Was "mehr ökonomische Kompetenz" nicht bedeutet
Wenige Monate nach der jüngsten Regierungsbildung hatte die deutsche Sozialdemokratie zentrale Anliegen ihrer Wahlkampfagenda verwirklicht, die Forderung nach einem flächendeckenden Mindestlohn ebenso wie die Rente mit 63 nach 45 Beitragsjahren. Diese Erfolge schlugen sich allerdings nicht in besseren Umfragewerten der SPD nieder. Führende Köpfe der Partei forderten daher eine strategische Neuausrichtung: Die SPD brauche mehr Wirtschaftskompetenz, um langfristig wieder zu erstarken.
Das ging politisch schon einmal schief. Man denke an die „Agenda 2010“ und die von Januar 2003 bis Februar 2006 in Kraft getretenen „Vier Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, die so genannten Hartz-Reformen. Davon zutiefst enttäuschte Genossen und Gewerkschaftler formierten sich im Westen Deutschlands zur „Wahlinitiative für Arbeit und Soziale Gerechtigkeit“ und verschmolzen 2007 mit der ostdeutschen PDS zur Linkspartei. Der Protest der Straße schwoll wieder ab, der Durchmarsch der Linkspartei in die westlichen Landesparlamente geriet ins Stocken. Aber an der Fünf-Prozent-Hürde kratzt sie noch immer, im Osten behauptet sie sich bei durchschnittlich 20 Prozent, stellt Minister und demnächst vielleicht den ersten Ministerpräsidenten. Bei nationalen Wahlen graste die Partei linkes Wählerpotenzial der SPD erfolgreich ab und ließ die Hoffnungen auf eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung platzen.
War diese Hinwendung zur Wirtschaft ökonomisch unvermeidlich und im Grunde ein Erfolg – bloß mit politisch höchst unliebsamen Konsequenzen? Braucht es also nur eines langen Atems, um die Verprellten von diesem Weg zu überzeugen und zurückzugewinnen? Zu einer umfassenden Bestandsaufnahme ihres Reformwerks hat sich die SPD leider nie durchgerungen, sondern überließ dies den Fachöffentlichkeiten.
Unterdessen verfügen wir über eine profunde Analyse der seit 2003 beobachtbaren Veränderungen am deutschen Arbeitsmarkt. Die Studie Bewährungsproben für die Unterschicht? der „Jenaer Gruppe“ um Klaus Dörre registriert den Aufschwung der Erwerbstätigkeit. Die Anzahl der Erwerbspersonen stieg zwar deutlich, nicht jedoch das Arbeitsvolumen, also die von diesen Erwerbspersonen geleisteten Arbeitsstunden – ein Indiz für die mangelnde Güte vieler neu geschaffener Stellen.
Menschen in der Zone der Verwundbarkeit
Auf sämtliche Beschäftigungsverhältnisse bezogen, erhöhte sich die atypische Beschäftigung bis zum Ende der Nullerjahre um 46 Prozent. Teilzeitverhältnisse, geringfügige Beschäftigung und Leiharbeit wuchsen ähnlich, die Zahl der Minijobs schnellte auf 7,4 Millionen hoch, davon knapp fünf Millionen im Haupterwerb. Der Niedriglohnsektor wuchs und beschäftigt mittlerweile 23 Prozent der Erwerbstätigen, mit der Folge einer stark wachsenden Zahl von Aufstockern. Fünf Millionen Menschen zählen trotz Erwerbsarbeit zu den Hilfsbedürftigen. Maßnahmeabsolventen, Ein-Euro-Jobber und zeitweise arbeitsunfähige Personen wurden aus der Arbeitslosenstatistik herausgerechnet und der Gruppe der Unterbeschäftigten zugeschlagen – noch einmal rund fünf Millionen Menschen, annähernd so viele wie vor den Reformen. Die rapide um sich greifende Praxis der Werkverträge tat ein Übriges, um verbriefte Arbeitnehmerrechte auszuhöhlen. Das Fazit der Studie lautet: „Die neue Arbeitsgesellschaft, die sich herausbildet, stimmt nur wenig mit dem Bild überein, das Reformbefürworter ... gerne von ihr zeichnen.“
Mehr und mehr Menschen arbeiten und leben hierzulande unter prekären Verhältnissen, bevölkern die „Zone der Verwundbarkeit“ (Robert Castel). Viele von ihnen identifizieren die SPD als Initiator dieses Prozesses. Sie tun dies im Osten Deutschlands aufgrund des Kahlschlags sicherer und auskömmlicher Arbeitsplätze gleich nach dem Umbruch in noch höherem Maße als im Westen. Die Forderung, sich als Unternehmer der eigenen Beschäftigungsfähigkeit zu profilieren, empfand und empfindet man im Osten aufgrund des eklatanten Missverhältnisses zwischen Arbeitswillen und Arbeitsmöglichkeiten als Farce.
