Soziale Demokratie ohne Sozialdemokraten?
Die britische Labour Party hat in vergangener Zeit schlechte Wahlergebnisse eingefahren, die Umfragezahlen der SPD sind beklagenswert. Aber an der Misere von Labour sind nicht die Anhänger von Jeremy Corbyn oder Fans von Tony Blair schuld, am Kränkeln der SPD weder späte Gegner der Agenda 2010 noch deren Befürworter. Die Sozialdemokratie steckt weltweit in der Krise: in Griechenland ist sie fast ausgelöscht, in Frankreich versagt sie als Regierungspartei, fast überall ist sie auf dem Rückzug. Nirgendwo befinden sich Sozialdemokraten ideenpolitsch, programmatisch oder organisatorisch auf dem Vormarsch. Die Krise ist nicht zyklisch, sondern existenziell. Sie hat ihre Wurzeln in tiefen kulturellen und technologischen Veränderungen, die für alle sozialdemokratischen Parteien verbrannte Erde hinterlassen. Sofern der Begriff „Sozialdemokratie“ für die Vorstellung steht, dass eine Partei in einer Nation vor allem mithilfe des Staates eine Ordnung herstellen kann, die das Interesse der Arbeitnehmer gegenüber der Kapitalseite begünstigt, dann liegt die Sozialdemokratie als politische Praxis im Sterben. Wie schon der Begriff „Kommunismus“ dürfte die Kategorie der Sozialdemokratie bald nur noch historische Relevanz besitzen.
Das ist paradox. Denn eine soziale und demokratische Welt wird heute dringender benötigt denn je. Ob es um gemeinnützige Tafeln geht oder um Hochwasserkatastrophen – noch nie lag es so klar auf der Hand, dass das Soziale Vorrang vor dem Privaten haben sollte. Überall sind die Menschen auf der Suche nach neuen Antworten und neuen Wegen, die das gemeinsame Leben der Menschheit sowie das Überleben des Planeten ermöglichen könnten. Das demokratische Engagement sprießt, neue Parteien steigen auf, ein ganzer Kosmos neuer Online- und Offline-Bewegungen entsteht. Kurzum, wir wollen auf eine Art leben, die zutiefst sozial und radikal demokratisch ist – aber die Sozialdemokratie als politische Praxis und die Sozialdemokraten als politische Gemeinschaft sind bisher – und vielleicht auf Dauer – nicht willens oder in der Lage, den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden.
Das Ende der sozialdemokratischen Truman Show
Dieser kurze Essay versucht, Aufstieg und Fall der Sozialdemokratie zu erklären. Es soll gezeigt werden, dass Sozialdemokratie eben keinen „Normalfall“ darstellt, der sich wieder einpegeln wird, sobald es sozialdemokratischen Parteien gelingt, mit den richtigen Anführern die richtige Zahl von Mandaten zurück zu gewinnen. Vielmehr war ihr früherer Erfolg ein vorübergehendes Phänomen, das nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund eines ganz bestimmten Zusammenspiels von Kräften möglich wurde. Sodann soll kurz das feindliche Terrain beschrieben werden, das an die Stelle des gutartigen Nachkriegskontexts getreten ist, der die Sozialdemokratie eine zeitlang so mächtig machte. Schließlich werden die vier Herausforderungen umrissen, denen sich Sozialdemokraten stellen müssen, damit sie noch eine Zukunft haben können. Notwendig sind: erstens die Vision einer guten Gesellschaft jenseits des Turbo-Konsums; zweitens die Zähmung des globalisierten Kapitals über Grenzen hinweg; drittens eine Kultur, in der man den Menschen zutraut, ihr „eigenes Ding“ zu machen; schließlich viertens Handlungsmacht und neue Bündnisse für den Wandel.
Eine Art kultureller Referenzpunkt für die existenzielle Herausforderung, vor der Sozialdemokraten heute stehen, ist das Ende des Films The Truman Show. Im Verlauf der Geschichte beginnt Truman Burbank zu vermuten, dass die Welt nicht so ist, wie man es ihn gelehrt hatte. Schließlich sticht er mit einem kleinen Boot in See, um herauszufinden, was tatsächlich hinter dem Horizont liegt. Daraufhin setzen die Produzenten der Show einen künstlichen Sturm in Gang, um Truman in sein sicheres, aber unechtes Leben zurückzuzwingen. Truman jedoch kämpft sich weiter voran, bis er endlich auf die Wand des riesigen Studios stößt, die bis zu diesem Moment sein künstliches Leben umgrenzt hatte. Draußen erwartet ihn eine neue und reale Welt.
