Spur der Steinewerfer
Die heute Fünfunddreißigjährigen müssen sich fragen, ob sie eines Tages nicht wirklich ohne Schatten sein werden und ob man das wollen soll, ein Mensch ohne Schatten oder eine Demokratie ohne Schatten; denn wo Licht ist, fällt Schatten. Und wenn dieser Schatten weg ist, wenn man den versucht wegzunehmen, dann verliert man woanders.
Bundesaußenminister Joseph Fischer (2001)
Diesmal konnten sie wirklich nichts dafür, die Rebellen von einst. In den mit wachsender Andacht begangenen Jubiläumsjahren - 1988, 1993 und 1998 - waren es die seinerzeit Beteiligten selbst, die ihre Jahre zwischen Ohnesorg und K-Gruppentum effektvoll aufs Programm setzten. Im Winter 2000/2001 lief die Sache gründlich anders. Ein bemerkenswertes Gemisch aus kuriosen Zufällen und politischen Kalkülen liegt der jüngsten Aufregung um Achtundsechzig und die Folgen zugrunde: Da war die Aussage des Bundesaußenministers vor Gericht. Da gab es die unverhofft aufgetauchten Fotos jener Frankfurter "Rangelei" (FAZ), an welcher sich der junge Joseph Fischer beteiligt hatte. Sodann sorgte die Zufallsbegegnung zweier Männer aus Göttingen in der Eisenbahn für Aufregung. Daß im Verlagshaus Springer sämtliche Sicherungen durchbrannten, spielte eine zentrale Rolle und die bedenklich fortgeschrittene sozialmoralische Orientierungslosigkeit der deutschen Christdemokratie nicht weniger.
Genug Brennmaterial kam so mühelos zusammen, um eine kurzweilige, aber konfuse Debatte ein paar Wochen lang am Köcheln zu halten. Selbst im Bundestag ging es für ein paar aufschlußreiche Augenblicke sehr munter zu. Schließlich wurde das Thema medial kleingearbeitet auf alberne Fragen danach, ob Joseph Fischer in seiner Frankfurter WG-Küche irgendwann einmal gemeinsam mit einer Terroristin seine Frühstückseier aufgeklopft habe oder nicht; und ob die Verhandlungen eines PLO-Kongresses in Algier 1969 spannend genug waren, um die Aufmerksamkeit des späteren Außenministers länger als eine Stunde zu fesseln.
Geht es wirklich nicht besser? Man muß kein Fan von Fischer sein, um an diesen Formen und diesem Niveau des geschichtspolitischen Diskurses zu verzweifeln. Fischers Umgang mit
der eigenen Vergangenheit mag man fragwürdig finden, und in "1968" braucht man beileibe nicht die alleinige Geburtsstunde freiheitlicher Demokratie in Deutschland zu vermuten. Aber gerade darüber ließe sich aus gegebenem Anlaß ja vorzüglich - und im Ergebnis lehrreich - streiten. Wo man sich dagegen gleichsam voraussetzungslos um irgendwelche Einzelheiten zankt, ohne auch nur ansatzweise den Versuch zu machen, Kontexte und Wirkungszusammenhänge zu erhellen, wird eine Gelegenheit zur gesellschaftlichen Selbstverständigung achtlos vertan.
Nötig wäre die kontroverse, dabei zugleich einigermaßen verständige Debatte ja durchaus. Wer wissen will, wie die Menschen in diesem Land ticken, aber - zum Beispiel durch späte Geburt oder ostdeutsche Herkunft - daran gehindert war, die aufgewühlten sechziger und siebziger Jahre leibhaftig mitzuerleben, der könnte bei solch einem Disput eine ganze Menge begreifen: über jene Ära im Besonderen, aber auch über Menschen und Politik im Allgemeinen, über Irrwege und Lebenslügen, über frühe Gläubigkeit und späte Amnesie. Kein Zweifel, Joseph Fischer hat seine Frage nach den Menschen und der Demokratie "ohne Schatten" auch in eigener Sache aufgeworfen. Daß sie von denen, die zu spät kamen, um die Gesellschaft dieser Republik noch im Zustand innerer Aufruhr zu erleben, kurzerhand beiseite gewischt werden könnte, ist damit freilich keineswegs gesagt. Das Gegenteil trifft zu: Fischers Frage wird den Jüngeren, gerade jenen in der Politik, noch heftig zu schaffen machen. Sie tut es im Grunde schon heute.
Was das jüngste Spektakel neu und bemerkenswert machte, war in der Tat der Umstand, daß hier zum ersten Mal nicht deshalb über die Achtundsechziger und ihre Zeit geredet wurde, weil den einstigen Protagonisten selbst gerade wieder einmal danach war. Gewiß, als die Medienmaschinerie in Gang gekommen war, konnten es sich die üblichen Aufrechten und Überläufer naturgemäß nicht verkneifen, das jeweils Erwartbare zum Besten zu geben - sie haben ja längst jene oberen Ränge in Politik und Medien, in denen man sich unaufgefordert selbst das Wort erteilen kann, erklommen. Dennoch wurde spürbar, daß sie auf einmal nicht mehr die Herren der Debatte waren. Etwas hat sich verändert: Aufs Ganze gesehen sind es plötzlich die Jüngeren, die - als historisch bewußtlose Journalisten, eifernde Politiker oder inquisitorische Staatsanwälte - den Ton vorgeben, nach dem die Dabeigewesenen glauben tanzen zu müssen. Anmaßende Fünfunddreißigjährige erobern die mediale Lufthoheit, kleinlaut bitten die Rebellen von einst um Vergebung für ihre frühen Verfehlungen, rechtfertigen sich und weichen aus.
