Sind wir auf dem Weg ins Schwellenland?
In den kommenden dreißig Jahren wird die Bevölkerung Deutschlands um mindestens zwölf Millionen abnehmen. Dies entspricht der heutigen Einwohnerzahl der zwölf größten deutschen Städte zusammen. Die gesellschaftlichen Folgen dieser demografischen Entwicklung bezeichnen Fachleute zu Recht als „tektonische Veränderungen“. Zwei soziale Tatbestände kommen dabei zum Tragen: die stetige Alterung der Bevölkerung aufgrund von medizinischem Fortschritt und Wohlstandsgewinnen, dazu rückläufige Kinderzahlen seit Ende der sechziger Jahre. Ein riesiger Fachkräftemangel zeichnet sich ab. Er wird sich in dem Maße beschleunigen, wie die Babyboomer-Generation in den kommenden Jahren ins Rentenalter kommt. Als besonders problematisch wird sich das prognostizierte Defizit an Fachpersonal in den Gesundheits-, Sozial- und Pflegeberufen darstellen – bei einem gleichzeitig beträchtlichen Überangebot an unqualifizierten Arbeitskräften.
Der Mythos vom Abstieg der Mittelschicht
Angesichts dieser Entwicklung besteht in Deutschland auf verschiedenen Gebieten enormer Handlungsbedarf. Zum einen in der Zuwanderungspolitik: Wichtig wäre es, einen produktiven Wettbewerb um Konzepte und Strategien für die Integration verschiedener ethnischer Gruppen in Gang zu setzen und die Anerkennung der im Herkunftsland erworbenen beruflichen Qualifikationen von Einwanderern zu beschleunigen. Stattdessen ereiferten sich führende Repräsentanten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik viel zu lange über die fragwürdigen Thesen von Thilo Sarrazin, die ganz offensichtlich anschlussfähig waren an „gefühlte“ Abstiegsängste der Mittelschichten. Diese Zukunftsängste (die medienwirksam beispielsweise am Thema „Generation Praktikum“ festgemacht worden sind) dürften sich aufgrund des absehbaren Fachkräftemangels in naher Zukunft schnell wieder verflüchtigen. Wie eine aktuelle Längsschnittuntersuchung aufzeigt, entsprachen die „gefühlten“ Abstiegsängste von Angehörigen der Mittelschicht auch schon in den vergangenen zwei Dekaden nicht der sozialen Wirklichkeit. Der soziale Abstieg aus gesicherten Wohlstandslagen kommt hierzulande so gut wie überhaupt nicht vor. Die obere Hälfte der Bevölkerung war innerhalb des Beobachtungszeitraums zwischen 1994 bis 2009 vom Anstieg der Armut nicht betroffen. „Nicht einmal temporär oder in einzelnen Lebensbereichen nehmen hier Anzeichen und Erfahrungen der Armut oder Prekarität zu“, schreibt der Autor Olaf Groh-Samberg. Somit entspricht die Aussage, Armut könne heute alle treffen, nicht der Realität.
Qualifizierte Frauen verschieben Kinderwünsche
Zum anderen existiert großer Handlungsbedarf in der Gleichstellungspolitik: Obwohl Frauen in Deutschland heute ein überaus hohes Bildungs- und Qualifikationsniveau aufweisen und in den kommenden Jahren auf dem Arbeitsmarkt dringend benötigt werden, setzt die Politik nach wie vor Fehlanreize: Ehegattensplitting, Mitversicherung von Ehefrauen in der gesetzlichen Krankenversicherung, Ausweitung von geringfügiger, nicht versicherungspflichtiger Beschäftigung. Nicht selten ist für verheiratete Frauen mit Kindern die Hausfrauenrolle, vielleicht kombiniert mit einem 400 Euro-Job, attraktiver als der Aufbau einer eigenständigen beruflichen Existenz.
Frauen im Berufsleben wiederum müssen um ihre Erwerbsperspektiven fürchten, wenn sie sich für ein Kind entscheiden. Die Folge: Gerade sehr gut qualifizierte Frauen (und Männer) verschieben ihre Kinderwünsche und bleiben häufiger als andere Bildungsgruppen zeitlebens kinderlos oder bekommen allenfalls ein Kind. Daran haben bisher weder die Einführung des Elterngeldes noch die parteienübergreifende Verständigung auf den Ausbau der Betreuung von Kindern unter drei Jahren substanziell etwas geändert. Im Jahr 2009 lag Deutschland mit einer Geburtenzahl pro Frau von 1,36 im OECD-Vergleich auf den hinteren Plätzen. Hinzu kommt: Die Alterskohorten, die überhaupt als neue Eltern in Frage kommen, sind in den vergangenen Jahrzehnten bereits erheblich geschrumpft.
