"Speak white"
Lassen Sie mich das wenige, das ich sagen möchte, auf Umwegen formulieren, zunächst mit den Worten einer gebürtigen Westdeutschen, Mitte dreißig, die seit einigen Jahren im Osten Deutschlands lebt und als freie Mitarbeiterin beim Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg arbeitet. In dieser Eigenschaft war sie wieder einmal im Lande unterwegs, um Material für eine Reportage über die brandenburgische Forstwirtschaft zu sammeln.
Sie bekam, was sie suchte, und noch etwas mehr: "Am Drehort angekommen, hatten wir es mit einem sehr netten Förster zu tun. Einem freundlichen, offenherzigen Mann, der mir sofort sympathisch war. In unserer Unterhaltung vor dem Spaziergang in den Wald flocht er immer wieder diese erklärenden Nebensätze ein, die mir in Brandenburg mittlerweile so vertraut sind. "Früher haben wir ja hier...". Er erklärte, wie es in der Försterei zu DDR-Zeiten zugegangen war. Ich hörte zu. Am Ende der Dreharbeiten, die sehr entspannt und harmonisch verliefen, traute ich mich: "Sie haben doch vorhin gedacht, dass ich aus dem Westen bin", sagte ich. "Oh, nein, keineswegs. Um Gottes Willen", antwortete er verschreckt. "Sie sind bestimmt kein Wessi. Sie sprechen doch deutsch." Über mein verdutztes Gesicht musste er lachen. Dann erzählte er: "Ich war neulich auf einer Versammlung. Da rief ein Podiumsredner vor seinem Vortrag in den Saal: "Ist hier ein Anwalt unter uns?" Keiner hob die Hand. "Sitzt hier ein Wessi?" Niemand meldete sich. "Na, dann können wir ja deutsch reden.""
Ihr Bericht, aus dem ich hier nur eine kleine Passage wiedergebe, entstammt dem Sammelband Das Buch der Unterschiede, den Jana Simon, Frank Rothe und Wiete Andrasch Anfang dieses Jahres im Aufbau-Verlag herausgaben, und in dem sich Ost- und Westdeutsche, mehrheitlich um das Jahr 1970 herum geboren, über ihr Leben und ihr Verhältnis zueinander äußern. Als ich ihn las, blieb ich immer wieder an dem einen Satz hängen: "Sie sprechen doch deutsch", und plötzlich erinnerte ich mich, dass ich Ähnliches schon einmal gehört hatte, in einem gänzlich anderen Zusammenhang.
Das war vor einigen Jahre in Quebec, der frankophonen Provinz im Osten Kanadas. Nach einem Vortrag im Goethe-Institut von Montreal entspann sich ein längeres Gespräch mit einem der Zuhörer, einem Frankokanadier. Der war mit den deutsch-deutschen Verhältnissen nach 1989 erstaunlich gut vertraut, überforderte meine Kenntnisse der kanadischen Gegebenheiten jedoch bei weitem, als er mich plötzlich fragte: "Finden Sie nicht auch, dass man die Ostdeutschen in gewisser Weise als die Québécois der neuen deutschen Republik betrachten kann?"
Mit seiner Hilfe und nachholender Lektüre kam ich seinem überraschenden Vergleich auf die Spur. Gestatten Sie mir, Ihnen das Wesentliche meines zweiten Umwegs in Kürze mitzuteilen. Seit 1663 französische Kronkolonie, fiel Quebec im Ergebnis des Britisch-Französischen Kolonialkriegs von 1754-1763 an England. Um die neuen Untertanen nicht über Gebühr gegen sich aufzubringen, verabschiedete das britische Parlament 1774 den Quebec-Act. Danach durfte die katholische Religion weiter praktiziert werden, ebenso das auf ihr basierende französische Schulwesen; zwar wurde umgehend das englische Strafrecht eingeführt, das französische Zivilrecht jedoch beibehalten; das Englische avancierte zur verbindlichen Amts- und Verkehrssprache, doch durfte im Alltag weiter französisch gesprochen werden.
