Steuern rauf, Beiträge runter!

Deutschland wird alt. Das dramatische Ausmaß des bevorstehenden Umbruchs haben wir aber längst noch nicht ausreichend durchdacht. Ein wichtiges Element der Vorsorge ist die adäquate Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme

Um es gleich vorweg zu sagen: Eskalation - mehr vom Gleichen - führt nicht immer zum Erfolg. Mehr Leistungskürzungen oder mehr Beiträge oder mehr Gesetzesänderungen pro Saison werden wenig nützen. Sozialdemokratische Sozialstaatsreformen dürfen sich nicht im Klein-Klein erschöpfen. Jedes neue Reformprojekt gilt einen Sommer lang als großer Wurf - und reicht dann doch kaum weiter als ein Jahr.

- In der Arbeitsmarktpolitik folgten dem Job-AQTIV-Programm (2001) die Hartz-Gesetze (2002) und nun die einschlägigen Teile der Agenda 2010 (2003). Die Erfolge bleiben mager, die Kosten hoch. Was wird 2004 bringen?

- Für die Rentenversicherung brachte die Ökosteuer 1999 Entlastung, das Altersvermögensgesetz 2001 immerhin ein neues Prinzip und das Beitragssatzsicherungsgesetz 2002 eine überraschende Erhöhung der Versicherungsbeiträge. Den Vertrauenskollaps der künftigen Rentenbürger heilt man so nicht. Unsere bis 2030 reichenden Beitragsprognosen von 2001 sind schon 2003 Makulatur.

- Selbst für Fachleute unüberschaubar geworden sind die bereits ausprobierten, außer Kraft gesetzten und wieder aufgenommenen Therapieversuche im Gesundheitsbereich. Kurative Leitidee scheint hier die Reform des gerade Reformierten zu sein.

- Wohin entwickelt sich - lange nicht reformiert - die Pflegeversicherung? Klar ist: Sinken können dort die Beiträge nimmer mehr, nur steigen.


Tatsächlich treibt dreierlei Motivation unsere Sozialstaatsreformen: erstens die strukturelle Notwendigkeit, zweitens aktuelle Konjunktur- und Arbeitsmarktprobleme mit ihren Folgen für die Sozialkassen, drittens dass man, wenn man regiert, schlicht nicht nichts tun kann. Bei der Begründung der einzelnen Maßnahmen gehen diese Motive bunt durcheinander. Weder wird so recht der große objektive Veränderungsdruck deutlich noch das Gesamtkonzept des langfristigen Umbaus noch das spezifisch Sozialdemokratische daran. (Stattdessen: "Wenn wir es nicht tun, tun es andere ...") Und an einer einfühlsamen Sprache mangelt es den stets missmutigen Reformstrategen ohnehin. Angelernter Ökonomismus ersetzt nicht compassion, nicht das Mitfühlen und leidenschaftliche Mitdenken aus der Perspektive der aktuell und potentiell Betroffenen. Sofern unser Maßnahmen-Kanzler glaubt, das Begründen, Erklären und Argumentieren sei nicht sein Job, dann macht er, der es gewiss schwer genug hat, es sich doch zu einfach. Auch hier gilt ein geflügeltes Kanzlerwort: "Wenn es einfach wäre, könnten andere es tun".

Die demographische Katastrophe

Wenn dieses Land ein gewaltiges soziales Problem hat, dann liegt es darin, dass seine Bevölkerung dabei ist, sich selbst abzuschaffen. In Deutschland werden zwei Erwachsene seit längerem nur noch durch 1,3 Kinder ersetzt, und nichts spricht dafür, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern könnte. In den meisten anderen europäischen Ländern gibt es ähnliche Trends. Deutschland wird schrumpfen und vergreisen.


Das Fatale an diesem Megaproblem ist, dass es zwar völlig absehbar, aber in seinen Konsequenzen noch nicht aktuell ist. Noch schrumpft Deutschland nicht, wir haben 82,5 Millionen Einwohner und bleiben in dieser Größenordnung sogar noch eine Weile stabil; knapp die Hälfte der Bevölkerung ist erwerbstätig und erarbeitet den Wohlstand, von dem auch Kinder, Lehrlinge und Studentinnen, Arbeitslose, Kranke und Behinderte, Rentnerinnen, Pensionäre und Pflegebedürftige zehren.

