Spaniens alte und neue Grenzen
Die Bedeutung von Grenzen ist auch im 21. Jahrhundert ungebrochen, wie vor allem das Beispiel Spaniens zeigt. Es ist bemerkenswert, dass gerade die Europäische Union als Sinnbild einer zusammenwachsenden Staatengemeinschaft für die zukünftige territoriale Ordnung Spaniens eine entscheidende Rolle spielt.
Die Grenze zwischen Spanien und Portugal stellt eine der ältesten Demarkationen Europas dar, die – anders als die oft umkämpften Grenzen im restlichen Europa – seit dem Hochmittelalter kaum verändert wurde. Auch die Pyrenäen haben als natürliche Grenze zu Frankreich die Limitation zwischen beiden Ländern über Jahrhunderte klar markiert. Im Zuge der europäischen Integration haben diese historischen Grenzen des klassischen Nationalstaats aber an Bedeutung verloren und sind durchlässig geworden. Zugleich werden jedoch die europäischen Außengrenzen stärker abgesichert und in manchen EU-Ländern gibt es sogar separatistische Bestrebungen, die innerstaatlich neue Grenzen definieren möchten. Das bekannteste Beispiel ist sicherlich die mögliche Abspaltung Kataloniens von Spanien. Ist in diesem Fall also „Spanien das Problem und Europa die Lösung“, wie der spanische Philosoph José Ortega y Gasset bereits im Jahr 1910 schrieb?
Brennpunkt Melilla
Bezogen auf das Flüchtlingsdrama am Grenzzaun der spanischen Exklave Melilla scheint Europa heute eher das Problem denn die Lösung zu sein. 25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ist diese EU-Außengrenze eine der sichtbarsten Konsequenzen der europäischen Abschottung, für die weder Madrid noch Brüssel die Verantwortung (und Kosten) übernehmen wollen. Der tägliche Ansturm von Flüchtlingen, der nur durch mehrere meterhohe Zäune gestoppt werden kann, ist nur zum Teil von der Hoffnung motiviert, nach Spanien zu gelangen. Vielmehr lockt der wohlhabende Norden der EU, die Iberische Halbinsel dient bloß als Transitland.
In der öffentlichen Debatte spielt zurzeit allerdings das Unabhängigkeitsstreben Kataloniens eine wesentlich größere Rolle. Dabei geht es vor allem um das „Recht zu entscheiden“ und das Problem einer wie auch immer gearteten Grenze zwischen dieser Region und dem Rest von Spanien.
Was Katalonien von Schottland unterscheidet
Eine besondere Bedeutung kommt dabei – wie im Fall Schottlands – der Frage zu, ob ein unabhängiges Katalonien per interner Erweiterung EU-Mitglied werden kann. Bisher gibt es dazu in der Geschichte der EU-Integration noch keinen Präzedenzfall. Nicht nur aus diesem Grund hat das Ergebnis des schottischen Unabhängigkeitsreferendums bei den europäischen Staats- und Regierungschefs zu großer Erleichterung geführt.
Besonders in Spanien war die Freude über das ablehnende Votum der Schotten groß. Trotzdem, oder besser nach dem Motto: „Jetzt erst recht“, wurde die Debatte um ein Referendum in Katalonien anschließend forciert. Allerdings sind der Prozess in Schottland und die Diskussion in Katalonien von Grund auf verschieden – und zwar nicht nur bei den geschichtlichen Voraussetzungen: So kann sich Katalonien im Gegensatz zu Schottland nicht auf die Tradition eines unabhängigen Königreiches stützen und die Grenzen der heutigen autonomen Region waren auch nie Außengrenzen. Obwohl die Dialogbereitschaft Londons und Edinburghs teilweise überhöht wird, gab es in Großbritannien zudem über Jahre eine breite Debatte um die positiven und negativen Konsequenzen einer neuen innerbritischen Grenze. Beide Seiten schufen im Einverständnis einen rechtlichen Rahmen für die Abstimmung und beschlossen gemeinsam die Frage sowie das Datum des Referendums. Diese Grundvoraussetzungen sind in Spanien nicht gegeben. Im Gegenteil: In den vergangenen zwei Jahren wurde „nur“ um die juristische Frage gestritten, ob die katalanische Regionalregierung überhaupt ein Unabhängigkeitsreferendum ansetzen darf. Darauf gibt es auch nach der symbolischen Abstimmung am 9. November 2014 keine Antwort. Der 9. November brachte weder eine De- noch eine Eskalation des Konfliktes. Die Fronten zwischen Madrid und Barcelona bleiben verhärtet.