Vergleicht man diese behutsame Art der Einbeziehung der Québécois ins britische Herrschaftsgebiet mit dem fast durchgehend westdeutschen Vorbildern folgenden Umbau Ostdeutschlands nach 1989, könnte man fast darüber erstaunt sein, dass sich viele Frankokanadier mit den neu geschaffenen Tatsachen nicht recht anfreunden konnten und danach trachteten, sie rückgängig zu machen. Mehr noch, statt abzuebben, gewann die separatistische Bewegung, die die Abtrennung Quebecs vom kanadischen Staat forderte, im Laufe der Zeit sogar noch an Boden. Das (vorläufig) letzte Unabhängigkeitsreferendum vom Oktober 1995 scheiterte mit 49,4 Prozent Ja-Stimmen nur äußerst knapp (in absoluten Zahlen: 27.000). Das Verhältnis zwischen frankophonen und anglophonen Kanadiern ist auch nach zweihundert Jahren (quasi-)staatlichen Zusammenlebens tiefgreifend gestört. In diesem Fall hat die Zeit die alten Wunden nicht geheilt, hat die Folge der Generationen den Streit der beiden Bevölkerungsgruppen nicht geschlichtet.
Wie jedes Beispiel, so ist auch dieses nicht ohne gehörige Einschränkungen und Modifikationen auf andere Konstellationen zu übertragen, auch nicht auf unsere, die deutsche nach 1989. Der historische Konflikt zwischen Franzosen und Engländern in Quebec war der Konflikt zwischen Kolonisatoren, die um die Vorherrschaft in einem seit langem von Indianern, verschiedenen Irokesenstämmen, besiedelten Gebiet kämpften. Als die Engländer dieses Gebiet für ihre Krone eroberten, dachten sie nicht im Geringsten daran, das Unrecht wiedergutzumachen, das den alteingesessenen Bewohnern von den Franzosen angetan worden war. Trotz aller erbitterten und zum Teil auch verlustreichen Auseinandersetzungen respektierten sie einander letztlich in weit höherem Maße als die "Barbaren", über deren Minderwertigkeit sie gänzlich einer Meinung waren.
Wie sehr der Konflikt der beiden Gruppen im Kern machtpolitischer Art war, zeigte sich in den Jahren 1837 und 1838, als es zu gemeinsamen Aufständen der französisch- und englischsprachigen Einwohner Quebecs (bzw. Unterkanadas, wie es seit 1791 hieß) gegen das britische Establishment kam, das die Autonomie Quebecs zunehmend einschränkte und das anglophone Oberkanada in jeder Hinsicht bevorzugte.
Hier könnte man an jene Vertreter des westdeutschen Establishments denken, die sich nach 1989 dazu entschieden, länger oder auf Dauer im Osten Deutschlands zu leben und daher oft gar nicht umhin kamen, die Sache der Ostdeutschen zu ihrer eigenen zu machen, sprich, sich im Fall des Interessenkonflikts gegen ihre Herkunftsgesellschaft zu wenden. Von gemeinsamen Aufständen in Ostdeutschland lebender Ost- und Westdeutscher gegen die westdeutsch dominierte Exekutive ist bisher aber nichts bekannt geworden.
So phantastisch, wie ein solch kämpferisches Bündnis zur Zeit anmutet, ist es vielleicht gar nicht. Es zu begründen, müssten Ost- und Westdeutsche ihrerseits Teil einer umfassenderen politischen Bezugseinheit werden, sagen wir einer gesamteuropäischen, die, von den alten bundesrepublikanischen Eliten stark dominiert, Ostdeutschland wie eine Provinz unter vielen anderen behandelt und sich dadurch den vereinten Zorn der dort lebenden Menschen zuzieht. Aber das ist Zukunftsmusik, und keine besonders attraktive.
Ferner, noch immer die Unterschiede betonend: Die Québécois gerieten durch einen verlorenen Krieg unter englische Vorherrschaft, die Ostdeutschen handelten sich die westdeutsche Vorherrschaft durch einen siegreichen Aufstand ein; jene hatten (und haben) historisch noch eine Rechnung offen, diese wissen sich fern von derartigen Ressentiments. Und schließlich, vielleicht nicht zuletzt dadurch bedingt: Anders als in Quebec gibt es im Osten Deutschlands keinen ernstzunehmenden Separatismus, weder gesellschaftlich noch politisch. Die PDS, die manch Unbedarfter solcher Absichten bezichtigt, betätigt sich in der Praxis mit Fleiß (wenngleich in jüngster Zeit ohne Fortune) als Sprachrohr und Organisator ostdeutscher Teilhabe- und Integrationsbestrebungen.