Schon heute ist klar, wer 2068 in Rente geht

Erst ab 2007 (in den neuen Bundesländern ab 2005) werden zunächst die Schülerzahlen stark zurückgehen (Schulanfänger im Osten von 155.000 heute auf 81.000 im Jahr 2012). Bei den Studierenden wird der Einbruch 2008 erwartet. Ab 2020 steigt die Zahl der Rentner sprunghaft an, dann gehen die Kinder des Babybooms von Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre in den Ruhestand. Das Verhältnis von Rentnern zu Erwerbstätigen, das heute 1:2,9 beträgt, entwickelt sich über 1:2 im Jahre 2020 auf 1:1,4 2030. Sowohl die Rentner- als auch die Erwerbsgenerationen dieser so fern scheinenden Zukunft sind längst geboren. Nur Seuchen oder ein Krieg könnten die Proportionen noch wesentlich verändern.


Heute schon lässt sich die Anzahl der Neuruheständler von 2063 bis 2068 ziemlich exakt vorausberechnen. Die letzten von ihnen erblicken gerade jetzt das Licht der Welt. Wenn sich nichts dramatisch ändert, käme bereits im Jahr 2050 auf einen Erwerbstätigen ein Rentenempfänger; für die heute geborenen Rentner sieht es anderthalb Jahrzehnte später noch düsterer aus: Dann gibt es mehr Alte als Aktive - und immer und immer weniger Kinder: Die 1,3 Nachkommen der zwei Erwachsenen heute werden selbst 0,85 eigene Kinder hinterlassen, denen dann wiederum in der vierten Generation 0,55 Nachkommen folgen - die dann allerdings vielleicht 100 Jahre alt werden - und so weiter.


Diese schleichende demographische Katastrophe wirkt sich auf alle Teile unseres Sozialversicherungssystems aus, nicht nur auf die Rente. Die Versicherungsbeiträge, die den Faktor Arbeit belasten, müssten steil nach oben gehen, weil mehr und mehr ältere Menschen länger alt, krank und pflegebedürftig sein werden. Diese steigenden Lohnnebenkosten (zusammen heute 42,1 Prozent) für die Rentenversicherung (heute 19,5 Prozent), die Krankenversicherung (14,4 Prozent), die Pflegeversicherung (1,7 Prozent) und die Arbeitslosenversicherung (6,5 Prozent) werden so zur immer höheren Hürde für das, was am dringendsten nötig wäre, um den Wohlstand zu erwirtschaften, aus dem die verdoppelten und verdreifachten Leistungsansprüche der Zukunft zu bedienen wären: mehr bezahlte Arbeit.

Kein Zauber macht den Fluch zum Segen

Um die demographische Katastrophe mit ihren zwangsläufigen Folgen für die sozialen Sicherungssysteme abzuwenden oder jedenfalls abzuschwächen, läßt sich manches ausdenken. Nur gibt es eben keinen politischen Trick, keinen ideologischen Zauber, der den Fluch in einen Segen verwandeln könnte. Die Lasten des Problems der millionenfachen individuellen Weigerung, durch Kinder für die Zukunft vorzusorgen, können nur anders verteilt werden, aber es bleiben Lasten. Und es sind Lasten, die nicht als bedauerliche Folge schlechter Politik nun von der Gesellschaft getragen werden müssen, sondern diese Lasten entstehen, weil unsere deutsche (und manch andere europäische) Gesellschaft, so wie sie ist, mit ihren Werten, ihren Freiheits- und Selbstverwirklichungsidealen, die übliche Lösung sabotiert: Nachwuchs.

Welche Abhilfe ist grundsätzlich möglich?

- Erstens, ein großer Mentalitätswandel in unserer durchindividualisierten, flexibiltätsfordernden, kinderfeindlichen, materialismusgläubigen, ökonomistischen Öffentlichkeit. Familien dürfen nicht die Dummen in diesem Land sein: Das allerdings ist mehr eine Frage der geistigen Haltung unserer Gesellschaft als eine Frage der politisch bestimmten jeweiligen Höhe des Kindergeldes. Aber ist solch ein Haltungswandel sehr wahrscheinlich? Nein - auch wenn gerade sozialdemokratische Politik einiges tut, um materielle Nachteile auszugleichen und die bessere Verbindung von Familie und Beruf zu fördern. Familienpolitik wird bevölkerungspolitisch wohl wenig bewirken, aber sie bleibt richtig, weil es immer auch um Gerechtigkeit geht.

