Stehen wir am Abgrund?

Krisen bergen die Möglichkeit der Katastrophe in sich - aber auch die Möglichkeit, die Gefahr zu überwinden und neue Einsichten zu gewinnen. Einige Bemerkungen dazu, wie es zur jetzigen Lage kam und welche Folgen wir aus ihr ziehen sollten

Wir befinden uns in einer schweren Krise, die manche an die Krise der späten zwanziger und der frühen dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts erinnert. Sie trifft im Grunde alle Staaten unseres Globus und damit in bestimmter Weise auch uns. Und zwar insbesondere deshalb, weil wir als weltweit führende Exportnation stärker als andere von der Nachfrage aus anderen Ländern abhängen. Die Krise begann als eine Finanzmarkt- und Bankenkrise. Inzwischen hat sie sich zu einer Wirtschaftskrise entwickelt, der eine bereits spürbare Arbeitsmarktkrise folgen wird.

Es erscheint daher geboten, sich bereits jetzt etwas substanzieller mit den Ursachen der Krise, mit den akuten Gegenmaßnahmen, aber auch mit den längerfristigen Folgerungen zu beschäftigen, die aus den Entwicklungen und Erfahrungen der letzten Zeit gezogen werden müssen. Verständlicherweise kann das gegenwärtig nur vorläufig und unter dem Vorbehalt neuer Erkenntnisse geschehen.
Die Ursachen der Finanzmarkt- und Bankenkrise liegen hauptsächlich in den Vereinigten Staaten. Eine Reihe von Faktoren hat dort einen Turbokapitalismus gefährlicher Art entstehen lassen, der von Helmut Schmidt zu Recht auch als Beispiel eines entfesselten Raubtierkapitalismus bezeichnet worden ist. Im Besonderen handelt es sich dabei um folgende Faktoren:

Zunächst um die maßlose Verschuldung, die sich in den USA schon seit längerer Zeit aufgebaut hat. So hat die öffentliche Verschuldung im Jahr 2008 – nicht zuletzt infolge des Irak-Krieges – die astronomische Summe von 10 Billionen Dollar überschritten. Die private Verschuldung lag mit 14 Billionen Dollar ebenfalls weit über der Verschuldung vergleichbarer Länder. Diese Beurteilung bezieht sich naturgemäß nicht auf die absoluten Zahlen, sondern auf die Pro-Kopf-Beträge, die sich daraus ergeben. Beigetragen zu dieser Entwicklung hat das Leistungsbilanzdefizit, auf das Helmut Schmidt immer wieder hinweist. Das heißt, die Tatsache, dass in den Vereinigten Staaten kontinuierlich mehr verbraucht und ausgegeben worden ist, als jeweils als Bruttosozialprodukt erzeugt wurde. Zuletzt betrug diese Differenz im Jahre 2007 knapp 800 Milliarden Dollar oder 5,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Welche Verantwortung trägt Alan Greenspan?

Die immense Vergabe ungesicherter Hausbau- und Hauserwerbskredite hat den Verschuldungsprozess in den vergangenen Jahren noch zusätzlich beschleunigt. Einer näheren Untersuchung bedarf, inwieweit auch die Zinspolitik der amerikanischen Zentralbank unter Federführung von Alan Greenspan in diese Richtung gewirkt hat. Jedenfalls hat dann die wachsende Welle von Insolvenzen zu einer Kette von Zusammenbrüchen und zu einem drastischen Rückgang neuer Kreditvergaben geführt.

Ein weiterer Faktor ist die radikale Gewinnorientierung gerade im Bereich der Finanzwirtschaft. Gewinne von 20 und mehr Prozent jährlich galten weithin als eine Selbstverständlichkeit. Die Verquickung der Managereinkommen mit den Steigerungen der Aktienkurse und dem jeweils erzielten Gewinn tat ein Übriges. Einkünfte von mehreren 100 Millionen Dollar in einem einzigen Jahr waren da keine Seltenheit. Zu Recht wird die Gier nach Geld als eine ganz wesentliche Triebfeder für das Handeln maßgebender Personen bezeichnet. Das alles hat auch dazu geführt, dass sich die Finanzwirtschaft immer stärker von den realen Wirtschaftsvorgängen löste und mit ihren Derivaten, Zertifikaten und Assessments mehr und mehr Spielbankcharakter annahm. Schätzungen besagen, dass die Summe der Finanztitel dieser Art das reale Wirtschaftsvolumen inzwischen um ein Vielfaches übertrifft.

