bevor sich etwas grundlegend ändere. Bis dahin tun die Italiener das, was sie am besten können: si arrangiano.

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