Wie Truman müssen Sozialdemokraten den Mut und Ehrgeiz aufbringen, ihre alten Denk- und Arbeitsweisen hinter sich zu lassen, um eine neue Zukunft gestalten zu können. Andernfalls werden sie stetigen Niedergang erleben und schließlich in Vergessenheit geraten. Treue Stammwähler und alte Wahlgewohnheiten werden einige sozialdemokratische Parteien noch eine Weile über Wasser halten. Wo die politische Rechte versagt, können sie sich sogar ab und zu noch in Regierungsämtern wiederfinden – aber ganz sicher nicht mit genügend Macht ausgestattet, um den Neoliberalismus in Schach zu halten, geschweige denn die Gesellschaft grundlegend zu verändern. Diese Episoden werden den langfristigen Abstieg der Sozialdemokratie in die Bedeutungslosigkeit jedoch nicht aufhalten.
Nicht unfähige Anführer sind das Problem, sondern grundlegend neue Verhältnisse
Das Hauptargument lautet also: Wir wollen und brauchen eine Welt, die zutiefst sozial und radikal demokratisch ist – doch die Praxis der Sozialdemokraten sieht anders aus. Ihr Etatismus und Tribalismus, ihr Hang zu Steuerung und Kontrolle, ihr Beharren auf Wachstum und ihre fehlende Bereitschaft, neue globale Institutionen zu errichten – dies alles steht im Widerspruch zu einem Zeitgeist, der nach Pluralismus und Komplexität, nach lokalen Lösungen und der guten Gesellschaft verlangt. Diese gute Gesellschaft verlangt mehr Gleichheit und den Abschied vom endlosen Konsum unserer Zeit. Heute ist die Sozialdemokratie als politische Praxis der Herausforderung schlicht nicht gewachsen, eine sozialdemokratische Welt für das 21. Jahrhundert zu schaffen. Können wir aber eine soziale Demokratie ohne Sozialdemokraten erlangen? Wird es vielleicht gar nicht anders gehen?
Sozialdemokratische Parteien gründen überall auf den nationalen und industriellen Kräften des vergangenen Jahrhunderts, die inzwischen von globalen und postindustriellen Kräften ersetzt worden sind, welche in vollständigem Gegensatz zur Sozialdemokratie stehen. Die Sozialdemokratie ist nicht etwa deshalb auf dem Rückzug, weil ihre Anführer so unfähig wären oder die Medien so ungnädig. Vielmehr sind die materiellen und kulturellen Bedingungen, die sie zu ihrer Blütezeit in der Mitte des 20. Jahrhunderts genossen, durch Kräfte und kulturelle Verhältnisse ersetzt worden, die ihr politisches Glaubensbekenntnis geradezu mit den Wurzeln ausreißen.
Im Jahr 1979 schrieb der marxistische Historiker Eric Hobsbawm seinen berühmten Aufsatz „The Forward March of Labour Halted“. Darin zeigte Hobsbawm, dass die arbeiterliche Basis der Sozialdemokratie, von der lange vermutet worden war, sie würde weiter wachsen und eines Tages eine Art universelle Klasse darstellen, bereits seit 1945 zu schrumpfen begonnen hatte. Gerade als die Sozialdemokratie den Gipfel ihres Erfolgs erreichte, begannen dessen Fundamente bereits zu erodieren.
Die Arbeiterklasse hatte der Sozialdemokratie in kultureller wie in organisatorischer Hinsicht ihr Gewicht verliehen. Sie stand für geteilte industrielle Erfahrungen, für gemeinsame Milieus und Freizeitinteressen. In marxistischen Begriffen bildete sie eine Klasse „an sich“ und „für sich“: Sie war sich über ihre eigenen Umstände und Bedürfnisse im Klaren. Diese Klasse industrieller Arbeiter, die überwiegend in fordistisch organisierten Fabriken tätig waren, in denen jeder seinen Platz hatte, stattete die Sozialdemokratie mit Wählern und Einnahmen aus, zugleich aber auch mit einem bürokratischen und technokratischen Staatsverständnis. Soziale Demokratie, das bedeutete weiße Kittel und technokratisches Gesellschaftsmanagement. Lenin hatte den Kommunismus als „Sowjetmacht plus Elektrifizierung“ definiert; in ähnlicher Weise bestand die Sozialdemokratie aus „Arbeiterklasse plus Bürokratie und Technologie“.
Dieses so genannte Goldene Zeitalter der Sozialdemokraten dauerte etwa von 1945 bis 1975. Ermöglicht wurde es auch durch seine Vorgeschichte in den dreißiger und vierziger Jahren, nämlich die Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise und des anschließenden Krieges. Niemand wünschte sich 1945 das Elend der dreißiger Jahre zurück. Und jedenfalls für Großbritannien gilt, dass die Kriegsanstrengung unter dem Motto „We’re all in it together“ demonstriert hatte, zu welch großen Leistungen eine tatsächlich solidarische Gesellschaft fähig ist. So wurde das Goldene Zeitalter eingeläutet.