Schließlich konnte die Krise dieses Ausmaß erreichen, weil es an wirksamen Schrankensetzungen und Regulierungen fehlte. Stattdessen wurden von manchen Seiten – so vor allem aus dem republikanischen Lager – weitere Deregulierungen verlangt. Auch in der Wissenschaft befanden sich die mahnenden Stimmen eher in der Minderheit. Zu allem Überfluss scheinen auch die möglichen Kontrollen lässig gehandhabt worden zu sein. Dafür spricht jedenfalls die skandalöse Praxis des so genannten Madoff-Fonds, die viele Milliarden Dollar vernichtete und gegen den die dafür zuständige Aufsichtsbehörde trotz mehrerer Anzeigen nichts unternahm.

Die unrühmliche Rolle der Landesbanken

Ähnliche Erscheinungen gab es aber auch außerhalb der Vereinigten Staaten, so etwa in Europa. Unter anderem machen das Vorgänge in Großbritannien deutlich. Auch in der Bundesrepublik gibt es da ziemlich dunkle Flecken. Zwar blieb die private Verschuldung weit hinter jener in den USA zurück. Auch die öffentliche Verschuldung wurde von der Großen Koalition zuletzt merklich gebremst. Zudem hat die Bundesrepublik seit langem eine positive Leistungsbilanz.

Aber nicht wenige Banken haben sich aus ihrem Gewinnstreben heraus an hochriskanten Finanzgeschäften in den USA oder beispielsweise auch in Island beteiligt und dabei Milliarden Euro aufs Spiel gesetzt und schließlich verloren. In erster Linie waren es private Institute wie die Hypo Real Estate oder die IKB. Dass hier aber auch Landesbanken – und vor allem die Bayerische Landesbank – eine unrühmliche Rolle gespielt haben, ist schwer zu verstehen. Offenbar wollte man mit den Gewinnmargen der Privaten mithalten. Und die Kontrollorgane versagten kläglich. Die zunächst kräftig fließenden Gewinne blendeten auch sie. Warnungen kamen übrigens auch nicht von den mehr oder weniger weisen Sachverständigen – und von den Medien nur ganz vereinzelt. Selbst in der deutschen Politik wurde lange nach weiterer Deregulierung gerufen und der Staat aufgefordert, sich aus der Wirtschaft herauszuhalten und noch weiter zurückzuziehen. Ich erinnere da nur an die Beschlüsse des Leipziger CDU-Parteitags im Jahr 2003. Zugleich wurden Mahnungen – wie etwa jene von Franz Müntefering vor den „Heuschrecken“ – zurückgewiesen, ja verlacht.

Nicht gehört wurde auch die Kritik an der exzessiven Erhöhung von Managereinkommen und deren Verknüpfung nicht etwa mit der Erhaltung oder Vermehrung von Arbeitsplätzen, sondern allein mit den Aktienkursen. Auch meine Gewerkschaft ver.di machte in diesem Zusammenhang von der Mitbestimmung und ihren Protestmöglichkeiten, wenn überhaupt, einen überaus sparsamen Gebrauch.

