Soziale Gerechtigkeit als Kernpunkt der Parteienkonkurrenz zwischen SPD und PDS in Ostdeutschland

Dokumentation eines Diskussionspapiers des Geschäftsführers der brandenburgischen SPD nach den Landtagswahlen in Ostdeutschland 1999

Am 5. September 1999 fanden in Brandenburg Landtagswahlen statt. Die märkische SPD wurde zwar wieder mit gut 39 Prozent stärkste Partei, musste aber Verluste von über 14 Prozentpunkten im Vergleich zur Landtagswahl 1994 hinnehmen. Auch bei den folgenden Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen waren die Sozialdemokraten die eindeutigen Verlierer. Allen drei Wahlen war eins gemeinsam: Das wichtigste politische Thema bei der Wahlentscheidung war das Thema soziale Gerechtigkeit. In Brandenburg benannten laut einer Wahltagsbefragung von Infratest-dimap 50 Prozent der Bürger dies als das entscheidende Wahlmotiv. Insbesondere trifft dies auf Wählerinnen und Wähler zu, die von der SPD zur CDU (53 Prozent) beziehungsweise zur PDS (68 Prozent) gewechselt sind.

Die Ergebnisse dokumentieren zumindest zweierlei: Erstens, die größere Bedeutung, die die Ostdeutschen dem Politikziel soziale Gerechtigkeit bei ihrer Wahlentscheidung zumessen. Und zweitens, die Erwartungshaltung der Ostdeutschen an den Regierungswechsel auf Bundesebene und die mittlerweile eingetretene Enttäuschung über die bisherigen Ergebnisse: bei der Herstellung gleicher Lebensverhältnisse in Ost und West, der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit und der Herstellung sozialer Gerechtigkeit.


Für die SPD ist diese Entwicklung alarmierend. In ihrer Kernkompetenz - das Eintreten für gleiche Lebenschancen und die Teilhabe am materiellen Reichtum einer Gesellschaft - sprechen die Ostdeutschen der Sozialdemokratie zunehmend das Misstrauen aus. Das ist für die immer noch organisatorisch schwache SPD in Ostdeutschland um so bedrohlicher als ihr mit der PDS - im Gegensatz zu Westdeutschland - ein in der Gesellschaft verankerter Konkurrent gegenübersteht, der ihr diese Kernkompetenz streitig macht.

Aus Meinungsumfragen ist bekannt, dass sich die Ostdeutschen - im Vergleich zu den Westdeutschen - eher den Unterschichten zuordnen, dem Staat eine größere Verantwortung für die Schaffung von Arbeitsplätzen zuschreiben und Gleichheit höher bewerten als individuelle Freiheit. Aus diesen Werthaltungen resultiert eine Erwartung an Politik, mit der sich alle politischen Kräfte auseinandersetzen müssen, die in Ostdeutschland mehrheitsfähig sein wollen.

Auseinandersetzen kann aber für die SPD nicht bedeuten, dass sie in ihrer Politik, wie die PDS, opportunistisch unerfüllbaren Erwartungshaltungen nachrennt und sie dadurch sogar - möglicherweise wider besseres Wissen - verstärkt. Eher muss sich die ostdeutsche SPD die Frage stellen, ob ein solcher Opportunismus-Wettlauf mit der PDS überhaupt gewonnen werden könnte. Angesichts der Tatsache, dass die Sozialdemokratie jetzt auf Bundesebene Regierungsverantwortung trägt und an ihrer konkreten Politik gemessen wird, liegt die Antwort auf der Hand...

Es wird für die SPD in Ostdeutschland zu einer Überlebensfrage, ob sie in der Lage ist, in ihrer Kernkompetenz Vertrauen zurückzugewinnen und - gleichzeitig oder sogar als Vorbedingung - die ideologische Auseinandersetzung mit ihrer parteipolitischen Konkurrenz zu führen. Sozialdemokratische Politik in Ostdeutschland kann nur erfolgreich sein, wenn sie die Deutungsmacht zurückerlangt, wie soziale Gerechtigkeit in einer modernen Gesellschaft definiert wird und durch konkrete Politik zu erreichen ist.