Hinzu kam die Bedrohung der Sowjetunion. Heute wird die globale Politik zwischen konkurrierenden Formen des Kapitalismus und des Glaubens ausgefochten. Aber in den prägenden Jahren des Goldenen Zeitalters existierte mit dem Kommunismus tatsächlich eine lebendige und expandierende Alternative zum Kapitalismus. Inzwischen ist es fast unmöglich, sich vorzustellen, wie sehr die Wirkung des real existierenden Sozialismus in der Nachkriegszeit die Kräfteverhältnisse zugunsten der Arbeit und zulasten des Kapitals verschob. Als die Soldaten nach Hause kamen, erfasste die Kapitalbesitzer die panische Angst, auch der Westen könnte von einer Revolution erfasst werden. Während der gesamten sechziger Jahre herrschte der Eindruck, die sowjetische Planwirtschaft entwickele sich produktiver als die freie Marktwirtschaft und werde diese überholen. Die Nachkriegsordnung im Westen Europas war damit nicht zuletzt eine Folge der Existenz der Sowjetunion.
Aber dieses günstige Zusammenspiel von Klassen, Regierungsweise und Kaltem Krieg verleitete die Sozialdemokraten zu dem Irrtum, der Kampf mit der Kapitalseite sei vorüber – nicht bloß vorübergehend, sondern endgültig. Man glaubte, eine gemischte Wirtschaft sei dauerhaft etabliert. Als einziges politisches Problem galt die Frage, wie die Erträge des endlosen Wachstums umzuverteilen seien. Darüber hinaus interpretierten Sozialdemokraten die Erfolge der Nachkriegsordnung weitgehend als ihre eigene Leistung, statt sie als Ergebnis eines bestimmten zeitweiligen Arrangements von Klassen, Technologien und globaler Politik zu begreifen. Damit verwechselte sich sozusagen der Surfer mit der Welle.
Der Kontext änderte sich – die Sozialdemokratie aber nicht
Dann änderte sich der Kontext – die Sozialdemokratie aber nicht. Unter der Oberfläche einer vermeintlich dauerhaften Konsensära wurden die Faktoren, die Sozialdemokraten gestärkt und das Goldene Zeitalter ermöglicht hatten, dramatisch untergraben. Auf den Fordismus folgte der Postfordismus. Die industrielle Produktion wurde segmentiert und zunehmend vom Dienstleistungssektor ersetzt. Klassenidentitäten verflüssigten sich, verloren an Selbstverständlichkeit und Prägekraft. In dem Maße, wie Fabriken geschlossen wurden, schwand zugleich die Kraft der Gewerkschaften.
Die Erinnerung an Krieg und Depression trat in den Hintergrund. Die westlichen Gesellschaften stießen an Grenzen ihrer Veränderbarkeit durch den bürokratischen Staat. Und der Kommunismus hatte als vitale Herausforderung des Kapitalismus bereits lange vor 1989 ausgespielt. Aber die Sozialdemokraten agieren weiterhin so, als ob ein neues Goldenes Zeitalter oder zumindest ihre früheren Wahlerfolge noch immer möglich wären – besäße man nur die richtigen Anführer und Konzepte. Beides ist wichtig, aber politische Spitzenleute sind wie Surfer: Sie benötigen eine Welle, um voranzukommen. Die Welle der Sozialdemokratie kam und ging. Die alten Hebel des Staates sind verrostet und nicht mehr mit der Gesellschaft verbunden.
Aber nicht nur das Absterben des sozialdemokratischen Motors ist das Problem. An seiner Stelle sind etliche neue Kraftquellen entstanden, die dem sozialdemokratischen Projekt feindselig gegenüber stehen.
Erstens, während sich Sozialdemokraten noch an den Erfolgen ihrer Nachkriegsordnung erfreuten, wurde der Kapitalismus global – und bösartig. Globalisierung bedeutet, dass nationale Grenzen und damit auch nationale Politiken sowie die Gewerkschaften ihren Biss verloren. Das Kapital siedelte sich nun dort an, wo die Steuern und Gehälter am niedrigsten waren. Das heißt nicht, dass die nationale Ebene heute ganz ohne Einfluss wäre, doch ihre Beschränkungen liegen auf der Hand und wachsen weiter. Ob es um die Steuermoral von Google geht oder um den Klimawandel – die Zukunft der Politik muss global sein. Die Politik der Sozialdemokratie aber ist ausgesprochen national geblieben.