- Zweitens, Zuwanderung. Alle demographischen Prognosen gehen ohnehin von mehr oder weniger starken Immigrationsbewegungen aus. Zum kompletten Schrumpf-Ausgleich wären allerdings gewaltige Migrantenströme nötig. Woher sollen diese freundlicherweise kommen? Unsere alt- und neueuropäischen Nachbarländer, deren EU-Bürger hier gut integrierbar wären, schrumpfen überwiegend mit uns um die Wette. Wanderer aber aus größerer Ferne bringen Probleme mit, die wir seit einigen Jahrzehnten kennen, doch selbst für viele der hier lebenden "Gastarbeiter"- und Flüchtlingskinder der zweiten und dritten Generation noch nicht gelöst haben.

- Drittens, Eigenvorsorge. Das ist das sozialpolitische Zauberwort des FDP-Liberalismus und seiner Nachplapperer in allen Parteien. Der Begriff "Eigenvorsorge" unterstellt, dass angelegtes Vermögen, das man für sich selbst besitzt, einen mit seinen Erträgen auch dann ernähren wird, wenn die anderen am Hungertuch nagen. Tatsächlich können jedoch alle Arten von systematischer Vorsorge nur so erfolgreich sein, wie die Wirtschaft jeweils zum Zeitpunkt des Leistungsbedarfs. Wenn alles stagniert, bringen auch Aktien und Mietshäuser wenig ein. Eigenvorsorge ist deshalb nicht wirklich sicherer als beitrags- oder steuerfinanzierte Leistungssysteme, allerdings angesichts der Demographieentwicklung unschädlich für den Faktor Arbeit. Von den drei Möglichkeiten - Beiträge, Steuern, Kapitalerträge - ist es das am wenigsten solidarische Modell.

- Viertens, Umstieg von der beitrags- zur steuerfinanzierten sozialen Sicherheit. Dazu bedürfte es keiner völligen Neuerfindung des Sozialstaates. Schon heute existiert beides nebeneinander: reine Steuerfinanzierung (Kindergeld, Erziehungsgeld, Bafög, Wohngeld, Eigenheimförderung, Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe) neben gesetzlicher Umlagefinanzierung über Beiträge (Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung). Mit der rasanten Verschiebung der Gewichte zwischen den beitragszahlenden und den leistungsberechtigten Generationen kommt die Finanzierung über Beiträge an ihr Ende. Bleibt man in diesem System, müssten entweder die Sozialversicherungsbeiträge rapide steigen oder das Leistungsniveau drastisch sinken, oder man bezieht weitere Einkommensarten in die Versicherungspflicht ein (und deckelt die Höhe des Leitungsanspruchs) - damit aber verlässt man schon das System der paritätischen Finanzierung durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber und befindet sich im Übergang zur Steuerlösung.


Soziale Sicherheit, egal in welchem System, ist nur zu finanzieren aus dem gesamtgesellschaftlichen Wohlstand zum tatsächlichen Zeitpunkt der Leistungserbringung. Angesichts unserer negativen Bevölkerungsentwicklung wird das Beitragsmodell zunehmend prekär; es untergräbt seine eigenen Grundlagen, indem es Arbeit weiter verteuert. Das Eigenvorsorgemodell ist möglich aber unsolidarisch; wenn jeder seine allgemeinen Lebensrisiken privat versichern müsste, fiele dies den Beziehern kleiner Einkommen ungleich schwerer als den Besserverdienenden.