Dazu bedarf es einer neuen Offensive sozialdemokratischer Reformpolitik und ihrer Begründung. Der SPD in Ostdeutschland ist deshalb zu empfehlen, eine offensive und öffentliche Debatte darüber zu eröffnen, welche Rolle der Staat in einer sich globalisierenden Wirtschaft spielen kann und soll; in welchem Verhältnis staatliche, gesellschaftliche und individuelle Verantwortung bei der Herstellung gleicher Lebenschancen stehen; welche Konsequenzen die Herausbildung individualisierter Arbeitsverhältnisse beziehungsweise -bedingungen und damit einhergehend individualisierter Lebensstile für die Zukunft kollektiver Sicherungssysteme hat.

Widerstände in den eigenen Reihen überwinden

Für diese Auseinandersetzung ist es jedoch verheerend, wenn die SPD - wie in den vergangenen Monaten geschehen - nicht nur in ihrer Rhetorik den Eindruck erweckt, als laufe sie einem neoliberalen Zeitgeist hinterher. Anthony Giddens, dem bekanntesten Vordenker eines Dritten Weges der europäischen Sozialdemokratie, ist zuzustimmen, dass eine Sozialdemokratie, die den Wert der Gleichheit aufgibt, sich selbst ihre Existenzberechtigung entzieht.


Jegliche sozialdemokratische Debatte, die notwendige Strukturveränderungen für eine zukunftsträchtige Rolle des Staates und eine Modernisierung des Sozialstaates will, muss deshalb im Epplerschen Sinne wertkonservativ sein: Die Öffentlichkeit muss wissen, dass Sozialdemokratie verändern will, um ihren Grundwerten - Freiheit, Gleichheit und Solidarität - unter veränderten Bedingungen Geltung zu verschaffen.


Manche Modernisierungsapostel und Berliner- Republik-Rhetoriker aus der Sozialdemokratie scheinen diese Grundwerte in den vergangenen Monaten jedoch vergessen zu haben. Sie haben damit zur allgemeinen Verwirrung über die Ziele sozialdemokratischer Politik beigetragen.
Anders herum gilt aber auch, dass die von Peter Glotz beschriebenen "Grölbacken", "die aus einer Zeit" kommen, "als das Wünschen noch geholfen hat" (Die beschleunigte Gesellschaft, 1999), nicht nur in der PDS, sondern auch in den Reihen der SPD zu finden sind. Mehrheiten für Reformen sind aber nur zu erreichen, wenn der eigenen Klientel auch unbequeme Wahrheiten zugemutet werden.


Dazu gehört unter anderem, dass demographische Veränderungen strukturelle Reformnotwendigkeiten hervorbringen; dass manches, was vom Staat geleistet werden kann, von Privaten besser und kostengünstiger erbracht wird; dass der Sozialstaat nicht nur ein Einnahme-, sondern angesichts steigender Staatsverschuldung auch ein Ausgabenproblem hat; dass manche gut gemeinte Sozialleistung Eigeninitiative eher behindert denn befördert und der Missbrauch von Sozialleistungen keine Erfindung des Klassenfeindes ist.

Was ist sozial gerecht in Ostdeutschland?

In der Honecker-Ära galt das SED-Postulat von der "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik". Gegenüber ihren Bürgern delegitimiert hat sich die DDR auch, weil sie die damit verbundenen Erwartungen nicht erfüllen konnte. Das weitgehend vom Weltmarkt abgeschottete System der zentralen Planwirtschaft war quantitativ und qualitativ nicht in der Lage, Güter und Dienstleistungen zu produzieren, die die Refinanzierung des allumfassenden Sozialstaatsversprechens erlaubten. Mit der Vereinigung wurde Ostdeutschland in einen Weltmarkt integriert, der sich - bedingt durch politische (Öffnung der ost- und mitteleuropäischen Märkte, Einführung des Euro) und technologische Veränderungen ("digitaler Kapitalismus", Peter Glotz) - rasant weiter entwickelt und alle Beteiligten einem großen Anpassungsdruck aussetzt. Die Folgen, die dieser immer noch nicht beendete Anpassungs- und Integrationsprozess in Ostdeutschland ausgelöst hat, sind hinreichend bekannt: weitgehende Zerstörung der unproduktiven industriellen Basis, Abbau von fast 90 Prozent der vorhandenen Arbeitsplätze im primären Sektor und im Gefolge eine sich verstetigende Massenarbeitslosigkeit. Auf der anderen Seite aber auch die Herausbildung hochproduktiver "Industrieleuchttürme" und die Schaffung hundertausender neuer Arbeitsplätze vor allem im privaten Dienstleistungssektor. Begleitet und unterstützt wurde und wird dieser Prozess durch massive Transferleistungen aus Westdeutschland und von der EU. Ein Großteil der Transferleistungen wird nicht investiv eingesetzt, sondern fließt in die Konsumtion.