Heute beherrschen die Händler und die Anleihemärkte die Politiker. Diese Trennung der Politik von der Macht setzt den Möglichkeiten dessen, was Sozialdemokraten tun können (selbst wenn sie Wahlen gewinnen), enge Grenzen. Seit François Mitterrand im Jahr 1981 sind sie in der Defensive. Tatsächlich wurde ihre Lage so verzweifelt, dass New Labour sogar den Ausbau der Finanzwirtschaft anheizte, um so neue Einnahmen für die eigenen Ausgabenprogramme zu generieren. Dieser faustische Pakt konnte nur kurzfristig aufgehen – bis die Freiheiten, die den Finanzmärkten zur Maximierung ihrer Gewinne zusätzlich eingeräumt wurden, unweigerlich das gesamte System in die Krise stürzten. Die Folge ist das gegenwärtige Zeitalter der Austerität. Langfristig vergrößert das den Finanzmärkten zugestandene Primat die Lücke zwischen Politik und Konzernen weiter, was die Fähigkeit der Sozialdemokraten zusätzlich untergräbt, jemals wieder mit erheblicher Wirkung zu regieren.
Die Nachfrage nach trotzig national ausgerichteter Politik steigt
Eine andere Folge dieser globalen Verschiebungen ist, dass die Nachfrage nach einer trotzig lokal und national ausgerichteten Politik deutlich steigt. Britische Beispiele hierfür sind die Erfolge der Schottischen Nationalpartei SNP und auch der englischen UKIP. Die emotionale Anziehungskraft dieser Politik ist sehr real und muss in Rechnung gestellt werden – allerdings nicht, indem auch Sozialdemokraten so tun, als könnte die Humanisierung des Kapitals heute allein auf der nationalen und lokalen Ebene gelingen.
Aber das Kapital globalisierte sich nicht nur. Es infizierte sich auch mit dem neoliberalen Virus, einem besonders virulenten Stamm des Kapitalismus, der systematisch alle Alternativen zu seiner Vision vom freien Markt zu beseitigen trachtet. Während Sozialdemokraten weiterhin glaubten und agierten, als wäre die Nachkriegsordnung in Stein gemeißelt, machten sich die Neoliberalen erfolgreich daran, jeden einzelnen Aspekt dieser Ordnung abzuräumen. Vor allem nutzten sie den Staat selbst, um die Orte und Räume zu erodieren, in denen Gemeinwohl und Gemeinsinn Wurzeln schlagen könnten. Die Privatisierung galt nicht nur den alten Industrien, sondern auch unseren Köpfen. Zugespitzt gesagt: Unsere Identität als individualistische Verbraucher wird für ein Leben geformt, in dem wir mit Geld, das wir nicht haben, Dinge kaufen, von denen wir bisher nicht wussten, dass wir sie brauchen, um mit ihnen Menschen zu beeindrucken, die wir nicht kennen.
Dieser Turboverbrauch wiederum hat einen großen Einfluss auf die Umwelt. Heute stehen wir an der Schwelle zu einem außer Kontrolle geratenen Klimawandel, doch Sozialdemokraten haben stets eine Politik des „Mehr“ versprochen: Mehr materieller Wohlstand für „unsere Leute“! Für Sozialdemokraten kann der Flachbildschirm des Arbeiters gar nicht groß genug sein, solange der seines Chefs sogar noch größer ist. Daher besitzen viele Sozialdemokraten kein Gespür für die Grenzen des Wachstums. In jüngster Zeit versuchen sie die Quadratur des Kreises, indem sie von „grünem Wachstum“ reden, aber dies ist ein Feigenblatt, denn unser Planet verträgt schlichtweg nicht mehr Konsum.
Viele Sozialdemokraten lehnen eine antikonsumistische Agenda als Marotte betuchter Mittelschichten ab. Derweil aber zerstört der Klimawandel mit seinen Überschwemmungen, mit Hunger und Luftverschmutzung das Leben der Armen. Gleichzeitig zersetzt eine auf Turboverbrauch gründende Gesellschaft alle sozialen Bindungen der Solidarität und des Mitgefühls, weil sie per Definition egoistisch und wettbewerbsorientiert ist. Der Turbokonsum tötet das Gemeinwohl – und mit ihm auch die Hoffnungen der Sozialdemokraten.