Die katalanische Komplexität
Die katalanische Minderheitsregierung der liberal-konservativen Partei Convergència i Unió (CiU), die nach aktuellen Umfragen bereits die Mehrheit ihrer Wähler an die linksradikale und nationalistische Partei Esquerra Republicana de Catalunya (ERC) verloren hat, verlangt das „Recht zu entscheiden“ und argumentiert, es handele sich dabei um ein demokratisches Grundprinzip. Dieses angebliche Recht einer Minderheit ist aber alles andere als klar definiert und überaus problematisch: Während das „Recht auf Selbstbestimmung“ im Völkerrecht durchaus seine Entsprechung findet und sich auf ein Kollektiv beziehungsweise eine Nation bezieht, ist das „Recht zu entscheiden“ ein Individualrecht. Außerdem spricht die CiU das Recht zur Selbstbestimmung nur der katalanischen Bevölkerung zu und lehnt ein Referendum in ganz Spanien ab. Doch selbst wenn man das „Recht zu entscheiden“ als legitim betrachtet, stellt sich die Frage nach den Grenzen solcher Selbstbestimmungsansprüche. Sollen territoriale Einheiten der separatistischen Region, in denen der Wunsch nach Unabhängigkeit weniger stark ausgeprägt ist, einen eigenen Weg gehen können? Oder besteht für abgespaltene Teilgebiete auch das Recht auf Selbstbestimmung, etwa nachdem sich die Situation innerhalb der neuen Grenzen als wenig vorteilhaft erweist? Dies könnte zu einer Atomisierung vormals zusammenhängender Verwaltungsgebiete führen.
In der aktuellen Debatte in Katalonien können diesbezüglich zwei Typen des Nationalismus unterschieden werden: ein identitätsstiftender sowie ein ökonomischer Nationalismus. In beiden Fällen handelt es sich um einen territorial abgrenzenden Nationalismus, der sich auf bestimmte Regionen konzentriert, und dabei entweder historische, kulturelle und linguistische Besonderheiten hervorhebt, oder auf die Wirtschaftskraft der jeweiligen Region verweist.
Die spanische Regierung, die politisch ebenfalls geschwächt ist, argumentiert mit der Verfassung und hat die Rückendeckung des Verfassungsgerichts. Nach Artikel 1 der spanischen Verfassung liegt die nationale Souveränität beim ganzen spanischen Volk. Und da sich die spanische Regierung als Vertreterin aller Spanier innerhalb der spanischen Grenzen versteht, betrifft die Debatte um eine mögliche Unabhängigkeit Kataloniens die gesamte Bevölkerung. Ähnlich wie in den Verfassungen anderer westlicher demokratischer Staaten fordert ferner Artikel 2 die „unauflösliche Einheit der spanischen Nation“. Zudem darf nur die nationale Regierung konsultative Referenden zu Fragen von spezieller politischer Relevanz genehmigen, die im Einklang mit der Verfassung stehen müssen (Artikel 92).
Das spanische Verfassungsgericht hat deshalb das ursprünglich geplante Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien als nicht verfassungskonform eingestuft. Nach diesem erwarteten Urteil änderte die katalanische Regierung ihre Pläne und organisierte am 9. November 2014 einen Bürgerbeteiligungsprozess als „Akt der freien Meinungsäußerung“, der vom spanischen Verfassungsgericht per Eilverfahren ebenfalls verboten wurde. Demzufolge bewegten sich die Aktivitäten der katalanischen Regierung und ihrer Beamten in den vergangenen Wochen außerhalb der legalen Grauzone. Auch wurde der Vorwurf laut, dass die Ersatzbefragung die Mindeststandards solcher Verfahren nicht erfüllt habe: So wurde die illegale Abstimmung hauptsächlich von Freiwilligen – sprich: Befürwortern der Unabhängigkeit – organisiert, es gab keinen Zensus für Wahlberechtigte, und es fehlten Wahlbeobachter von anderen Parteien in den Wahllokalen. Vor allem gab es im Vorfeld keine pluralistische Debatte und die katalanische Regierung versuchte massiv, institutionellen Einfluss zu nehmen. Obwohl diejenigen Stimmen und Parteien lauter wurden, die gegen die Ersatzbefragung und gegen die Unabhängigkeit argumentierten, kamen sie in den öffentlich-rechtlichen Medien Kataloniens nicht zu Wort. Und sie nahmen auch nicht an der Befragung teil, da diese illegal war.
Wäre ein »freies« Katalonien Mitglied der EU?
Laut katalanischer Regionalregierung antworteten in der nicht bindenden Befragung rund 81 Prozent der Teilnehmer mit „Ja“ auf die beiden Fragen „Wollen Sie, dass Katalonien ein Staat wird?“ und „Sollte ein solcher Staat unabhängig sein?“. Legt man den Zensus der vergangenen Regionalwahlen zugrunde, erweitert um die Wahlberechtigten ab dem 16. Lebensjahr und den gemeldeten Ausländern, ergibt sich eine Beteiligung von rund 33 Prozent. Damit entspricht das Ergebnis weitgehend der Wählerzahl, die in der Regionalwahl 2012 für die Unabhängigkeit befürwortenden Parteien gestimmt hat.