Die Lage wird dadurch nur noch unübersichtlicher. So mag es der ohne eigenes Verschulden später geborene Mensch begrüßen, daß all die Joschkas und Joschas der Republik nach ihren Jahrzehnten der Verblendung am Ende doch noch in den sicheren Hafen bürgerlicher Wohlanständigkeit eingelaufen sind. Denn daß ihr Aufbegehren Merkmale des Wahnhaften trug, ist ja nicht zu bestreiten. Dennoch: Den Typus des Renegaten, der einst für den Umsturz kämpfte und heute aus dem sicherem Abstand gesellschaftlicher Arriviertheit eilfertig das eigene Leben widerruft - den findet man dann doch ein bißchen widerwärtig. "Besser, es hätte sie nie gegeben", die Revolte, erklärt der einstige Frankfurter Leitrebell Thomas Schmid heute als Leitartikler in der FAZ. Was von später Einsicht zeugt, ist doch zugleich ein opportunistischer "Kotau vor der heute herrschenden Bankangestelltenmentalität" (Karl Heinz Bohrer). Weder mit dem Wahn ihrer frühen Jahre noch mit der anpasserischen Verleugnung der eigenen politischen Biografie können die Achtundsechziger bei den Jüngeren heute viel Respekt erheischen. Man zollt ihnen keine Achtung für ihren wirren Aufstand, doch verdruckste Entschuldigungen oder verstocktes Schweigen wirken auf den Nachwuchs erst recht peinlich.
Es geht dabei durchaus nicht nur um die Steinewerfer und Motorradhelmträger. Vom Problem mangelnder biografischer Identität und Kohärenz sind, auf durchaus vergleichbare Weise, auch die Frontleute der beiden Berliner Regierungsparteien betroffen, so weit ihre politische Sozialisation irgendwann zwischen Notstandsgesetzgebung und Nachrüstungsdebatte begann - also fast alle. Sehr links, sehr sozialistisch waren sie ja quer durch die Bank in ihren wilden Jahren. Kaum jemand sitzt im Kabinett, der nicht irgendwann mindestens den Kapitalismus überwinden wollte. Heute sehen sie es anders, und das ist aufs Ganze gesehen kein Nachteil. Doch wen gibt es, der sich selbst oder den Jüngeren im Land nachvollziehbar erklärte, auf welche Weise und ausgelöst durch welche Lernprozesse, Erfahrungen, Anstöße ihn sein politischer Weg schließlich in die politische Mitte geführt hat?
Es ist ja durchaus nicht so, daß die Wege der Achtundsechziger und ihrer Epigonen unergründlich bleiben müssten. Es hat in der Bundesrepublik nie besonders überzeugende Gründe dafür gegeben, dem marxistischen Theorem des staatsmonopolistischen Kapitalismus anzuhängen, geschweige denn Gestalten wie Ho Chi-Minh, Mao, Enver Hodscha, Pol Pot, Fidel Castro oder Josip Broz Tito zu verehren. Die es taten und davon abgingen, haben die Einsicht am Ende auf ihrer Seite. Nur erklären können oder wollen sie es eben nicht besonders gut: Damals waren sie, wie sie damals waren - und heute sind sie eben anders; einst wollten sie den Sozialismus, heute sind sie Pragmatiker und glauben an gar nichts mehr. Der zurückgelegte Weg dazwischen mag in vielen Fällen folgerichtig gewesen sein. Das ändert aber nichts daran, daß er ebenso oft in tiefem Dunkel liegt. Und das ist ein Problem. Denn wer in der Politik nicht sagen kann, woher er kommt, was ihn antreibt und warum ihm frühere Überzeugungen nichts mehr gelten, der wirkt bald unecht und zynisch, als kalter Macher ohne Ziele und Prinzipien.
Gerade die pragmatischen Jungen aller Parteien, die nach der Verrentung der Achtundsechziger bereits in wenigen Jahren ganz auf sich gestellt sein werden, stürzt diese Konstellation in ein beträchtliches Dilemma. Von überbordenden Ideologien und Glaubenssätzen, Visionen und Programmen jeder Art haben sie sich abgewandt - das alles scheint gescheitert und verbraucht. Doch der allzu wurstige, allzu sprachlose und ideenpolitisch arme Ersatz, der reine Pragmatismus der Gegenwart bietet nirgends jene fesselnden Rezepte, Zukunftsbilder oder Ziele, die irgendein dauerhaftes Engagement rechtfertigen und irgendeine echte Begeisterung auslösen könnten. Es fehlt den Jungen zwar jeder "Schatten", das schon, doch offensichtlich eben auch irgendein strahlendes Licht - in diesem Punkte hat Joseph Fischer schon ganz Recht. Und mit ebendiesem Defizit werden sich die heute Fünfunddreißigjährigen noch schwer herumschlagen. Weil die demnächst Retirierenden längst aufgehört haben, über irgendwelche Ideen oder Ziele zu sprechen, haben es die Jungen überhaupt nie geübt. Sie werden es lernen müssen. Tun sie es nicht, verlieren sie in der Tat woanders. Und sei es nur bei Wahlen.