Die Partei als Erntemaschine für Wählerstimmen – so funktioniert es nicht mehr
Schließlich muss es um die vorherrschende Kultur gehen. Das Goldene Zeitalter wurde in einer Ära der Ehrerbietung und des Paternalismus, der Bürokratie und der Hierarchie aufgebaut. Gesellschaft und Leben waren sicherer, aber auch stärker verregelt und eingeschränkt. Auch deshalb sehnten sich seit den sechziger Jahren Menschen danach, befreiter und freiheitlicher sein zu können. Arbeit und Leben sind unvorhersehbar und offener geworden. Heute revolutionieren die digitale Revolution, die sozialen Medien und der Übergang zur vernetzten Gesellschaft unser Sehen, Denken und Handeln. Die Welt ist pluralistisch, komplex, zerstreut und vielfältig geworden.
Aber die Kultur der Sozialdemokratie steckt immer noch im statischen und staatsfixierten Top-down-Schema fest, in einer Mentalität, die klar zwischen Zentrum und Peripherie unterscheidet. Ihr Angebot war – und ist –, dass Menschen eine sozialdemokratische Regierung wählen, damit diese dann Dinge für die Menschen tut, woraufhin dann wiederum die Menschen dankbar sind und ihre Stimmen erneut den Sozialdemokraten geben. Die Partei ist einfach eine Erntemaschine für Wählerstimmen im Zuge einer Politik der endlosen Lieferung. Sozialdemokraten dieser Denkschule können mit anderen progressiven Parteien nicht teilen und diese auch nicht tolerieren, weil solche Parteien der sozialdemokratischen Kontrolle des Staates und damit der sozialdemokratischen Handlungsfähigkeit im Wege stehen.
Aber gegenwärtig wird eine Ära, die durch den linearen Betrieb der Fabrik mit ihrer Ordnung, Struktur und Hierarchie definiert war, abgelöst von einer „Ära Facebook“: Wir nehmen Verbindung auf zu wem wir wollen, wann wir wollen und wie wir wollen. Wir schließen uns mehreren Gruppen gleichzeitig an, und unsere Loyalitäten verflüssigen sich. Dies ist eine Welt riesiger Möglichkeiten und großer Bedrohungen – aber wie sie auch sei, sie ist die Welt, in der wir jetzt leben. In einer solchen Welt muss die Singularität einer Partei mit allen Antworten einer Komplexität Platz machen, in der Lösungen nicht mehr von oben herab verordnet werden, sondern zwischen vielfältigen Kräften auszuhandeln sind.
Aber dieser ebenso unvermeidliche wie unerbittliche Schub zu größerer Komplexität schwächt die Position der Sozialdemokraten nur noch weiter. Dies gilt zunächst in Bezug auf die Demokratie selbst. Die Krise der Demokratie, die wir gegenwärtig erleben, ist eine Krise der repräsentativen Demokratie. Es gibt keine einheitliche Klasse mehr zu vertreten und auch keinen starken Staat, der solch eine Klasse überhaupt repräsentieren könnte. Immer mehr Menschen brauchen es nicht mehr, sich von anderen vertreten zu lassen. Und sie wollen es auch gar nicht, denn sie können das inzwischen selbst. Auch deshalb entstehen neue Formen der direkten und deliberativen Demokratie. Die einzigartige Rolle der Sozialdemokraten, exklusiver Sachwalter des „kleinen Mannes“ zu sein, ist ausgespielt und kommt nie mehr zurück.
Wie Kodak im Zeitalter von Instagram
Und zweitens: Diese Transformation ist nirgendwo so dringend wie in der Arbeitswelt. Dort droht das Zusammenfließen verschiedener Stränge technologischen Umbruchs jetzt völlig die Art und Weise zu revolutionieren, wie, wo und ob wir arbeiten werden. Je nach Berechnungsweise könnten aufgrund des Zusammenwirkens von künstlicher Intelligenz, Robotern, Algorithmen, Big Data und 3D-Druck zwischen 10 bis 46 Prozent der Arbeitsplätze verlorengehen. Fest steht, dass eine dramatische Verschiebung hinsichtlich des Charakters der Arbeitsmärkte stattfindet. Hier ist das Dilemma der Sozialdemokraten besonders abgründig: Sie verteidigen Arbeitsplätze, die wahrscheinlich demnächst verloren gehen; und zugleich verteidigen sie Arbeit, die vielfach trostlos, entsetzlich körperlich und öde ist – selbst wenn für sie ein existenzsichernder Lohn gezahlt wird. Darum sehen Sozialdemokraten derzeit aus wie Kodak im Zeitalter von Instagram.