Was man von der SPD erwartet hatte (und vielleicht noch immer erwartet), blieb aus: das Eingeständnis des am eigenen Leib erfahrenen Fehlschlags der Politik der Aktivierung und der Selbstermächtigung der Individuen. Was man zu hören bekam, waren halbherzige Erklärungen zu partiellen Fehlentwicklungen, die korrigiert werden müssten. Die Betroffenen dachten anders, sahen darin gerade den „Geist der Reformen“ am Werk. Und dieser Geist trat für sie nirgends klarer zutage als im behördlichen Umgang mit jenen Arbeitslosen, die formell zwar zur Arbeit tauglich waren, sie aus unterschiedlichen Gründen aber nicht leisten konnten.
Unter dem Titel „Lügen und Arbeitslosigkeit“ schrieb Sven Astheimer vor kurzem in einem Artikel für die FAZ: „Es gibt unter den Langzeitarbeitslosen noch eine andere Gruppe. Sie sind, das gestehen Fachleute der Arbeitsagentur längst ein, auch bei bester Konjunktur am Arbeitsmarkt nicht dauerhaft unterzubringen. Kein Arbeitgeber will sie dauerhaft einstellen, weil er spätestens nach Auslaufen der Lohnkostenzuschüsse drauflegen würde. ... Die Gruppe der Unvermittelbaren ist nicht klein. Sie beträgt Schätzungen zufolge bis zu einer halben Million Menschen. Was soll der Staat mit ihnen anfangen? Manchem drängt sich die Gegenfrage auf: Muss der Staat hier überhaupt etwas anbieten? Was wäre die Alternative zu diesem System aus Dauer-Alimentation und gelegentlichen Phasen simulierter Beschäftigung?“ Um eine Antwort ist der Text verlegen.
Warum werden solche Alternativen politisch gar nicht erst erwogen? Weil dadurch eine Lücke im System entstünde, die sich für viele zum Ausgang weiten könnte? Der Kapitalismus ist ein übergriffiges Herrschaftsverhältnis insofern er gerade jene Menschen seiner Logik einverleibt, die unter keinem Gesichtspunkt auch nur als „Reserve“ der Aktiven in Betracht kommen – und er bedient sich dabei staatlicher Macht und ideologischer Instanzen. Der dem Kapitalverhältnis innewohnende Herrschaftscharakter ist dort am stärksten ausgeprägt, wo er am wenigsten sichtbar ist, wo sich das sachliche Verhältnis von Kapital und Arbeit als Verhältnis von Personen darstellt: als Fallmanager und „Kunde“.
Sozialdemokraten in der Klemme
Formell obwalten Gleichheit, Verhandlung und Vertrag, tatsächlich regieren Diktat, Nachforschung und gegebenenfalls Sanktionen. Je unvermittelbarer ein Arbeitskandidat ist, als desto störrischer und arglistiger gilt er. Als selbstverschuldet arbeitslos klassifiziert, kann er (oder sie) nicht auf Respekt zählen, auf zunehmenden Druck dagegen wohl. Mittels neuer sozialstaatlicher Regimes fand das Kapital einen Weg, Nutzen aus den marktwirtschaftlich Nutzlosen zu ziehen. Die systematische Produktion der arbeitslosen Unterschicht geschieht zum Zweck der Einschüchterung und Disziplinierung der Mittelschicht und Arbeitenden.
Diese erfahren Herrschaft mal direkter, mal subtiler, je nach Position im Erwerbssystem. Die einen, zumeist im einfachen Dienstleistungsgewerbe tätig, werden oftmals bis in die Hinterbühnen des Arbeitsgeschehens hinein ausgespäht. Andere sehen sich dazu veranlasst, ohne ausdrückliche Weisung länger zu arbeiten als vertraglich vereinbart. Auf den höheren Etagen investiert eine wachsende Zahl von Beschäftigten zunehmend mehr Energie in die Darstellung ihrer Arbeit als in deren Verrichtung. Hier operiert man beständig im Ankündigungsmodus, verspricht, dieses oder jenes in allernächster Zeit zu tun, wodurch man Schulden anhäuft, die man durch „freiwillige“ Mehrarbeit einlösen muss.
Die arbeitsmarktpolitische Wende der Sozialdemokraten hat das an sich schon vorhandene Übergewicht der Eigentümer und Topmanager in all diesen Aushandlungsprozessen zusätzlich gesteigert, während gleichzeitig die rechtliche und faktische Macht der ganz normalen Arbeitnehmer empfindlich geschwächt wurde. Sofern der Slogan „Mehr Wirtschaftskompetenz!“ eine Neuauflage der Agenda-Politik vorsieht, wäre das für viele Menschen also keine gute Aussicht. Das Band zwischen wirtschaftlichem Wachstum und Statussicherheit lockerte sich nicht zuletzt infolge der „Agenda 2010“; mehr von dieser Politik hieße, es noch weiter auszudünnen. Sozialdemokraten stecken deshalb seit längerem in der Klemme – im Osten Deutschlands, deutschlandweit, international.