Das Menschen erwarten mehr als Klein-Klein

Für Sozialdemokraten muss deshalb die Zukunft dem Steuermodell gehören. Wir brauchen eine sozial gerechte Antwort auf das immer so harmlos "demographischer Wandel" genannte Superproblem. Wichtig ist, dass den politisch Handelnden wie der Bevölkerung klar ist, in welche Richtung der Umbau unserer alten Sozialversicherung gehen muss - und warum wir das tun. Wichtig wäre deshalb ein sichtbarer großer erster Umbauschritt jetzt. Die Zeit ist reif. Die Öffentlichkeit erwartet von uns mehr als Klein-Klein, mehr als kurzfristige Reaktionen auf die jeweils aktuelle konjunkturelle Lage, mehr als die eine Beitragssatzerhöhung hier, die andere Kostendämpfung da, eine weitere Leistungskürzung dort. Unsere Strukturreform muss als solche erkennbar, darf nicht als "Sozialabbau" denunzierbar und muss gut begründet sein: Zur Ablösung von Beiträgen durch Steuern und damit zur Senkung der Lohnnebenkosten müssen Steuereinnahmen in dem gleichen Umfang steigen wie Beiträge reduziert oder abgeschafft werden.

Fünf Prozent weniger Kassenbeiträge

Wenn nicht mehr das schrumpfende Arbeitsvolumen (und das aus abhängiger Arbeit verdiente Einkommen) der Maßstab für den weiter wachsenden Wohlstand unserer Gesellschaft ist, woran dann wäre zu ermessen, welches soziale Leistungsniveau wir uns in Deutschland leisten können? Zum Beispiel am Konsum. Er ist nicht so flüchtig und leichtfüßig über die Grenze entsprungen wie Kapital und Arbeit. Und er ist bei uns bisher weit niedriger besteuert als in den meisten anderen EU-Staaten.


Der normale Mehrwertsteuersatz liegt nur im winzigen Luxemburg (15 Prozent) niedriger und in Spanien (16 Prozent) gleichauf mit Deutschland. Alle anderen Länder erheben höhere Prozentsätze: Großbritannien (17,5), Griechenland (18), die Niederlande und Portugal (19), Frankreich (19,6), Italien und Österreich (20), Belgien und Irland (21), Finnland (22), Dänemark und Schweden (25). Bei den zehn Beitrittskandidaten sieht es ganz ähnlich aus.


Mehrwertsteuererhöhungen sind in Deutschland nicht populär, gleichwohl haben CDU- wie SPD-geführte Regierungen den Regelsteuersatz in der Vergangenheit voll schlechten Gewissens immer wieder in Ein-Prozent-Schritten angehoben, 1968 auf 11 Prozent, 1978 auf 12, 1979 auf 13, 1983 auf 14, 1993 auf 15 und 1998 auf 16 Prozent.
Die Mehrwertsteuer ist die wichtigste von mehreren Konsumsteuern, die es in Deutschland gibt (daneben: Tabak-, Branntwein-, Schaumwein-, Zwischenerzeugnis-, Bier-, Kaffee-, Versicherungs-, Mineralöl- und Stromsteuern). Ihr Anteil am Gesamtsteueraufkommen liegt bei knapp einem Drittel (2002: 31,1 Prozent). Die 138 Milliarden Euro Mehrwertsteuereinnahmen des Jahres 2002 verteilen sich zwischen dem normalen 16-Prozentsteuersatz und dem ermäßigten 7-Prozentsatz (für Lebensmittel, Bücher, Zeitschriften, Personennahverkehr) im Verhältnis neun zu eins. Die Masse bringt der Normalsteuersatz; ein Prozentpunkt mehr oder weniger bedeutet hier mehr oder weniger Einnahmen von knapp acht Milliarden Euro. Eine Erhöhung des Mehrwertsteuerregelsatzes um fünf Prozentpunkte von 16 auf 21 Prozent brächte etwa 40 Milliarden Euro. Um diesen Betrag könnten dann, wenn Bund und Länder sich darauf einigten (Gemeinschaftssteuer!) die Sozialversicherungsbeiträge gesenkt werden.

Die Pflegeversicherung ist der erste Kandidat

- Die Pflegeversicherung, im Wesentlichen paritätisch finanziert von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, bisher ohne Steuerzuschuss, hatte 2002 Ausgaben in Höhe von 17 Milliarden Euro. Der Beitragssatz liegt bei 1,7 Prozent. Prognosen rechnen mit einem stetigen Anstieg der Zahl pflegebedürftiger Menschen von heute rund zwei Millionen auf drei Millionen 2020 und 4,7 Millionen 2050 bei insgesamt deutlich schrumpfender Bevölkerung. Der Beitragssatz könnte sich entsprechend mehr als verdreifachen. Dieses System, in dem sich die kostentreibende Dynamik von Demographie und medizinischem Fortschritt ganz besonders auswirkt, ist der erste Kandidat für die völlige Umstellung einer einzelnen Sozialversicherung auf ein steuerfinanziertes gesetzliches Leistungssystem der sozialen Sicherung.