Die Universalität der gegenwärtigen Krise zeigt uns, dass gerade etwas Großes geschieht. Die Krise manifestiert sich in Griechenland in der „Pasokifizierung“, in Spanien im Aufstieg von Podemos und im gleichzeitigen Schrumpfen der PSOE, in Deutschland in der Stagnation der SPD auf niedrigem Niveau, in Frankreich in der Schwäche der regierenden Sozialisten und in den nordischen Ländern in der Misere der dortigen Sozialdemokratien. In Großbritannien ermöglichte die Krise erstens die Dominanz der SNP, die in Schottland inzwischen Labour als große Partei der Linken abgelöst hat. Zweitens führte die Krise im vergangenen Jahr zum außerordentlichen Aufstieg des Corbynismus – eine Art innere Pasokifizierung, die zusammen mit dem Bernie-Sanders-Aufstand in den USA auf einen Bankrott der Sozialdemokratie schließen lässt. Aber keine dieser Revolten hat zu einem Bruch mit typisch sozialdemokratischen Prozeduren geführt. Ja, es wird jetzt mehr Wert auf soziale Bewegungen gelegt, doch im Mittelpunkt steht nach wie vor das Gesetzgebungsverfahren. Selbst die linke Sozialdemokratie des 21. Jahrhunderts leidet noch in fataler Weise darunter, dass ihr gesamter alter Kontext aus dem 20. Jahrhunderts nicht mehr existiert.
Tatsächlich verlangt die gegenwärtige Lage nach einem politischen Bruch – allerdings in Richtung einer ganz anderen Gesellschaft. Zum ersten Mal seit mehr als 80 Jahren Jahren funktioniert der Kapitalismus für einen großen und weiter wachsenden Teil der Bevölkerung nicht mehr. Jungen Leuten wird die Last riesiger Universitätschulden, unbezahlbarer Mieten und schlechter Berufsperspektiven aufgebürdet. Das Prekariat derjenigen, die mit Null-Stunden-Verträgen, als Freelancer und mit ärmlichen Sozialleistungen gerade so über die Runden kommen, wächst zu einer neuen Klasse heran, wenn auch zu einer Klasse ohne politische Vertreter. Und auch weiter oben auf der Einkommensskala erleben die Menschen das Outsourcing von Arbeitsplätzen, den Niedergang traditioneller Berufsstände sowie zunehmende Konsumzwänge. Dies alles lässt Ängste und Unsicherheit wachsen – und macht Mainstream-Wähler politisch ansprechbar, die für die traditionellen sozialdemokratischen Parteien zuvor ganz unerreichbar waren. Kommen in Zukunft noch ein zweiter Finanzcrash und weitere Klimakatastrophen hinzu, dann haben wir es mit einer grundlegend veränderten politischen Gesamtlage zu tun. In dieser Lage könnte eine neue demokratische Linke ebenso sehr reüssieren wie es derzeit der neuen autoritären Rechten gelingt.
Zum Glück gibt es auch eine hoffnungsvollere und optimistischere Stimmung, an die sich anknüpfen lässt. Angetrieben von genau denselben Technologien, die auch das Kapital freigesetzt haben, wächst nämlich zugleich das Bedürfnis nach einem neuen kollektiven Ethos. Die vernetzte Gesellschaft hat ihre Schattenseiten, aber das schiere Gewicht und die Vielfalt neuer Initiativen, Kampagnen und Unternehmen (sowohl online wie offline) belegen, dass in der digitalen Welt die Möglichkeit neuer Solidaritäten besteht. Es gibt neue Genossenschaften und soziale Unternehmen. Es gibt die Sharing Economy und das Peer-to-Peer-Prinzip. Es gibt neue Parteien wie Alternativet in Dänemark oder die Women’s Equality Party in Großbritannien, von denen wir viel lernen können. Es gibt massenwirksame Kampagnen im Internet und Graswurzelaktivisten, die sich mit Wohnungsfragen und dem öffentlichen Raum beschäftigen. Dabei entstehen neuartige und transformative politische Ideen, wie beispielsweise die einer kürzeren Arbeitswoche, eines Grundeinkommens oder der radikalen Dezentralisierung und Demokratisierung staatlicher Macht. Aus allen diesen Zutaten kann ein neues Goldenes Zeitalter entstehen. Gramscianisch formuliert erleben wir derzeit ein Interregnum: Das Alte ist noch nicht gestorben, das Neue noch nicht geboren.
Mehr Zeit, bessere öffentliche Räume, saubere Luft – genau darum geht es heute
Aber es ist unwahrscheinlich, dass ausgerechnet Sozialdemokraten die politischen Akteure sein können, denen es gelingt, Ängste und Hoffnungen zu einer neuen politischen Ordnung zu verschmelzen – es sei denn, sie vollziehen eine dramatische Wandlung. Dabei sind vier Aspekte wichtig.
