Springt nicht über jedes AfD-Stöckchen!
Als führende Politikerinnen der AfD im Januar 2016 den Schießbefehl gegen Flüchtlinge an der Grenze ins Spiel brachten, atmeten die demokratischen Parteien der Mitte hörbar auf. Endlich hatte sich die AfD entlarvt und ihr wahres Gesicht gezeigt. Entsetzt in der Sache, aber begeistert über das neue Argument gegen die AfD stürzten sich Politiker aller Couleur auf diesen „Fauxpas“: Die Unmenschlichkeit der AfD sei nun endlich belegt und müsse jetzt auch von allen gesehen werden. Ab sofort tauchte der AfD-Schießbefehl in allen Medien und in allen Handreichungen zum Umgang mit der rechtspopulistischen Partei auf – als ultimatives Argument gegen sie. Gewählt wurde die AfD später aber trotzdem, und zwar von weit mehr Bürgern, als sich die meisten Beobachter jemals hätten vorstellen können.
Wir sollten uns daher einen Moment Zeit nehmen und überlegen, ob Politik und Öffentlichkeit mit ihrer Reaktion nicht in die Falle der AfD getappt sind: Tauchte der Schießbefehl vielleicht gar nicht zufällig als unüberlegte Äußerung in der Debatte auf? War er vielmehr ein kalkulierter Tabubruch, ein Köder, der genau die dann eingetretenen Effekte zum Ziel hatte? Denn für die AfD waren die Reaktionen der etablierten Parteien und die Erregung der Medien wahre Aufmerksamkeitsgeschenke. Alle Welt sprach plötzlich vor den Landtagswahlen nur noch über die AfD und wie sie die Flüchtlingskrise lösen wolle. Am Ende der Debatte ruderten Frauke Petry und Beatrix von Storch dann zwar von ihren Aussagen zurück („missverstanden“, „von der Maus abgerutscht“) und entsprachen damit auch dem Gerechtigkeitsempfinden der meisten Deutschen. Aber eine Botschaft war bei den Wählern doch endgültig angekommen: Diese Partei meint es ernst damit, unsere Probleme zu lösen.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Natürlich muss man auch weiterhin das wahre Gesicht der AfD aufzeigen und auf die menschenfeindlichen Positionen der Populisten hinweisen. Aber am Ende ist nicht entscheidend, wie oft und wie erregt andere Parteien der AfD widersprochen haben, sondern wie viele Menschen der AfD an der Wahlurne ihre Stimme geben. Wir sollten uns daher mit der unbequemen Tatsache auseinandersetzen, dass die Stimmanteile der AfD auch mit der Aufmerksamkeit steigen, die der Partei in der öffentlichen Debatte beigemessen wird.
Entscheidend ist dabei die Frage, auf welchem „Spielfeld“ die Wahl aus Sicht des Publikums stattfindet. Betrachten die Wähler ein Spiel zwischen zwei Spitzenkandidaten – treffen sie also eine Entscheidung über Personen? Entscheiden sie über ein Spiel zur Frage des sozialen Zusammenhalts? Oder wird die Wahl auf dem Spielfeld des Themas „Lösung der Flüchtlingskrise“ ausgetragen? Für die AfD ist dieses Spielfeld das einzige, auf dem sie gewinnen kann. Hier hat sie ihr Alleinstellungsmerkmal und ihre – mutmaßliche – Kompetenz. Nur bei diesem Thema lautet die wahlentscheidende Frage: „AfD oder Altparteien?“ Genau deshalb ist es für die AfD so wichtig, dass sich die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf dieses Spielfeld richtet.
Aus Sicht der SPD aber sollte die wahlentscheidende Auseinandersetzung nicht auf dem Spielfeld der Flüchtlingspolitik oder der Integration stattfinden, sondern bei einem Thema, bei dem ganz eindeutig das Spiel „Union gegen SPD“ gespielt wird. Nur auf diesem Spielfeld kann die SPD ihre Stärke ausspielen, nur hier wird ihr auch zugetraut zu gewinnen und nur hier wird sie nicht in denselben Topf geworfen wie die anderen „Altparteien“.
Wie das Kaninchen vor der Schlange
Wenn aber auch die Sozialdemokraten – wie im Fall des AfD-Schießbefehls – nur gebannt auf das Spielfeld der Rechtspopulisten starren, dann geben sie ihre Themen mit den besten Gewinnaussichten freiwillig preis. Genau deshalb befürchtet Sigmar Gabriel zu Recht, dass die SPD in den nächsten Monaten wie das Kaninchen vor der Schlange sitzen könnte: Würde die SPD ihre ganze Aufmerksamkeit angstvoll auf die Frage richten, wie die AfD zu verhindern sei, würde sie den Rechtspopulisten geradewegs in die Falle tappen.
Dazu ein paar Beispiele: In Bremen legte die rot-grüne Regierungskoalition kürzlich ein Gesetz vor, um die AfD aus dem Beirat der öffentlichen Landesrundfunkanstalt herauszuhalten. Einmal abgesehen davon, dass es hierfür kaum rationale Argumente gibt und der Eindruck von Parteien, die demokratische Spielregeln ändern, eher schädlich ist: Am Ende gewinnt nur die AfD, denn sie erhält kostenlose Aufmerksamkeit.
