Stabilität durch Vernetzung
Deshalb haben wir eine föderal zusammengesetzte Kommission zur Reform der bundesstaatlichen Ordnung gebildet. Und zwar höchstkarätig besetzt: Franz Müntefering und Edmund Stoiber sind ihre Vorsitzenden. Wir wollen also heraus aus der Politikverflechtungsfalle. Endlich und mit aller Macht. Eine Kraftanstrengung ist in der Tat nötig. Zu Recht beklagen die Bürger die Handlungsunfähigkeit des politischen Systems.
Doch beim Sprung aus der Politikverflechtungsfalle drohen wir uns das Bein zu brechen. Jedenfalls was den Bereich Bildung und Forschung anbetrifft. Denn trotz aller Abstimmungsprobleme zwischen Bund und Ländern sollten wir sorgfältig überlegen, was wir verlieren können. Denn die Verflechtung bedeutet auch: Zusammenarbeit – und sei es auch gezwungenermaßen.
Die Länder sehen im Bildungsbereich den Kernbestand ihrer Kompetenz. Mehr noch: ihre Existenzberechtigung. „Ohne Bildung wäre jeder Ministerpräsident ein besserer Regierungsdirektor“, meint ein besonders prominenter Landesminister. Also bitte, dann wollen wir an den Länderkompetenzen für die Schule nicht rühren, vergebene Liebesmühe. Es bleibt bei den äußerst schwierigen Prozessen, wenn der Bund helfen will, etwa beim Ausbau der Ganztagsschulen. Es sagen einem zwar auch landespolitisch Verantwortliche, dass nicht nur gemeinsame Bildungsplanung sinnvoll, sondern sogar eine stärkere Rolle des Bundes notwendig ist, damit die Länder den Hintern hoch bekommen und die notwendigen Reformen angehen. Aber daraus wird offenbar nichts – zum Leidwesen der Bildung. Dabei brauchen wir so dringend eine nationale Debatte über das Verhältnis von Schule und Familie oder über das dreigliedrige Schulsystem.
Zeigt Edelgard Bulmahn die Instrumente vor?
Mehr Spielräume hat der Bund in Wissenschaft und Forschung. Da findet der eigentliche Machtpoker zwischen Bund und Ländern statt. Es geht um die Hochschulen, um die außeruniversitäre Forschung und vor allem um viele Milliarden Euro. Nachdem die Länder per Beschluss der Ministerpräsidenten aus der gemeinsamen Bildungsplanung ausgestiegen sind, hat Edelgard Bulmahn einen Vorschlag aus den Schubladen ihres Ministeriums geholt. Danach könne der Bund die Verantwortung für die Forschungseinrichtungen Helmholtz-Gemeinschaft, Max-Planck-Gesellschaft (MPG), Fraunhofer-Gesellschaft und Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) übernehmen. Den Ländern verblieben die Leibniz-Institute (vormals so genannte Blaue Liste).
Ist das eine Retourkutsche, ein Griff zu den Folterwerkzeugen? Oder doch eher ein überfälliger Vorschlag zur Modernisierung des überholten, auf Konsens basierenden und dadurch unbeweglichen und suboptimale Ergebnisse produzierenden Systems – also ein Weg aus der Politikverflechtungsfalle?
Ich stehe dem Vorschlag skeptisch gegenüber. Nicht weil mir die Machtinteressen der Landesfürsten so am Herzen lägen. Vielmehr frage ich, welche Konsequenzen die Verwirklichung einer solchen Neuordnung hätte. Offensichtlich bekämen viele Leibniz-Institute ein Problem, weil sie vor allem im Osten und Norden der Republik angesiedelt sind und von den dortigen finanzschwächeren Ländern schwer zu halten wären. Selbst wenn es eine finanzielle Kompensation durch den Bund gäbe – wie schnell würden die Landesfinanzminister Haushaltslöcher durch Kürzungen bei überregional wirkenden Forschungseinrichtungen stopfen wollen?
Innovation wird mit Technologie gleichgesetzt
Darüber hinaus hätten die Länder keinen Einfluss mehr auf die außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Ist es sinnvoll, sie damit auch aus der gemeinsamen Verantwortung zu entlassen? Die so genannte Versäulung der Forschungslandschaft, also die Trennung von Hochschule und außeruniversitärer Forschung würde verstärkt. Die Länder wollen bei der DFG und den weiteren Forschungseinrichtungen mitreden, weil sie für die Universitäten der Länder von herausragender Bedeutung sind, jedenfalls sein sollten. Damit sind die Länder auch in der Pflicht, haben Interessen und stabilisieren die Finanzierung von Forschung. Mitnichten muss in den Haushaltsverhandlungen immer der Bund die Länder mitschleppen.
