So machen es die Schweizer
In seinem jüngsten Gutachten hat der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen festgestellt, "dass Deutschland trotz seines überdurchschnittlich hohen Ausgabenniveaus im Hinblick auf wichtige gesundheitliche Ergebnisparameter wie Lebenserwartung und verlorene Lebensjahre unter vergleichbaren Industrienationen nur eine Mittelstellung einnimmt". Damit gibt der Rat der Meinung Ausdruck, dass das Verhältnis von Ertrag und Aufwand im deutschen Gesundheitswesen ungünstig ist.
Die normative Basis für eine Beurteilung der Gesundheitsmärkte ist - im Verständnis des Ökonomen - die Sicht der Konsumenten medizinischer Leistungen. Diese Sicht kommt im deutschen Gesundheitssystem kaum zur Geltung. Die Marktordnung ist hier stark korporatistisch geprägt und orientiert sich an wirtschaftspolitischen Vorstellungen des vergangenen Jahrhunderts. Entscheidungen werden nicht dezentral gefällt, stattdessen verhandeln Repräsentanten der Ärzteschaft, der Krankenhäuser, der Pharmaindustrie und der Krankenhäuser auf sektorspezifischen Konferenzen zentral.
Ganz anders das Gesundheitssystem in der Schweiz. Besonders das Krankenversicherungsgesetz (KVG) atmet dort den liberalen Geist des 19. Jahrhunderts. Dieser Beitrag charakterisiert, pointiert unter fünf Gesichtspunkten, die wichtigsten Elemente des Schweizer Krankenversicherungssystems - durchaus in pädagogischer Absicht.
Wer sich nicht meldet, wird zugeordnet
Erstens: Versicherungspflicht statt Pflichtversicherung. Nachdem es früher keine Versicherungspflicht gab, hat die Schweiz 1996 mit der Revision des KVG das Obligatorium eingeführt. Der Versicherungspflicht unterliegen alle Personen mit Wohnsitz in der Schweiz. Das Versicherungsverhältnis entsteht nicht wie in Deutschland von Gesetzes wegen. Vielmehr müssen sich versicherungspflichtige Personen innerhalb von drei Monten versichern, wenn sie ihren Wohnsitz im Lande genommen haben. Wer der Versicherungspflicht nicht nachkommt, wird von der zuständigen Behörde einem Versicherer zugeordnet.
Die Versicherten sind in der Wahl des Versicherers völlig frei. Auf der Seite der Versicherer gilt allerdings Kontrahierungszwang: Sie müssen jede Person aufnehmen, die einen Vertrag im Rahmen der sozialen Krankenversicherung abschließen will. Die Versicherten können unter Einhaltung einer dreimonatigen Kündigungsfrist die Versicherung zweimal im Jahr, bei Änderung der Prämie gar unter Einhaltung einer einmonatigen Kündigungsfrist wechseln.
Bismarck zahlte vor allem Krankengeld
In Deutschland hat die gesetzliche Pflichtversicherung historische Gründe: Zu Bismarcks Zeiten waren rund 80 Prozent der Ausgaben der Krankenversicherung Leistungen für Krankengeld. Die Krankenversicherung sicherte das Einkommen der Arbeiter und ihrer Familien im Krankheitsfall. Die Verbindung der Krankenversicherung mit dem Arbeitsvertrag und der Beiträge mit dem Lohneinkommen folgte versicherungsökonomischen Grundsätzen, da das Schadenrisiko direkt proportional zum Lohneinkommen war. Heute dagegen beträgt der An-teil des Krankengeldes gerade noch fünf Prozent. Der Zusammenhang zwischen Beiträgen und Leistungen ist verloren gegangen - die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung sind heute faktisch Lohnsteuern.
Zweitens: Kopfprämien statt Lohnbeiträge. Die Schweiz hat die Krankenversicherung immer über Kopfprämien finanziert. Bis 1986 entsprach die Finanzierung jener der deutschen Privaten Krankenversicherung. Die Prämien stiegen mit dem Alter der Versicherten an, jedoch wurde in jungen Jahren Kapital angespart, sodass der Prämienanstieg geringer ausfiel als die mit dem Alter zunehmenden Ausgaben. Damit waren aber Probleme beim Kassenwechsel verbunden, wie sie in Deutschland hinlänglich bekannt sind. Das neue Gesetz führte eine Umlage mit einheitlichen Kopfprämien ein. Diese Prämie ist unabhängig von Alter, Geschlecht und Einkommen der Versicherten. Um Familien zu entlasten, schreibt das Gesetz allerdings vor, dass die Versicherer die Prämien für Kinder (bis 18 Jahre) tiefer ansetzen müssen als die Erwachsenenprämie. Für Versicherte bis 25 Jahre, die in der Ausbildung sind, dürfen die Versicherer auf gleiche Weise verfahren. Die Höhe der Rabatte liegt im Ermessen des Versicherers. Im Durchschnitt beträgt die Kinderprämie zwischen 20 und 30 Prozent der Erwachsenenprämie, jene für Jugendliche in der Ausbildung 60 bis 70 Prozent.