Dennoch kann ein Blick auf die spannungsreiche Figuration, die die kanadischen Franzosen und Engländer miteinander bilden, einiges zum Verständnis unserer Lage beitragen, vor allem, wenn man sie aus der Perspektive der Frankokanadier betrachtet. Wie diese, so stellen auch die Ostdeutschen die überwältigende Mehrheit der auf dem Territorium der ehemaligen DDR lebenden Menschen; gleich den Québécois fühlen auch sie sich der kleinen Minderheit Westdeutscher, die hier ihren Wohnsitz genommen haben, an sozialem Zusammenhalt, Ortskenntnis und Erfahrung überlegen. Und genau wie die französischsprachigen Kanadier mussten und müssen sie zusehen, wie die Minderheit der Neu- oder Wiederankömmlinge die entscheidenden Schaltstellen in Politik, Verwaltung, Militär, Rechtsprechung (im Osten auch: Wirtschaft, Schulwesen usf.) besetzt und die säkulare Religion des Eigentums wie Brosamen unter die diesbezüglich weitgehend ungläubigen Einheimischen streut.
Angesichts dessen kann man besser verstehen, dass sich die einen wie die anderen fühlen wie Fremdlinge im eigenen Land - mit dem für viele Ostdeutsche hinzukommenden Groll, um die sozialen Früchte der eigenen Erhebung betrogen worden zu sein; hier wirkt sich der Unterschied der beiden Konstellationen nicht widerspruchsglättend, sondern verschärfend aus. Im Grunde handelt es sich um eine paradoxe Situation: Die Mehrheit empfindet sich, sozial gesehen, als Außenseiter, die Minderheit spielt die Rolle der Etablierten und bemüht sich, gerade aufgrund ihres minoritären Status` nach Kräften, das fremde Territorium auch kulturell so schnell wie möglich umzupflügen, ihm die ihr vertrauten Institutionen, Normen und Bedeutungen einzupflanzen.
Spätestens hier wird die Sache brenzlig. Denn jeder Versuch, nach der politischen und wirtschaftlichen Vorherrschaft auch noch die kulturelle zu erringen, gemahnt die machtschwächere Gruppe schmerzlich an die Wunden, die ihr sozial schon geschlagen wurden und treibt sie dazu an, dasjenige, was ihr geblieben ist, ihre "Kultur", mit allen Mittel zu behaupten, und sei es um den Preis umgekehrter Stigmatisierung.
So entzündeten sich die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den französisch- und den englischsprachigen Einwohnern Quebecs just in dem Moment, in dem die damals liberale Provinzregierung Mitte der sechziger Jahre den Versuch unternahm, das Schulwesen zu vereinheitlichen und bei dieser Gelegenheit auch die alten Privilegien aus den Zeiten des Quebec-Act zu annullieren. Der radikale Flügel des Separatismus erhielt politischen Auftrieb und als die Quebec Liberation Front 1976 die Wahlen gewann, dekretierte sie in der bis dato zweisprachigen Provinz das Französische zur einzigen Amtssprache. Wer die Region heute bereist, begegnet dem "Neusprech" auch im Alltag, auf Straßenschildern wie auf Speisekarten.
Dass viele Québécois diese Praxis durchaus als Genugtuung für frühere Kränkungen empfinden, machte mir mein Gesprächspartner klar. "Kamen Frankokanadier", schloss er seine Unterweisung, "noch in den fünfziger Jahren in ein von Engländern geführtes Geschäft oder hatten sie bei Behörden etwas zu erledigen, empfing man sie zur Begrüßung nicht selten mit "Speek white".
Da ist er, der Satz, der aus der Erinnerung auftauchte, als ich auf das "Sie sprechen doch deutsch" des Försters aus dem Brandenburgischen stieß. Ein "Speek white" mit ostdeutschem Akzent; Entschädigung für soziale Kränkungen und zugleich Bekundung des Willens zur kulturellen Gegenoffensive.