Steuersenkungen sind keine gute Idee

Inzwischen sind erfreulicherweise von staatlicher Seite rasche und im Allgemeinen vernünftige Gegenmaßnahmen getroffen worden. Das gilt für die Vereinigten Staaten, in denen sich der Einfluss des neu gewählten Präsidenten schon vor seinem Amtsantritt bemerkbar machte. Und das gilt eher noch stärker für die Bundesrepublik. Die Große Koalition hat bisher angemessen reagiert und sich nicht in einen blinden Aktionismus treiben lassen. Außerdem sollte dem Bürger noch stärker erklärt werden, dass es sich bei den im ersten Programm zur Vermeidung breiter Bankenzusammenbrüche bereitgestellten 500 Milliarden Euro nicht um bereits verlorene Beträge, sondern zum größeren Teil um zeitlich befristete Bürgschaften handelt, deren Inanspruchnahme abzuwarten bleibt und nach allem, was wir heute wissen, wohl nur einen Teilbetrag der Summe erfordern wird. Dessen Finanzierung durch neue Schulden ist aber zwingend.

Nur in einem Punkt habe ich Bedenken: Sie richten sich gegen die Steuersenkungen, weil ich bezweifle, dass die geringen Entlastungen, die hierdurch im Einzelfall bewirkt werden, wirklich die Konjunktur beleben. Andererseits erhöhen sie aber die Staatsverschuldung zu einem Zeitpunkt, in dem diese ohnehin sehr erheblich ansteigt.

Ebenso wichtig wie das, was jetzt unmittelbar geschieht, sind aber die Konsequenzen, die für die Zukunft gezogen werden müssen. An erster Stelle nenne ich da die Notwendigkeit globaler Regelungen. Wenn noch jemand Zweifel haben sollte, dass der inzwischen erreichte Stand der weltweiten Vernetzung globale Reaktionen im Sinne einer Weltinnenpolitik erfordert, werden ihn wohl die jüngsten Entwicklungen eines besseren belehrt haben. Konkrete Schritte etwa zur Stärkung des Internationalen Währungsfonds und zu seiner Ausstattung mit entsprechenden Instrumenten sind ja auf Betreiben der Bundesrepublik (und von ihr mit veranlasst) in der Europäischen Union bereits im Gange. Sie müssen bald zu verbindlichen Ergebnissen führen. Dazu gehört auch die Beseitigung von Finanzplätzen, die sich wie die Cayman Islands oder Jersey bislang jeder Kontrolle entziehen und im Grunde weltweit wirkende Spielkasinos darstellen. Ebenso müssen die so genannten Steueroasen alsbald verschwinden, zu denen leider immer noch auch die Schweiz und Liechtenstein zählen. Es ist schlechterdings nicht zu rechtfertigen, dass ein Staat daraus Vorteile zieht, dass Bürger eines anderen Staates Steuern hinterziehen.

Nicht wenige werden dazulernen müssen

Substanzieller Veränderungen bedarf es aber auch auf der nationalen Ebene. Dabei denke ich nicht nur an staatliche Maßnahmen zur Verbesserung der Transparenz und der Kontrollierbarkeit finanzwirtschaftlicher Aktivität oder auch zur Verhinderung, zumindest aber zur Erschwerung von Exzessen bei Managervergütungen. Notwendig ist vielmehr eine intensive Diskussion, die zu einer neuen Vergewisserung über bestimmte Grundpositionen und über bestimmte Kriterien für wirtschaftliches Handeln führt. Nicht wenige werden hier eigene Fehleinschätzungen erkennen und dazulernen müssen.

Wesentlich erscheint mir zum einen ganz grundsätzlich das Verhältnis zwischen Markt und Staat. Der Markt ist eine nützliche und anderen Wirtschaftsformen deutlich überlegene Organisation wirtschaftlicher Abläufe. Aber er ist in diesem Sinne ein Instrument und eben nicht die letzte Instanz zur Entscheidung gesellschaftlich relevanter Fragen wie etwa der Teilhabe des Einzelnen an öffentlichen Gütern oder der Gewährleistung sozialer Standards, die ein weiteres Auseinanderklaffen zwischen Arm und Reich verhindern. Die Verantwortung und damit die Entscheidungsbefugnis nach unserer Verfassungsordnung liegt hier eben nicht bei den marktmächtigen Kräften, sondern bei den demokratisch legitimierten Staatsorganen.