Angesichts knapper werdender Mittel und einer in Westdeutschland geringer werdenden Bereitschaft, Ostdeutschland weiter zu alimentieren, ist es umso dringender, eine Debatte zu führen, welche Unterstützung mit welcher Zielsetzung gebraucht wird, um eine eigenständige, selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland zu erreichen.

Die Diskussion über die Frage, welche Politik vor diesem Hintergrund sozial gerecht ist, wird die Auseinandersetzung der nächsten Jahre bestimmen. Wenn es zutrifft, dass sozial gerecht ist, was aktive Teilhabe (Inklusion) an der Gesellschaft erlaubt und Ausgrenzung (Exklusion) aufhebt, muss jede einzelne Aktivität und Maßnahme in Ostdeutschland an diesem Kriterium überprüft werden.


Diese Debatte muss ohne Tabus geführt werden.

Folgende Fragen müssen dabei unter anderem (neu) beantwortet werden:

Erstens, unter welchen Gesichtspunkten ist es sinnvoll, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und andere Maßnahmen des öffentlichen Beschäftigungssektors zu finanzieren, die nicht auf den 1. Arbeitsmarkt ausgerichtet sind und keine dauerhafte Verbesserung der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Infrastruktur bedeuten?

Zweitens, befördert diese Politik, die oftmals in "Maßnahmekarrieren" mündet, nicht eine "Kultur der Abhängigkeit", die im Widerspruch zum Ziel der sozialen Inklusion steht? Oder ist sie um den Erhalt des sozialen Friedens unverzichtbar?

Drittens, hat nicht eine Politik, die auf die quantitative Bereitstellung wohnortnaher Ausbildungsplätze setzt - unter Inkaufnahme der Praxisferne, der mangelnden Qualität und der nicht vorhandenen regionalen Nachfrage -, die Immobilität junger Erwachsener zur Folge?

Viertens, ist es ehrlich und vertretbar, einer Politik der Angleichung der Löhne und Gehälter an das Westniveau das Wort zu reden, solange die Produktivität nicht das Westniveau erreicht und die öffentlichen Hände auf Transferleistungen angewiesen sind?


Fünftens, ist es sozial gerecht, aus Rücksicht auf existierende Besitzstände, eine Politik der kulturellen Bestandspflege zu betreiben, während gleichzeitig notwendige Investitionen, die Arbeitsplätze am 1. Arbeitsmarkt sichern und schaffen helfen, unterbleiben?

Sechstens, wann ist es verantwortbar, die öffentliche Verschuldung zu Lasten künftiger Generationen weiter zu erhöhen?

Die Antworten auf diese Fragen sind nicht einfach und erst recht nicht bequem. Eine zukunftsträchtige sozialdemokratische Politik wird diese Antworten aber geben müssen. Wenn sie auch zu realer (und mehrheitsfähiger!) Politik werden sollen, muss die Sozialdemokratie die Auseinandersetzung darüber öffentlich führen. Auch die politische Konkurrenz - in Ostdeutschland insbesondere die PDS - muss gezwungen werden, sich diesen Fragen nicht zu entziehen.