Nun darf man sich getrost fragen, was der polemische Gebrauch einer Kultur, der die Gesellschaft abhanden kam, im wirklichen Leben ausrichten kann und soll. Wenn sich die Frankokanadier am Ende des 18. Jahrhunderts auf ihre Kultur beriefen, hatten sie Institutionen im Rücken, die tief in der Gesellschaft verwurzelt waren: Kirche, Schulsystem, Code Napoleon. Die Frankokanadier stritten, indem sie ihre Kultur verteidigten, zugleich für ihre Art und ihr Verständnis gesellschaftlichen Lebens.
Und die Ostdeutschen? Führen sie ein bloßes Scheingefecht oder sind sie einzig darauf aus, Aufsehen zu erregen, um finanziell und materiell besser bedient zu werden? Hier gibt es keine Beweise, nur Vermutungen. Meine Vermutung ist, dass es den Ostdeutschen sehr wohl um Anerkennung geht; nur steht dabei nicht dieses oder jenes handfeste Interesse im Vordergrund, sondern die Legitimität einer kollektiven Erfahrung, ihrer Erfahrung, der Erfahrung von Menschen mit einem durch die Umstände geschulten Sinn für Ausgleich und Gerechtigkeit. Sie kämpfen um die Legitimität dieser Erfahrung - oft genug mit untauglichen, zu Missverständnissen wie dem der "Nostalgie" Anlass gebenden Mitteln - weil diese fortgesetzt in Zweifel und Misskredit gezogen wird; so als störe sie die Ordnung der Geschichte, als verhielte sie sich wie das Anormale zum Normalen, das Monströse zum Klassifizierbaren. Der rationale Kern ihres "Kulturkampfes" besteht darin, vernehmlichen Widerspruch einzulegen gegen die alerte Einverleibung der in dieser kollektiven Erfahrung aufgehobenen und mit dem Ende der DDR keineswegs erledigten Bestrebungen und Sinnbezüge ins krud Gegebene.
"Sie sprechen doch deutsch", so verstanden, ist die Aufforderung und Zumutung, sich in das symbolische Universum hinein- bzw. kraft eigener Anstrengung zurückzuversetzen, das den einzelnen Worten Bedeutung und Funktion anwies, heißt, in wenig einladender Form darauf hinzuweisen, dass Ostdeutsche unter "Arbeit" anderes und mehr verstanden als einen "guten Job", unter "Gerechtigkeit" immer auch "Gleichheit", und zwar annähernde "Gleichheit im Ergebnis", statt nur "Chancengleichheit", dass sie "Menschenrechte" im Plural definierten, politisch und sozial und bei "Freiheit" nicht zuerst an den Einzelnen, das Individuum, dachten, sondern an kollektive Freiheitsgarantien dem Staat gegenüber, aber nicht minder gegenüber dem Markt.
Wie sehr und weit dieses einst stillschweigende Vorverständnis selbst unter den jüngeren Ostdeutschen noch immer verbreitet ist, in wie hohem Maße es andererseits Barrieren im wechselseitigen Verständnis von heute dreißigjährigen Ost- und Westdeutschen errichtet, wurde mir wieder deutlich, als ich das schon erwähnte Buch der Unterschiede las.
Dort schildert ein Westdeutscher, Jahrgang 1974 seine wiederkehrenden Nöte im Gespräch mit gleichaltrigen und selbst jüngeren Ostlern: "Es scheint, als ob bei diesen Gesprächen ganz langsam, Satz für Satz, eine Distanz entsteht. Man redet sich voneinander weg, so als würde jeder gesprochene Satz einen zehn Meter auseinanderkatapultieren. Am Ende des Gesprächs stehen dann beide hundert Meter voneinander entfernt. Man kann sich nur zuschreien: "Schade! Also dann! Bis zum nächsten Mal!"
Der Text folgt, leicht gekürzt, der Rede, die Wolfgang Engler bei der Entgegennahme des Preises für das politische Buch des Jahres am 9. Mai 2000 im Haus der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin gehalten hat. Sein Buch "Die Ostdeutschen" ist 1999 im Berliner Aufbau-Verlag erschienen, hat 350 Seiten und kostet 39,90 Mark.