Die erste Herausforderung besteht darin, die „gute Gesellschaft“ neu zu definieren. Sozialdemokraten müssen postmaterielle Fragen der Lebensqualität wertschätzen lernen, statt materielle Anliegen und die Höhe des Verbrauchs ins Zentrum zu stellen. Statt über „mehr Dinge“ werden Sozialdemokraten überzeugend über „mehr andere Dinge“ reden müssen: Es geht um mehr Zeit, bessere öffentliche Räume, saubere Luft, Gemeinschaftlichkeit und Autonomie. Damit gehört eine Politik für Arbeitszeitbegrenzungen, für Demokratie und Verantwortlichkeit am Arbeitsplatz, für ein Grundeinkommen und für strenge Kontrollen des Kohlenstoffausstoßes auf die Agenda.
Die zweite Herausforderung liegt darin, dass ein radikaler Umschwung zu mehr Internationalismus gelingen muss. Da der Kapitalismus über die Nation hinausgewachsen ist, hat die Sozialdemokratie gar keine andere Wahl, als zu folgen. Sozialdemokraten müssen Märkte regulieren und kontrollieren, wo immer diese Menschen oder dem Planeten Schaden zufügen. Ja, das ist schwierig. Und ja, es bedeutet, dass nationale Souveränität teilweise abgegeben werden muss. Aber in Wahrheit ist diese Souveränität schon längst verloren. Politisch heißt dies, dass auf der europäischen Ebene angesetzt werden muss, um Themen wie kontinentweite Mindestlöhne, ein europäisches Grundeinkommen, einen europäischen Solidarfonds für Migranten oder harmonisierte Unternehmenssteuersätze voranzutreiben. Letztlich jedoch sind globale Institutionen notwendig, die dazu beitragen können, multinationale Unternehmen und das internationalen Finanzwesen zu sozialisieren. Dies wurde unter Bretton Woods getan, um das erste Goldene Zeitalter abzusichern. Es sollte auch im Zeitalter des Internets möglich sein – und ist sogar dringend erforderlich.
Die dritte Herausforderung ist kultureller Art. Sozialdemokraten müssen wirklich „loslassen“ und damit aufhören, sich für die alleinige Stimme des Fortschritts zu halten. Es gibt heute keinen Platz mehr für gewählte Avantgarden, die, wie gut auch immer gemeint, Dinge „für die Menschen“ tun und nicht gemeinsam mit den Menschen. Die Sozialdemokratie muss ihren neuen Ort erkennen und offensiv einnehmen. Es geht um eine einzige, aber wichtige Aufgabe, nämlich Quelle der Ermächtigung, der Kompetenz und Autonomie global vernetzter Bürger zu werden.
Damit stehen Sozialdemokraten vor einer strategischen Wahl: Sind sie damit zufrieden, als „kleineres Übel“ gelegentliche Momente in Regierungsämtern zu erleben, wenn Konservative wieder einmal Mist gebaut haben? Reicht es ihnen, die Gesellschaft zu verwalten, aber nicht zu verändern? Oder machen sie sich an die Arbeit, einen großen neuen Konsens zu entwickeln, der nur in Kooperation mit anderen Parteien und Kräften entstehen kann – in einem neuen progressiven Bündnis? Noch einmal ein einziges großes Zelt wie „New Labour“ oder die „Neue Mitte“ aufzubauen, ist im Zeitalter von Austerität und Wirtschaftskrisen unmöglich geworden. Die einzige Option, die Sozialdemokraten heute offensteht, ist der gemeinschaftliche Campingplatz. Auf diesem werden sie womöglich das größte Zelt besitzen, zugleich aber nur eine unter verschiedenen progressiven Stimmen und Kräften sein.
Sozialdemokraten müssen für sich eine neue »Welle« finden
Die Komplexität der Welt unserer Zeit erfordert ein ebenso komplexes Governance-System. Die Aufgabe progressiver Politiker wird in Zukunft nicht mehr darin bestehen, an Schalthebeln zu ziehen. Vielmehr müssen progressive Politiker künftig Plattformen schaffen und Räume öffnen, damit kollektiv handelnde Menschen selbst Dinge verändern können. Dies ist eine bescheidenere Rolle, aber von enormer Bedeutung und durchaus machbar in einer vernetzten Gesellschaft, in der das Internet zum wichtigsten Knotenpunkt der menschlichen Kultur geworden ist. Die Sozialdemokratie sollte sich selbst als Teil weitaus größerer progressiver Allianzen für Veränderung begreifen, nicht als einzige Quelle von Weisheit und Handlungsmacht. Sozialdemokraten sollten den Bedürfnissen der Zivilgesellschaft dienen, statt Menschen vor allem als potenzielle Wählerstimmen wahrzunehmen, die sie nur brauchen, um ins Amt zu kommen. Parteien müssen in Zukunft wirklich demokratisch werden. Dazu gehört es, progressive Plattformen der Zusammenarbeit rund um Themen wie erneuerbare Energien, Finanzen und neue Medien aufzubauen.