In den sozialen Medien ist es zum Hobbysport geworden, Rechtschreibfehler auf Werbeanzeigen der AfD zu suchen und auf diese mit abfälligen Kommentaren aufmerksam zu machen. Selbst überregionale Zeitungen beteiligen sich daran. Die Folge: AfD-Anzeigen werden massenweise geteilt und ihre Reichweite deutlich vergrößert. Am Ende erhalten AfD-Politiker Mitleid und Zuspruch für ihre orthographische „Volksnähe“ – und wiederum jede Menge Aufmerksamkeit.
Nach den Kommunalwahlen in Hessen setzten sich in einigen Orten die etablierten Parteien an einen Tisch, um gemeinsam der AfD das Leben schwer zu machen. „Der neue Gegner schweißt uns zusammen“, hieß das Leitmotiv. Dabei wird aber übersehen, dass eine solche Allparteienkoalition genau den Eindruck von Alternativlosigkeit erzeugt, der die AfD überhaupt erst großgemacht hat. Nicht weniger, sondern mehr Streit zwischen den etablierten Parteien wäre daher nötig.
Penetranz und Konfrontation
Diese Fälle zeigen vor allem eines: In der Praxis ist es verdammt schwer, nicht kaninchenhaft auf die Schlange zu starren. Denn was die AfD so alles von sich gibt, ist häufig schwer zu ertragen. Und es ist immer leichter, auf dem Spielfeld zu spielen, das gerade im Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit steht. Das finden Journalisten interessanter, und es ist auch emotional näher-liegend, der AfD in irgendeinem Parlament eine rassistische Argumentation nachzuweisen, als das Thema zu wechseln und über die Zukunft der Rente zu reden.
Aber genau das muss die SPD hinbekommen. Sie muss die Aufmerksamkeit auf sich und auf ihre eigenen Themen lenken. Hin zu den sozialdemokratischen Themen, hin zu gesellschaftlichem Zusammenhalt, zur Sozialpolitik, zu Gerechtigkeitsfragen. Auch wenn das schwierig ist, es muss immer wieder und jeden Tag neu versucht werden. Ich schlage dazu die „5:1-Regel“ vor: Die SPD sollte fünfmal häufiger über ihre eigenen Kernanliegen sprechen als über die Anliegen der AfD (Flüchtlinge, Integration, Kriminalität). Eine solche Regel könnte es sozialdemokratischen Akteuren in der Praxis leichter machen, sich in Reden, Interviews und anderen Veröffentlichungen immer wieder daran zu erinnern, was am Ende wahlentscheidend ist.
Denn um die eigenen Themen wieder auf die Tagesordnung zu setzen, braucht es vor allem Geduld, Regelmäßigkeit, einen erkennbaren roten Faden und: Wiederholung, Wiederholung, Wiederholung. Wer nur oft genug über eine Sache redet, wird irgendwann auch Journalisten finden, die darüber schreiben. Es gibt genügend Beispiele dafür, wie Politiker ihre Themen mit dieser Strategie in die Öffentlichkeit gebracht, eine Debatte entfacht und sogar Gesetze durchgesetzt haben. Die kalte Progression ist dafür ein gutes Beispiel aus den vergangenen Jahren.
Aber Penetranz allein genügt nicht. Es braucht auch Gegenspieler, die den Ball und das Thema aufnehmen. Alleine kann die SPD das Spielfeld, das sie braucht, nicht bespielen. Ein gewisses Maß an Konfrontation auch innerhalb der Großen Koalition ist deshalb unerlässlich. Diese Konfrontation hilft übrigens auch der Union – denn auch dort muss man ein Interesse daran haben, 2017 nicht auf dem Spielfeld der Flüchtlinge und der Fremdenfeindlichkeit Wahlkampf zu führen.
Auf das eigene Spiel kommt es an
Auf Penetranz und Konfrontation kommt es also an. Daneben braucht die Sozialdemokratie aber auch wieder mehr „Lautsprecher“ in der Gesellschaft, die ihre eigene Kommunikation verstärken. Die gesellschaftliche Debatte, die der Armuts- und Reichtumsbericht oder auch der Rentenbericht der Bundesregierung in diesem Jahr mit sich bringen werden, könnten solche Themenverstärker sein. Aber auch die Gewerkschaften und andere gesellschaftliche Organisationen müssten dafür mit ins Boot geholt werden. Die SPD muss die kontroversen Themen dort aufgreifen, wo sie entstehen. Sie muss zum Lautsprecher dessen werden, was die Menschen in unserem Land umtreibt. Aber bitte nicht, indem Sozialdemokraten flüchtlingsbezogene Ängste verstärken. Die Gefahr, dann Applaus von der falschen Seite zu bekommen, ist viel zu groß.
Im Sinne der 5:1-Regel sollte die SPD vielmehr auf ihre eigene Stärke vertrauen, auf die Kraft ihrer eigenen Gerechtigkeitsthemen, auf den Wunsch der Menschen nach gesellschaftlichem Zusammenhalt. Die SPD sollte wieder ihr eigenes Spiel starten, anstatt reaktiv auf die Themen und Provokationen der AfD einzugehen. Das Spiel der Populisten sollten Sozialdemokraten jedenfalls nicht mitspielen.