- In der Rentenversicherung steckt seit 1998 rechnerisch bereits ein Prozentpunkt der Mehrwertsteuer sowie nahezu das gesamte Aufkommen aus den fünf Stufen der Ökosteuer (jeweils 3 Cent mehr Mineralölsteuer pro Liter pro Jahr 1999-2003, dazu Erhöhung von Steuern auf Strom und Erdgas) als Steuerzuschuss. Insgesamt wird knapp ein Drittel aller gesetzlichen Rentenleistungen aus Steuermitteln finanziert, so dass jetzt alle so genannten versicherungsfremden Leistungen (Kindererziehungszeiten, Anrechnung von Wehrdienst und Studium u.a.) nicht mehr durch die Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gedeckt werden müssen; der aktuelle Beitragssatz liegt bei 19,5 Prozent. Der kräftige Ökosteuerzuschuss (2003: 17 Milliarden Euro) hat auch dazu geführt, dass der Rentenversicherungsbeitrag von 1998 20,3 Prozent zwei Mal, auf 19,3 und 19,1 Prozent, gesenkt werden konnte.

Ein Cent mehr pro Liter Benzin - jedes Jahr

Das Leistungsvolumen der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten beträgt gegenwärtig (2002) 232 Milliarden Euro, davon 153 Milliarden aus Beitragsmitteln. Ob es ein kraftvolles Signal wäre, eine drastische Mehrwertsteuererhöhung (40 Milliarden Euro) in der Rentenversicherung zu versenken, um die Beiträge hier um ein Viertel zu reduzieren, sei dahingestellt. Sinnvoll könnte dagegen eine kontinuierliche Erhöhung des Dauerzuschusses aus der Ökosteuer sein, etwa durch eine Anhebung der Mineralölsteuer um den Minibetrag von einem Cent pro Liter pro Jahr, unbefristet. Damit bliebe die ökologische Lenkungswirkung dieses Steuerinstruments erhalten - Benzin soll, weil es eine endliche Ressource ist, tendenziell teurer, nicht billiger werden -, und der Ökosteuerzuschuss zur Rentenversicherung stiege jährlich um annähernd eine Milliarde Euro, was erst einmal etwas hülfe, den Beitragssatz zu stabilisieren. Langfristig sind andere Maßnahmen notwendig (Erhöhung des Renteneintrittsalters, private Zusatzvorsorge/ "Riester-plus", Leistungsniveauabsenkung durch "demographischen Faktor", massive Erhöhung des Steuerzuschusses ab etwa 2020).

- Eine Senkung des Krankenkassenbeitrags durch Steuerzuschuss stellt sich schon deshalb als schwierig dar, weil es 350 verschiedene Krankenkassen in Deutschland gibt. Sinnvoll kann es sein, einzelne Leistungen, etwa alles medizinisch und sozial Notwendige rund um die Geburt (Untersuchungen, Entbindung, Mutterschaftsgeld), aus Steuermitteln zu bezahlen. Der Beitrag zu den gesetzlichen Kassen liegt gegenwärtig bei durchschnittlich 14,4 Prozent. Prognosen bis 2040 erwarten eine Steigerung auf bis zu 34 Prozent. Das Beitragsaufkommen liegt zur Zeit bei 140 Milliarden Euro. Eine generelle Umstellung von der Beitrags- auf Steuerfinanzierung scheint hier nicht die Lösung zu sein.

- Genau dies, kompletter Systemwechsel von einem beitragsfinanzierten Versicherungssystem hin zu einem steuerfinanzierten gesetzlichen Leistungssystem der sozialen Sicherheit, ist bei der Arbeitslosenversicherung wünschenswert. Hier spielt zwar die Demographie absehbar kaum eine Rolle, dafür aber ist jetzt schon in jeder Rezessionsphase zu spüren, wie kontraproduktiv die Versicherungskonstruktion wirkt: steigende Arbeitslosigkeit - steigende Beiträge - Verteuerung der Arbeit - Erhöhung der Beschäftigungsschwelle - weiter steigende Arbeitslosigkeit. Das Beitragsaufkommen lag 2002 bei 47 Milliarden, der Steuerzuschuss an die Bundesanstalt für Arbeit bei 6 Milliarden Euro.