Die vorgeschriebene einheitliche Prämie erfordert wie in Deutschland einen Risikostrukturausgleich zwischen den Versicherern. Alter und Geschlecht werden als Risikofaktoren berücksichtigt. Da Kopfprämien erhoben werden, erübrigt sich auf der Einnahmeseite im Gegensatz zu Deutschland ein Risikostrukturausgleich.
Das Gesetz von 1908 gilt noch immer
Anders als in den meisten Industrieländern sind in der Schweiz die Prämien in der Krankenversicherung im Prinzip unabhängig vom Einkommen der Versicherten. Für einkommensschwache Personen gibt es aber eine Prämienverbilligung, an der sich der Bund und die Kantone beteiligen. Etwa ein Viertel der Versicherten erhält Transfers zur Prämienverbilligung.
Drittens: Aufteilung in Grund- und Zusatzversicherung. In der Schweizerischen Krankenversicherung wird zwischen einem sozialen und einem privaten Teil unterschieden. Die soziale Krankenversicherung gewährt Leistungen im Falle von Krankheit, Unfall (soweit dafür keine Unfallversicherung aufkommt) und Mutterschaft für ein auf dem Verordnungswege festgelegtes Leistungspaket. Das Bundesgesetz vom 2. April 1908 (!) über den Versicherungsvertrag regelt den privaten Teil. Es ist die gesetzliche Grundlage für sämtliche von Krankenkassen oder Privatversicherern angebotenen Zusatzversicherungen, welche Leistungen der Krankenpflege umfassen, die nicht durch die obligatorische Grundversicherung gedeckt sind. Der Leistungskatalog der Grundversicherung deckt die überwiegende Mehrzahl der medizinischen Leistungen ab. Weitgehend ausgenommen sind zahnmedizinische Leistungen; die Leistungen für Brillen und Kuraufenthalte sind beschränkt.
Der Wettbewerbsdruck ist hoch
Die Grundversicherung kann sowohl durch anerkannte Krankenkassen als auch durch private Versicherer betrieben werden, die dem Versicherungsaufsichtsrecht unterstehen. Im Bereich der Zusatzversicherungen sind die Krankenversicherer bezüglich der Ausgestaltung der Leistungen und der Prämienstrukturen weitgehend frei. Zusatzversicherungen werden von den Krankenkassen ebenfalls angeboten und stoßen auf rege Nachfrage: Neun von zehn Versicherte haben bei ihrer Krankenkasse einen Zusatzvertrag.
Die wechselseitige Abschottung der Märkte für private und gesetzliche Krankenversicherungen wie in Deutschland gibt es in der Schweiz nicht. Dies bedeutet besonders für private Versicherer einen hohen Wettbewerbsdruck.
Viertens: Finanzierung aus einer Hand. Anders als in Deutschland existieren in der Schweiz keine sektoriell getrennten Budgets. Die Liquidierung der Leistungserbringer erfolgt ausschließlich über die Krankenkassen. Eine Ausnahme bildet der stationäre Sektor, in dem die dualistische Finanzierung trotz mehrerer Anläufe noch nicht überwunden ist. Hier übernehmen die öffentlichen Hände die Investitionskosten und teilweise auch einen Teil der Betriebskosten.
Finanzierung aus einer Hand
Die Finanzierung aus einer Hand verhindert die Nachteile des deutschen Systems. In Deutschland zahlen die Kassen Kopfpauschalen an die Kassenärztlichen Vereinigungen mit befreiender Wirkung. Die vertragsärztliche Vergütung ist damit nicht in der Kontrolle der Kassen. Dies ist etwa im Zusammenhang mit der integrierten Versorgung ein großes Problem. Wenn durch eine bessere allgemeinärztliche Versorgung die Einweisungen ins Krankenhaus reduziert werden, fallen die Ersparnisse nicht dort an, wo der Aufwand erfolgt. Entsprechend gering sind in Deutschland die Anreize, in integrierte Versorgung zu investieren.