Doch nicht nur die Stabilität der Finanzierung und die sinnvolle Kooperation macht mir Sorgen. Ohne Bundesministerin Bulmahn oder den jeweiligen Landesregierungen unlautere Motive vorzuwerfen: Es steht die Frage im Raum, inwieweit auf Dauer – gegebenenfalls unter anderen politischen Mehrheitsverhältnissen – die Unabhängigkeit der Forschung gewährleistet werden kann, wenn die Finanzierung immer aus nur einer Hand stattfindet. Hinter den Steuerungswünschen von politischer Seite mögen ja durchaus gute Absichten stehen. Doch leider sind sie zu häufig kurzfristig und einzig auf Prestigegewinn orientiert. Eine allein zuständige staatliche Instanz wird Geistes- und Sozialwissenschaften, wird so genannte Orchideenfächer vielleicht nicht mehr ausreichend fördern. Disziplinen, deren wirtschaftliche Verwertung nicht unmittelbar auf der Hand liegt, haben es heute schon schwer genug.
Meist wird, auch von politischer Seite, Innovation mit neuen Technologien gleichgesetzt. Dabei war es doch gut, dass es in den vergangenen Jahrzehnten Bildungsforschung gab – obwohl die Öffentlichkeit, obwohl kaum ein Politiker sie für wichtig erachtete. Jetzt plötzlich, im Gefolge der PISA-Studie, können wir gar nicht genug bekommen von Studien, Vorschlägen und wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Thema. Und wie war das mit den Islamwissenschaften vor und nach dem 11. September 2001?
Wirre Verflechtung oder stabile Vernetzung?
Wissenschaft muss sich auch scheinbar „unnütz“ entfalten dürfen und können. Innovationen lassen sich nicht politisch verordnen, sondern entstehen in einem kreativen Prozess, für den Wissenschaftler gute Arbeitsbedingungen, Kommunikationsmöglichkeiten und vor allem viel Freiheit benötigen. Sicher gibt es das berechtigte Interesse zu prüfen, was mit den eingesetzten öffentlichen Mitteln gemacht wurde und gemacht wird – dafür gibt es wissenschaftliche Evaluationen, und dafür werden Rahmenbedingungen gesetzt. Und darum sollte es auch möglichst nicht nur ein einziger staatlicher Geldgeber sein, der die Musik bestellen will.
Die kritisierte Politikverflechtung in Wissenschaft und Forschung scheint mir – jedenfalls an vielen Stellen – eher eine Politikvernetzung zu sein, auf deren Habenseite die in diesem Feld so notwendige Stabilität steht, gemeinsame Verantwortung und Zusammenarbeit. In diesem Sinne sehe ich auch Vorschläge der Länder kritisch, Aufgaben in ihren Bereich zu verlagern. Anhand der von den Ländern ins Spiel gebrachten Beendigung der gemeinsamen Finanzierung des Hochschulbaus zeigt sich, was bei solchen Veränderungen droht: Umgehend wurden im Bundeshaushalt die Mittel gekürzt. Selbst wenn die Länder Mittel vom Bund erhalten – werden sie für die Hochschulen vorgesehen? Was passiert auf lange Sicht bei den finanzschwachen Ländern? Bislang konnten die Wissenschaftsminister mit dem Hinweis auf die Kofinanzierung durch den Bund Maßnahmen durchsetzen. Das dürfte allerdings auch der Grund dafür sein, dass die Landesfinanzminister und viele Ministerpräsidenten diesem Verfahren kritisch gegenüberstehen.
Kleinstaaterei in der Hochschulpolitik
Der Hochschulbau ist auch ein gutes Beispiel für die Notwendigkeit einer gemeinsamen, nationalen Ebene der Debatte und für die Bedeutung des Bundes als konstruktiver Mitgestalter des Wissenschaftssystems. Gemeinsame Finanzanstrengungen sind sinnvoll, aber auch gemeinsame Planungsprozesse, mit dem Bund als Wahrer überregionaler Interessen, damit die Anstrengungen koordiniert werden und nicht ähnliche Einrichtungen mehrfach entstehen und dann unzureichend ausgelastet sind.
Überhaupt, die Hochschulpolitik. Hier wollen Länder den Bund zurückdrängen. Die Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zur fünften und sechsten Novelle des Hochschulrahmengesetzes (Juniorprofessuren und Studiengebühren) durch unionsgeführte Länder sollen verfassungsrechtlich das vorbereiten, was politisch in der Föderalismuskommission angestrebt wird. Doch mit welchem Ziel – außer dem des Ausbaus eigener Macht? Die angestrebte Kleinstaaterei bei den Studiengebühren scheint mir nicht zielführend. Welchen positiven Effekt sollen unterschiedliche Regelungen in den Ländern haben? Liegt die Zukunft wirklich im Wettbewerbsföderalismus? Wären unter solchen Bedingungen nationale Erfordernisse wie die optimale Ausbildung möglichst vieler Akademiker zu erreichen?
Die Antwort auf die Gebührendebatte ist ein bundesweites Bildungskontenmodell, das auch den Charme hätte, Länder, deren Bürger in einem anderen Bundesland studieren, zur Finanzierung der Hochschulen in den über Bedarf ausbildenden Ländern heranzuziehen. Das scheint mir das richtige Herangehen an den Wettbewerbsföderalismus zu sein: Bayern etwa lässt seine jungen Menschen in Berlin und anderswo teuer ausbilden und kauft sie dann nach abgeschlossener Ausbildung wieder ein. Was man anderswo Wettbewerbsverzerrung nennt, muss auf nationaler Ebene verhindert werden!