Auch die Bildungs- und Armutspolitik muss sich ändern. Nach wie vor reagiert die Politik völlig unzureichend darauf, dass in Deutschland immer mehr Kinder aus Einwandererfamilien und von deutschen Modernisierungsverlierern in verfestigter Armut oder prekären Lebenslagen aufwachsen. Der Förder- und Bildungsbedarf dieser Kinder ist weder mit der Anhebung der Hartz IV-Regelsätze noch durch das Kinderbildungspaket auch nur annähernd gedeckt worden. Damit nimmt die Gesellschaft in Kauf, dass diese Menschen als Erwachsene nicht oder kaum in der Lage sein werden, ihren Unterhalt selbst zu erwirtschaften. Und das, obwohl die Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften ständig wächst. Es ist eine schwere Hypothek, wenn in Deutschland inzwischen bereits fast 1,5 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 29 Jahren keine abgeschlossene Berufsausbildung haben und sich in keiner Qualifizierungsmaßnahme befinden. Ihre beruflichen Chancen in einer wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft sind extrem gering.
Auffällig ist zudem, dass auch beim Thema Berufsausbildung die soziale Herkunft und der berufliche Status der Eltern maßgeblich über Erfolg oder Misserfolg entscheiden. So hat bei rund 60 Prozent der ungelernten jungen Frauen und Männer zumindest ein Elternteil keinen Schul- oder Berufsabschluss. Zwar nehmen überdurchschnittlich viele Jugendliche, deren Eltern gering qualifiziert sind, an unterstützenden Maßnahmen beim Übergang von der Schule in die Berufsausbildung teil. Doch der Erfolg dieser Maßnahmen ist eher bescheiden. Offensichtlich setzen die Ausbildungsinitiativen biografisch viel zu spät an, zumindest reichen sie nachweislich nicht aus, um die Weitergabe von Bildungsarmut von einer Generation zur nächsten zu verhindern. Obwohl im vorigen Jahr viele Ausbildungsbetriebe händeringend nach Auszubildenden gesucht haben, brach die Zahl der Lehrverträge 2010 mit einem Minus von 9,7 Prozent in den neuen Bundesländern (inklusive Berlin) geradezu ein. Im Westen sank die Zahl der Auszubildenden um 2,3 Prozent.
Neugier und Motivation von Anfang an
Diese Entwicklung hat die Industrie- und Handelskammer Erfurt zu einem spektakulären Vorschlag bewogen: Wer einen Ausbildungsvertrag unterschreibt, dem winken ein iPhone, 500 Euro Startgeld, die Übernahme der Fahrtkosten zwischen Wohn- und Ausbildungsort sowie Nachhilfe in Deutsch, Mathematik oder gutem Benehmen. Dies mag zwar eine Form von später, ausgleichender Bildungsgerechtigkeit sein, doch löst dieser Ansatz mitnichten die strukturellen Probleme. Schon in der frühen Kindheit werden Neugier und intrinsische Motivation geweckt, sprachliche und musische Fertigkeiten sowie motorisches Geschick eingeübt. Werden diese Anlagen zu wenig stimuliert, verkümmern sie. Wenn die Elternhäuser entsprechende Anregungen nicht oder nur unzureichend geben, ist verstärkte öffentliche Verantwortung für das kindliche Aufwachsen gefordert, ohne deshalb elterliche Aufgaben und deren Einbindung geringzuschätzen. Investitionen in frühe Hilfen, Frühförderung und frühkindliche Bildung ersparen der Gesellschaft Folgekosten in erheblicher Größenordnung.