In den fortgeschrittenen Industriegesellschaften des Westens folgten Unternehmensgewinne und Arbeitseinkommen in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in etwa derselben aufsteigenden Linie wie die Produktivität. Die ökonomischen Eliten zogen mit ihrer Abkehr vom Teilhabekapitalismus seit den frühen achtziger Jahren einen Schlussstrich unter diese Entwicklung. Aus „Alle zugleich“ wurde „Erst die einen, dann die anderen“ – mit dem Zusatz: „Für alle reicht es vielleicht nicht“. Zwischen Unternehmer- und Arbeitnehmerinteressen politisch zu vermitteln, nötigte die Entscheidungsträger klarer als zuvor dazu, Prioritäten zu setzen.
Liberale und Konservative ergriffen unverzüglich Partei für die Unternehmerseite. Sie waren der Ansicht, dass es für die zu Opfern bereiten Bürger umso besser wäre, je ungehemmter das Kapital in ihrem Land zum Zuge käme. Gesagt, getan. Diesen neuen Gegebenheiten mussten auch Sozialdemokraten folgen, soweit sie die Richtlinien der Politik (mit)bestimmten. Das Verständnis von Reformen und die Reformpolitik veränderten ihren Charakter, wurden defensiv und kompensatorisch. Zuerst tat man das „Unvermeidliche“, dann reparierte man, so gut es ging, die eingetretenen Schäden. Um heute wieder Boden zu gewinnen, muss die internationale Sozialdemokratie, muss die SPD aus dem nostalgischen Traum erwachen, zwei Herren gleichermaßen dienen zu können, dem Staatsvolk und dem Marktvolk (Wolfgang Streeck).
„Mehr Wirtschaftskompetenz“ – das könnte aber auch bedeuten, langfristige ökonomische Wandlungsprozesse konzeptionell zu durchdenken und an prinzipiellen Lösungen zu arbeiten. Schließlich stehen wir am Beginn einer weiteren Beschleunigung rechnergestützter Automatisierung und Robotisierung. Die dritte technologische Revolution bekommt neuen Auftrieb durch steigende Rechenleistung der Computer, Fortschritte auf dem Gebiet der Sensorik, dezentrales Programmieren oder Informationsaustausch zwischen elektronischen Systemen, die voneinander lernen – und das quer durch alle wirtschaftlichen Felder, Zweige und Berufe.
Mit Billigarbeit in die Innovationskrise
Dabei entsteht fraglos neue, höherwertige Arbeit, vornehmlich in der Forschung, der Konstruktion und Softwareentwicklung. Die menschliche Intuition, die Fähigkeit, mit Unvorhergesehenem umzugehen, wird hier ihren Platz behaupten. Gerade durchgehend automatisierte Abläufe erfordern qualifiziertes Personal für die Qualitätssicherung und Zurechnung nomineller Verantwortung. Trotzdem wird es wohl per Saldo und in absehbarer Zeit eine erhebliche Freisetzung an lebendiger Arbeit geben.
Mit einer Politik der billigen Arbeit nach dem Motto „Lieber Arbeit subventionieren als Arbeitslosigkeit“ verfehlt man allerdings diese Herausforderungen. Man mag zwar die internationale Konkurrenzfähigkeit der eigenen Wirtschaft für wenige Jahre verbessern und darf sich über wachsende Steuereinkünfte freuen. Doch mittelfristig rächt sich diese Strategie, da sie den Ansporn für Innovationen kappt. Nur Hochlohnländer behaupten sich auf Dauer an der Spitze des technischen Fortschritts und streichen im globalen Wettbewerb die Dividende dafür ein. Die wachsende Kluft zwischen Arbeit nachfragenden und Arbeit leistenden Menschen wird auch sie vor Probleme stellen, für die es bislang keine politischen Rezepte gibt.
Wie soll es mit dem Menschen im Zeitalter seiner Substituierbarkeit als Animal laborans weitergehen? Die Hinwendung der Sozialdemokraten zu den fundamentalen Zukunftsfragen der Erwerbsgesellschaft böte ihnen reichlich Anlass, ihr sozialpolitisches Erbe aufzufrischen und es mit zeitgemäßem wirtschaftlichem Sachverstand zu untermauern. Dabei würde ihnen auch dämmern, dass die heutige Art des Umgangs mit ökonomisch unbrauchbaren Menschen ebenso perspektivlos wie kleinkariert ist.