Einheitliche, aber übersichtlich gestaltete Rahmenbedingungen sowie Zielbestimmungen und dadurch Freiheit in der Erarbeitung je eigener Profile – das ist der Weg der Wahl für die Hochschulen im Interesse der Studierenden. Es geht nicht um Gleichmacherei und Verreglementierung. Bund und Länder haben in diesem Sinne gemeinsam eine Reform des Hochschulzuganges vereinbart, die die Zulassung zum Studium sowohl verfassungsgemäß wie den Bildungsinteressen der Menschen entsprechend sichert und dabei den Ländern und Hochschulen Spielräume zur Ausgestaltung der Zugangsvoraussetzungen einräumt. Ausgezeichnet!
Wer nicht in das Lied von der bösen Politikverflechtung einstimmt, will also keineswegs unbedingt einfach alles so lassen, wie es ist. Im Gegenteil ist soviel zu tun, dass wir die Kraft aller Beteiligten benötigen. Ich sehe auch, dass die Tatsache, dass jedes Land mitreden kann, zu Entscheidungen führt, die anderenfalls sachgemäßer ausgefallen wären. Wettbewerbselemente gehören in die Entscheidungsverfahren, und das Einstimmigkeitsprinzip unter den Ländern ist zu überdenken. Die Herausforderung besteht darin, diese Probleme zu entschärfen ohne die Vernetzung zu kappen. Wollen wir angesichts der Internationalisierung der Wissenschafts- und Forschungswelt und der damit verbundenen Konkurrenzsituation im Ernst föderale Flickenteppiche erzeugen, anstatt die Kräfte und Mittel zu bündeln? Wollen wir uns in Anbetracht der zentralen Bedeutung, der wir alle Bildung und Forschung beimessen, tatsächlich unproduktive Konkurrenzverhältnisse leisten?
Nebenbei: Ein Erfolg von Edelgard Bulmahn!
Die Förderung von Spitzenhochschulen könnte ein neues gelungenes Beispiel der Zusammenarbeit werden. Der Bund wollte fünf Hochschulen fördern. Das hätte für mindestens elf Länder bedeutet, dass sie leer ausgehen – und hat demzufolge sofortige Gegenreaktionen ausgelöst. Daraufhin wurde ein Kompromiss gefunden, der die notwendige Förderung in der Breite (und damit in allen Ländern), aber eben auch das Setzen von Schwerpunkten in Form eines Wettbewerbs vorsieht. Gemeinsam geplant und durchgeführt, versteht sich. Und die Länder wollen mitfinanzieren. Ein Gewinn für die Hochschulen und, nebenbei gesagt, ein Erfolg von Edelgard Bulmahn. Vor allem aber der beste Beweis für das Funktionieren der Politikvernetzung. Das dürfte auch der Grund dafür sein, dass die Vereinbarung von der Länderseite angehalten wurde – bis die Ergebnisse der Föderalismuskommission vorliegen.
Wo die Habilitierten in den roten Roben irren
In ihrem Kampf gegen den Bund fühlt sich die Union als Akteur der Hochschulpolitik durch das Bundesverfassungsgerichtsurteil zu den Juniorprofessuren gestärkt. Mit fünf zu drei Stimmen wurde die fünfte HRG-Novelle einkassiert. Das allein reicht aus als Beweis dafür, dass der Bund unbedingt eine klare Gesetzgebungskompetenz erhalten muss. Ein wesentlicher Reformimpuls zur Verbesserung der Perspektiven der Nachwuchswissenschaftler – in Hochschulen aller Bundesländer dankbar aufgenommen! – ist von einigen Habilitierten in roten Roben für nichtig erklärt worden. Da die Juniorprofessur gut angenommen wurde, ist zu hoffen, dass sie in einer gesetzlichen Neuregelung unter Einbezug der Länder weiterleben wird.
Das Schlimmste jedoch ist, dass das Bundesverfassungsgericht mit Bezug auf die föderale Orientierung des Grundgesetzes ein Gesetz offenkundig deshalb gekippt hat, weil es politisch nicht gepasst hat – und dass somit der politische Gestaltungsspielraum des Bundesgesetzgebers auf nahezu Null reduziert wurde. Niemand ist berufener, diese harte Bewertung vorzunehmen, als die drei Mitglieder des Gerichtes, die ein ungewöhnlich scharf formuliertes Minderheitenvotum abgegeben haben.
Die Förderalismuskommission ist also aufgefordert, nicht eine verfassungsrechtlich „schöne“ Regelung im Sinne einer Trennung der Verantwortlichkeiten zu finden und Machtgelüste zu befriedigen. Sie muss Voraussetzungen für die bestmögliche Bildungs- und Forschungspolitik schaffen – durch Klarheit über die gemeinsame Verantwortung von Bund und Ländern.