In Deutschland ist auf kommunaler Ebene seit Jahren eine soziale Entmischung von Stadtteilen zu beobachten, eine Tatsache, die sich auch im Anstieg von Wohnquartieren mit überproportional vielen Multiproblemfamilien niederschlägt. Solche sozialen Räume wirken ihrerseits sozial strukturierend. Sie generieren „spezifische Kontexteffekte“, welche die Bildungs- und Lebenschancen der dort lebenden Kinder verschlechtern: Wenig anregungsreiche Orte, an denen sich Bewohner in armen und prekären Lebenslagen konzentrieren, erzeugen selbst soziale Exklusion, wenn sie aus den städtischen Funktionszusammenhängen herausfallen oder nicht mehr anschlussfähig sind beziehungsweise von der übrigen Stadtgesellschaft so eingeschätzt werden. Auf diese Weise verstärkt sich herkunftsbedingte Deprivation: Die sozialen Nahräume entfalten als Sozialisationsorte keine kompensatorischen und schützenden Wirkungen, sondern bringen zusätzliche Formen sozialer Ausgrenzung von armen Kindern und ihren Eltern hervor. Das kann beispielsweise der Fall sein, wenn in einem Quartier keine Träger relevanter Informationen und sozialer Netzwerke mehr leben und dadurch die Zugänge der Bewohner zu zentralen gesellschaftlichen Bereichen wie dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt abgeschnitten oder zumindest stark eingeschränkt sind.
Fehlentscheidung gegen die „Soziale Stadt“
Tatsache ist: Die sozialen Milieus in vernachlässigten und verarmten Problemquartieren bilden einen kontextuellen Sozialisations- und Erfahrungsraum für benachteiligte Kinder und Jugendliche. In solchen Sozialräumen und Wohnquartieren werden eigene Kulturtechniken des Überlebens und damit milieuspezifische Kompetenzen erworben, um den Alltag unter schwierigen Bedingungen zu bewältigen („culture of poverty“). Hingegen bieten diese Sozialisations- und Erfahrungsräume – wenn sie keine Aufwertung erfahren – wenig, um sich die Fähigkeiten und das Know-how anzueignen, das für eine „normale Lebensführung“ in der Mitte einer Stadtgesellschaft erforderlich ist.
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen ist es eine dramatische und folgenreiche Fehlentscheidung, dass die aktuelle Regierungskoalition das seit 1999 bestehende Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ nur noch in Form von „baulich-investiven“ Maßnahmen weiterführen will. Diese Entscheidung widerspricht den fundierten Ergebnissen der Evaluation durch renommierte Fachleute aus der Stadtsoziologie und Armutsforschung. Seit Jahren wird gefordert, partizipative Ansätze mit den Bewohnern (Familien, Einwanderer, Jugendlichen et cetera) innerhalb der Programmgebiete als Bestandteil einer integrierten Stadtentwicklung zu stärken. War das Budget für solche Projektvorhaben schon in der Vergangenheit vergleichsweise bescheiden, sind die Mittel nun gänzlich gestrichen worden. Es ist wenig sinnvoll, nur in die Bausanierung („Hardware“) dieser städtischen Problemviertel zu investieren. Gleichzeitig müssen diese Programmgebiete aufgewertet werden, indem die Kommunikation und die Eigeninitiative der ortsansässigen Menschen angeregt werden, die ihren Alltag unter schwierigen Bedingungen bewältigen müssen.
Dringend nötig wäre ein Masterplan
Um sozial benachteiligten Kindern Chancen- und Bildungsgerechtigkeit zu bieten, aber auch mit Blick auf die Sicherung der globalen Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands, wäre ein bundesweiter Masterplan zur allseitigen Förderung armer Kinder erforderlich. Zwischen 2006 und 2025 wird die Zahl der 19- bis 24-Jährigen deutlich sinken – um 14 Prozent in Hamburg, Bayern und Hessen, um 27 Prozent in Berlin und um
48 Prozent in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern. Es liegt im ureigenen Interesse des Wirtschaftsstandorts Deutschland, erzielte Exportgewinne auch in Strategien und Maßnahmen zur Verringerung prekärer Wohlstands- und Armutslagen von Kindern und erschöpften Familien zu investieren. Sonst besteht in der Tat die Gefahr, dass sich Deutschland „zum ersten westlichen Schwellenland“ entwickelt, wie es kürzlich der Leiter der Forschungsstelle des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Rudolf Martens prognostizierte. Das Argument, dass „im Interesse unserer Kinder und Kindeskinder“ die öffentlichen Haushalte „ohne Wenn und Aber“ auf einen rigorosen Sparkurs festgelegt werden müssten, erweist sich, zumindest was den Bildungsbereich angeht, als eine fatale Strategie. «