Warum Gewinne kein Selbstzweck sein dürfen

Das besagt, dass der Staat handlungs- und durchsetzungsfähig bleiben muss. Er muss in der Lage sein, dem Markt Schranken zu setzen und ihm einen Rahmen zu geben, innerhalb dessen er seine Wirkungen als Instrument entfalten kann, ohne den Menschen zum Kosten- und Gewinnsteigerungsfaktor zu erniedrigen. Das wollte übrigens schon Ludwig Erhard, als er von der sozialen Marktwirtschaft sprach.


Um das leisten zu können, braucht der Staat außer hinreichenden Befugnissen auch das Vertrauen seiner Bürger, die Bürger bleiben und nicht „Kunden“ werden sollen. Dieses Vertrauen lässt sich nicht dekretieren, es muss stets von Neuem erworben und bewahrt werden. Und dies nicht nur von der mitunter sehr zu Unrecht geschmähten Politik, sondern von allen, die in unserer Gesellschaft Verantwortung tragen. Zum Beispiel auch von den Medien, deren Kritik notwendig ist, aber nicht ins Maßlose gesteigert werden sollte. Oder auch von den Wirtschaftssachverständigen, die nicht mit dem Anspruch partieller Allwissenheit auftreten, sondern von Fall zu Fall auch ihre Irrtümer einräumen sollten.


Der Staat muss sich bei seinem Handeln an den Werten unserer Verfassungsordnung orientieren. Das gilt aber auch für das Tun und Lassen seiner Bürger – und in unserem Zusammenhang ganz besonders für das Tun und Lassen derer, die in der Wirtschaft das Sagen haben. Sie müssen sich bewusst bleiben, dass ein Unternehmen ein Sozialverband von Menschen und nicht lediglich ein Konstrukt zur Erzielung maximaler Gewinne darstellt. Natürlich muss ein Unternehmen auch Gewinne erzielen, um sich behaupten zu können. Aber diese dürfen nicht als Selbstzweck mit der Folge übersteigert werden, dass die soziale Verantwortung auf der Strecke bleibt.


Diese sollte auch bei der Bemessung der Managereinkommen eine Rolle spielen. Es ist mir ein Rätsel, wie einer mit sich im Reinen sein kann, der selbst exorbitante Erhöhungen seiner Vergütungen verlangt, gleichzeitig aber seinen Mitarbeitern Einschränkungen zumutet oder sie sogar entlässt, um die Aktienkurse und damit den Bezugspunkt seiner Boni in die Höhe zu treiben. Übrigens vermag ich auch nicht einzusehen, warum als ein Faktor für die Bemessung von Managerbezügen nicht auch die Entwicklung der Arbeitsplatzzahlen herangezogen wird.

Mehr als „realitätsfernes Gutmenschentum“

Ich weiß: Was ich zuletzt ausgeführt habe, klingt für manchen als Ausdruck eines realitätsfernen „Gutmenschentums“. In Wahrheit ist es aber die Besinnung auf Prinzipien und Lehren, deren Missachtung die gegenwärtige Krise wesentlich mit verursacht hat. Etwa auf die katholische Soziallehre und die evangelische Sozialethik. Oder auf das sozialdemokratische Grundsatzprogramm, das mit den christlichen Positionen gerade im wirtschaftlichen Bereich viel stärker übereinstimmt, als das vielen bewusst ist.


Eine Krise birgt immer mehrere Möglichkeiten in sich: die Möglichkeit, sich zu einer Katastrophe zu entwickeln – also in den Abgrund zu stürzen. Aber auch die Möglichkeit, die Gefahr zu überwinden und zu Einsichten zu gelangen, die in Vergessenheit geraten waren. Die Einsicht, wie realitätsnah die von mir soeben genannten Aussagen sind, ist eine solche Perspektive der gegenwärtigen Krise. Sozusagen kein Kollateralschaden, sondern ein Kollateralnutzen. Wir sollten ihn wahrnehmen und uns zu Eigen machen!

zurück zur Ausgabe