Und viertens: Angesichts aller hier skizzierten Umstände werden Sozialdemokraten für sich eine neue „Welle“ finden müssen – ihre Kraftquelle für den Wandel. Dabei geht es um mehr als nur eine Wählerkoalition. Es geht darum, einen Zusammenschluss von Klassen, Kräften und Bewegungen zu organisieren, die gemeinsam die Transformation hin zu einer guten Gesellschaft auf den Weg bringen und vorantreiben werden. Darin besteht die Kunst der Politik.
Dies alles bedeutet nicht, dass die existierende Sozialdemokratie völlig abgeschrieben werden müsste. Überall in Europa gibt es Sozialdemokraten, die ein Gespür dafür besitzen, wie tief das Loch ist, in das ihre Parteien geraten sind. Aber die dominierende Kultur des Materialismus, der nationalen Orientierung, des politischen Tribalismus und Zentralismus werden sie nicht ohne weiteres beenden können, denn eben diese Eigenschaften sind es, die sozialdemokratische Parteien weiterhin prägen.
Das Goldene Zeitalter der Sozialdemokratie war ein Produkt seiner Zeit. Diese Zeit war eine Ära der Hierarchien und der Eliten, des Kommandos und der Kontrolle. Die Sozialdemokratie meinte es gut und erreichte manches. Aber auf die Dauer wirken die Mittel immer auf die Zwecke zurück. Sozialdemokraten taten Dinge für die Menschen und nicht gemeinsam mit ihnen. Ihre Fähigkeit, eine gute Gesellschaft zu schaffen, war daher immer begrenzt und anfällig für populistisch und individualistisch motivierte Rückfälle. Erlebt haben wir dies etwa, als die Neoliberalen in der Ära Thatcher kurzen Prozess mit früher erreichtem Fortschritt machten.
Ein neues Goldenes Zeitalter ist möglich
Heute stehen wir an der Schwelle zu einer neuen Ära, die uns vor große Herausforderungen stellt, aber zugleich Chancen bietet. Die Netzwerkgesellschaft des 21. Jahrhunderts hat das Potenzial, im Denken und Handeln egalitärer und demokratischer zu sein. In dieser Welt können Mittel und Zwecke versöhnt werden: Eine gute Gesellschaft, in der die Menschen die kollektive Kontrolle über ihr Schicksal ausüben, schaffen wir eben dadurch, dass Menschen tatsächlich beginnen, die kollektive Kontrolle über ihr Schicksal zu ergreifen.
Nach 1945 konnte sich die Sozialdemokratie im gesellschaftlichen Bewusstsein verankern, weil der Kapitalismus nicht funktionierte. Die Sozialdemokraten verstanden es, den bürokratischen Geist der Zeit zu nutzen, um eine bessere Gesellschaft zu ermöglichen. Heute funktioniert der Kapitalismus wieder nicht. Ein neues Goldenes Zeitalter ist denkbar. Genau dies ist der richtige Moment unsere Moderne mit ihrer Offenheit, ihren flachen Strukturen und ihrer Konnektivität in die Richtung von Werten zu verändern, die zutiefst sozial und radikal demokratisch sind.
Würden heute neue Parteien gegründet, um das 21. Jahrhundert möglichst sozial und demokratisch zu machen, so würden sie nicht aussehen wie die bestehenden sozialdemokratischen Parteien. Können sich die Labour Party und ihre europäischen Schwesterparteien verändern? Oder werden sie ersetzt? Einserseits sind die Perspektiven nicht günstig. Jedenfalls für die Labour Party gilt: Ihr Tribalismus und ihre Arroganz sitzen tief. Doch Organisationen können sich neu erfinden. Dafür müssen Sozialdemokraten allerdings größere Entscheidungen treffen, als entweder zum Drittem Weg und zur Neuen Mitte zurückzukehren oder Corbynismus zu betreiben und die Agenda 2010 zu verteufeln. Was sie brauchen, ist vielmehr ein Kultursprung hinein ins 21. Jahrhundert. Dieses könnte sich als eine fantastische Welt der Konnektivität, der Solidarität und der Fülle erweisen – als ein neues Goldenes Zeitalter: Sozialdemokratie nicht für die Menschen, sondern mit den Menschen und durch die Menschen. Werden die Sozialdemokraten den Geist dieser neuen Zeit verstehen und Teil von ihr werden? «
Aus dem Englischen von Tobias Dürr
(Dieser Text ist zuerst auf www.newstatesman.com erschienen. Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.)