Den "Antikapitalismus" der PDS entzaubern

Die PDS definiert sich selbst als sozialistische und antikapitalistische Partei. Gleichzeitig betont sie aber ihre Abkehr vom System staatsozialistischer Realität und betont ihre Akzeptanz des Rechts auf Privateigentum an Produktionsmitteln. In der Auseinandersetzung mit der PDS, was soziale Gerechtigkeit in einer modernen Gesellschaft bedeuten kann und muss, wird es in entscheidendem Maße darauf ankommen, ihre antikapitalistische Rhetorik zu entzaubern. Die PDS bedient damit Gefühls- und Gemütslagen in Ostdeutschland jenseits jeglicher politischer und ökonomischer Realität. Konkrete Reform- oder Politikkonzepte, die ihren "antikapitalistischen" Anspruch begründen, bleibt sie bewusst schuldig. Sie begnügt sich damit, vorhandene Unmutsgefühle angesichts sich rasant verändernder gesellschaftlichen Realität zu bedienen und zu verstärken. Mit Vorliebe diskriminiert sie Reformbemühungen von Sozialdemokraten als "Verrat" an deren Idealen.


Angesichts der Tatsache, dass die PDS heute eine stabile politische Kraft in der ostdeutschen Dreiparteienlandschaft ist, muss die Sozialdemokratie eine ideologische Auseinandersetzung mit der PDS anhand konkreter politischer Reformprojekte geradezu suchen. Welche Antworten - jenseits der schon für zehn andere sozialpolitische Projekte von der PDS wieder eingeführten Vermögenssteuer - haben die PDS-Antikapitalisten, um eine zukunftssichere Rente zu gewährleisten? Wie will die PDS angesichts einer gigantischen Staatsverschuldung eine Ausweitung öffentlich geförderter Beschäftigung finanzieren? Wie rechtfertigt die PDS die von ihr eingeforderte höhere Neuverschuldung vor den künftigen Generationen? Wie ist es unter Gesichtspunkten sozialer Gerechtigkeit zu rechtfertigen, dass Kommunen die Eintrittskarten für ein Theater oder ein Orchester mit bis zu 400 Mark subventionieren, gleichzeitig aber keine ausreichenden Mittel zur Verfügung haben, um vernünftige Schulsportanlagen oder moderne Kindertagesstätten zu bauen und zu unterhalten?


Die Sozialdemokratie muss diese Fragen selbstbewusst stellen. Die Antworten der "Antikapitalisten" werden spannend sein.

Ostdeutschland wird keine Schutzzone im digitalen Kapitalismus der Zukunft sein - weder wirtschaftlich und sozial noch mental. Doch die Ostdeutschen stehen vor der Wahl: Sie können eine dauerhafte Zukunft als mehr schlecht als recht alimentierte Region in Europa haben. Oder sie können an der Gestaltung der deutschen Gesellschaft aktiv teilhaben und ihren Platz als moderne, weltoffene und wegweisende Region finden. Das real vorhandene "Sonderbewusstsein Ost" muss dafür produktiv eingebracht werden - und darf nicht zur Rückzugszone werden, die in die gesellschaftliche Desintegration mündet. Die Ostdeutschen haben den Westdeutschen eine Transformationserfahrung voraus. Diese Erfahrung müssen sie einbringen in die aktuelle gesellschaftliche Debatte über die Zukunft unseres Gesellschaftsmodells. Der "rheinische Kapitalismus", das auf einem Sozialstaatskompromiss beruhende Erfolgsmodell der alten Bundesrepublik, steht heute auf dem Prüfstand und unter massivem Druck. Die Alternative ist ein hemmungsloser und ungebändigter Kasino-Kapitalismus der "kalifornischen Strategie" (Peter Glotz) und nicht ein - wie auch immer geartetes - antikapitalistisches Sozialismusmodell der PDS. Die Auseinandersetzung um die Gesellschaft der Moderne wird konfliktträchtiger sein als bisher. Der naive Wunsch nach einem Konsens aller Akteure wird dabei alleine nicht ausreichen. Die Ostdeutschen werden ihre lebensweltlichen Erfahrungen aktiv einbringen müssen, um den gewünschten Konsens zu erkämpfen. Dabei werden sie feststellen, dass die Interessenkonflikte der Zukunft plötzlich quer durch die ostdeutsche Gesellschaft gehen.


Der Konflikt um die Frage, was sozial gerecht ist, wird es wie in einem Fokus zeigen. Ostdeutschland wird in diesem Konflikt Zukunft gewinnen. Und die Parteienlandschaft wird sich dabei verändern.

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