Die Kampagne für die Befragung sowie die Inszenierung der Abstimmung hatten eine starke Außenwirkung und wurden teilweise in englischer Sprache durchgeführt, um Verständnis und Unterstützung in den EU-Mitgliedsstaaten zu erzeugen. Schließlich ist die Frage der EU-Mitgliedschaft von entscheidender Bedeutung für ein unabhängiges Katalonien. Allerdings wäre der aktuelle Konflikt zwischen Madrid und Barcelona wohl nicht entstanden, wenn Spanien im Europäischen Rat keine Veto-Möglichkeit gegenüber einer möglichen Aufnahme Kataloniens in die EU besäße. Dabei haben alle europäischen Institutionen und Mitgliedsländer die Madrider Zentralregierung in der Auseinandersetzung unterstützt. Der Tenor lautete: Ein unabhängiges Katalonien scheide „automatisch“ aus der Europäischen Union aus. Einer (Wieder-)Aufnahme müssten dann laut EU-Vertrag alle Mitgliedsstaaten zustimmen, inklusive Spaniens. Obwohl sich diese Argumentation auf politischem Neuland bewegt und die EU in anderen Fragen durchaus pragmatisch reagiert hat, unterstreicht der Vertrag von Lissabon, dass die EU ein Staatenbund ist, der die jeweilige nationale Identität in ihren grundlegenden politischen Strukturen achtet (Artikel 1 und Artikel 4.2). Weiterhin bestimmt Artikel 9, dass Unionsbürger nur derjenige ist, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedsstaats besitzt. Es bestehen also durchaus rechtliche Hürden für einen Verbleib unabhängig gewordener EU-Regionen in der Europäischen Union.
Europa muss mit dem Sezessionismus leben lernen
Die Rolle der EU im aktuellen Konflikt muss aber auch aus einem anderen Blickwinkel betrachtet werden. Die wachsenden Verteilungskämpfe infolge der Wirtschaftskrise zwischen Schuldner- und Geberländern in der EU haben den unterschwelligen katalanischen Nationalismus mit neuen Argumenten versorgt. So ist es zwar gelungen, die spanische Wirtschaft auf Wachstumskurs zu bringen, aber die verordnete Haushaltsdisziplin auf nationaler Ebene und die strikten Sparvorgaben für die Regionen haben die territorialen Konflikte zwischen Zentrum und Peripherie weiter verschärft. Es ist naiv zu hoffen, dass sich mit steigendem Wirtschaftswachstum die Zahl der Unabhängigkeitsbefürworter maßgeblich reduziert. Vielmehr wird es immer schwieriger, Rest-Spanien davon zu überzeugen, warum Katalonien weitere Sonderrechte eingeräumt werden sollten, etwa im Rahmen einer Verfassungsänderung, oder warum Katalonien im Extremfall überhaupt Teil Spaniens bleiben sollte.
Ein weiterer, wenn auch untergeordneter Aspekt im Verhältnis zur EU ist, dass Katalonien sich von der spanischen Regierung in Brüssel nicht vertreten fühlt. Dass die EU die internen Angelegenheiten ihrer Mitgliedsstaaten respektiert, ist richtig, aber angesichts der vielfältigen territorialen Strukturen wäre mehr Sensibilität angebracht. Zumal die Frage im Raum steht, ob europäischen Regionen mit legislativen Kompetenzen, beispielsweise den deutschen Bundesländern oder den spanischen Autonomen Gemeinschaften, nicht ein größerer Spielraum in der europäischen Gesetzgebung eingeräumt werden sollte. Darin könnte letztlich ein Lösungsweg für Konflikte zwischen nationalstaatlichen Regierungen und Regionen liegen, die autonomer oder unabhängig sein wollen – innerhalb der EU blieben ihre Handlungsspielräume so oder so europäisch eingebettet.
José Ortega y Gasset schrieb 1910 übrigens auch, dass man das „katalanische Problem“ nicht lösen kann, sondern mit ihm leben muss. Dies bezog er nicht nur darauf, dass Spanien lernen sollte, mit Katalonien zu leben, sondern dass auch Katalonien lernen sollte, mit dem Rest Spaniens zusammenzuleben. Heute werden die Katalanen lernen müssen, nach der internen Spaltung in Befürworter und Gegner der Unabhängigkeit wieder miteinander zu leben. Darüber hinaus darf Gassets Zitat aber auch auf den Rest der EU und die dort vorhandenen Sezessionsbewegungen ausgeweitet werden.