Sachleistungen gibt es im Schweizer System nicht. Vielmehr gilt das Kostenerstattungsprinzip. Der Versicherte ist Schuldner gegenüber dem Leistungserbringer. Der Versicherer erstattet dem Versicherten unter Berücksichtigung der Abzüge die Rechnung. Im stationären Bereich geht die Rechnung direkt an die Krankenkasse. In diesem Fall stellt die Kasse dem Versicherten seine Kostenbeteiligung in Rechnung. Das Kostenerstattungsprinzip führt zu einer vergleichsweise hohen Transparenz. Als Schuldner sehen sich die Versicherten die Rechnungen genau an und es kommt regelmäßig zu Beanstandungen.
Fünftens: Kostenbeteiligung der Patienten und Managed Care. In der Grundversicherung gilt ein prozentualer Selbstbehalt von zehn Prozent sowie ein absoluter Selbstbehalt (Franchise) von 230 Franken an den Kosten der Behandlung bei Krankheit und Unfall. Für Leistungen im Falle der Mutterschaft darf keine Kostenbeteiligung erhoben werden. Die maximale Kostenbeteiligung für Erwachsene beträgt damit 830 Franken jährlich. Kinder bezahlen keine Franchise, nur einen bei ihnen auf 300 Franken pro Jahr begrenzten Selbstbehalt von zehn Prozent.
Rabatte und Alternativmodelle
Diese Franchise- und Selbstbehaltregelungen sind nur als Minima zu verstehen. Es gibt die Möglichkeit, den absoluten Selbstbehalt bis auf 1500 Franken pro Jahr heraufzusetzen und einen Prämienrabatt bis zu 40 Prozent zu erhalten. Weiter besteht die Option zum Bonusvertrag, wie man ihn aus der Kraftfahrzeug-Versicherung kennt. Aus verschiedenen Gründen (etwa eingeschränkte Kündigungsmöglichkeit) wird dieser Vertrag im Gegensatz zu den wählbaren Franchisen selten nachgefragt.
Die Versicherten in der Schweiz haben die Möglichkeit, mit ihrem Versicherer bestimmte alternative Versicherungsmodelle zu vereinbaren, die zugunsten einer Minderung der Prämie ihr Recht auf freie Wahl der Leistungserbringer einschränken. Der Versicherer übernimmt in diesem Fall nur die Kosten von solchen Leistungen, die von Leistungsanbietern erbracht oder angeordnet werden, die er benennt. Ausgenommen sind Leistungen im Notfall, die in jedem Fall von der Versicherung getragen werden. Unabhängig von der Einschränkung der Leistungserbringer sind die gesetzlichen Pflichtleistungen aber immer voll versichert. Rund ein Sechstel der Versicherten in der Schweiz hat sich für eines der neuen Versicherungsmodelle entschieden.
Die neuen Modelle betreffen vor allem die HMO-Praxen und Hausarztnetze. Eine HMO ist eine Praxisgemeinschaft von sieben bis acht Ärzten (Allgemeinpraktiker, Gynäkologin, ergänzt etwa um einen Chiropraktiker und eine Ernährungsspezialistin), die eine Versichertengruppe von rund 5 000 bis 10 000 Menschen betreuen. Die Versicherten verpflichten sich, im Krankheitsfall nur die HMO aufzusuchen. Überweisungen zu Fachärzten oder in den stationären Bereich nehmen die HMO-Ärzte vor.
Im Hausarztsystem fungiert der Arzt als Gatekeeper, der wie ein HMO-Arzt die Behandlung seiner Patienten überwacht. Der Arzt im Hausarztsystem hat anders als in der HMO auch Patienten mit einem konventionellen Krankenversicherungsvertrag.
Wettbewerb und Regulierung
Fazit: Das Schweizer Krankenversicherungsgesetz ist ein Versuch, soziale Ziele mittels staatlicher Regulierung des Marktes für Krankenversicherungen zu verfolgen, den Wettbewerb zwischen den Versicherungsanbietern jedoch so wenig wie möglich einzuschränken. Der logische nächste Schritt wäre eine Aufhebung des Kontrahierungszwanges zwischen Versicherungen und Leistungserbringern, also ein Ersatz der regionalen Vergütungsverhandlungen durch dezentrale Verträge zwischen einzelnen Versicherern und einzelnen Leistungserbringern.
Die Experimente mit alternativen Vergütungsformen im Rahmen des Systems der HMO und der Hausärzte sind erste Schritte auf diesem Weg. Sie finden inzwischen auch internationale Beachtung finden - jüngst etwa durch die Auszeichnung mit dem Carl-Bertelsmann-Preis 2000. Das Beispiel Schweiz zeigt, dass auch auf vielen Feldern des Gesundheitswesens der Einsatz marktwirtschaftlicher Steuerungsinstrumente einen Effizienzgewinn bringt, ohne dass auf die Verfolgung sozialer Ziele verzichtet werden muss.