Tabuisierung hilft nicht weiter

Ein erster entschlossener Schritt zur Entlastung des Faktors Arbeit von den Kosten der Sozialkassen könnte in der völligen Umwandlung der heute noch relativ kleinen, beitragsfinanzierten Pflegeversicherung in ein steuerfinanziertes System und der zunächst hälftigen Übernahme aller Kosten der Arbeitslosenversicherung durch Steuermittel des Bundes bestehen. Dazu würde eine Mehrwertsteuererhöhung um fünf Prozentpunkte ausreichen. Die Lohnnebenkosten könnten damit um fünf Prozentpunkte von jetzt 42,1 Prozent auf 37,1 Prozent sinken: minus 1,7 Prozent Pflegeversicherung (17 Milliarden Euro) sowie minus 3,3 Prozent (von 6,5) Arbeitslosenversicherung (etwa 25 Milliarden Euro). Damit sparten die Arbeitgeber 2,5 Prozent Lohnkosten und die Arbeitnehmer hätten 2,5 Prozent mehr Netto vom Brutto.

Die übliche Tabuisierung hilft nicht mehr

Gegen einen solchen richtungsweisenden Schritt steht die bisherige Tabuisierung des Themas Mehrwertsteuererhöhung oder Steuererhöhung schlechthin. Befürchtet werden negative Auswirkungen auf die Stimmung in der Wirtschaft allgemein und auf das Konsumklima im besonderen. Der Bundestag hat sogar erst kürzlich per Beschluss den gegenwärtigen Mehrwertsteuersatz für sakrosankt erklärt. Andere Stimmen kommen aus den Ländern. Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Wolfgang Böhmer (CDU), erklärte am 20. März 2003 in der Bild-Zeitung: "Eine Mehrwertsteuererhöhung käme für mich nur in Frage, wenn mit den Einnahmen die sozialen Sicherungssysteme von den Kosten für versicherungsfremde Leistungen entlastet würden". Und die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) wird am 14. April 2003 von der Bild-Zeitung so zitiert: "Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer macht Sinn. Viele europäische Nachbarn finanzieren damit ihre Sozialsysteme." Hinter vorgehaltener Hand wird von vielen inzwischen das Thema "Senkung der Lohnnebenkosten durch Erhöhung der Mehrwertsteuer" positiv gesehen, auch in den Gewerkschaften.


Zur Frage, wie "gerecht" die Verteilungswirkung einer Mehrwertsteuererhöhung ist, hat aus Anlass der letzten Erhöhung 1998 das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) eine Untersuchung vorgelegt. Danach bedeutet eine Anhebung des normalen Mehrwertsteuersatzes um ein Prozent eine durchschnittliche Mehrbelastung des verfügbaren Einkommens von 0,49 Prozent. Nicht betroffen sind etwa Miete (mehrwertsteuerfrei) und Lebensmittel (ermäßigter Satz von 7 Prozent) sowie Sparen.

Wer wenig hat, wird mehr entlastet

Die Spanne der relativen Mehrbelastung über alle Einkommensgruppen hinweg liegt zwischen 0,4 und 0,6 Prozent. Mit steigendem Einkommen, so stellt das DIW fest, nimmt bei fast allen Haushaltsgruppen die Steuerbelastung erst zu, danach ab. Die Bezieher niedrigster Einkommen (mit hohem Anteil an Kosten für Miete und Lebensmittel) sind unterproportional betroffen; Träger der Hauptlast bleiben die Bezieher mittlerer Einkommen, die allerdings in etwa gleicher Größenordnung entlastet werden durch die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge - was ja der Sinn der ganzen Operation ist: Fünf Prozent Mehrwertsteuererhöhung bedeuten 2,5 Prozent Mehrbelastung der verfügbaren Einkommen und gleichzeitig 2,5 Prozent Senkung der Arbeitnehmerbeiträge an die Sozialkassen. Das rechnet sich. Für die Bezieher von Transfereinkommen (Rente, Sozialhilfe, Bafög) sollte die Mehrbelastung bei künftigen Anpassungen der Leistungen entsprechend berücksichtigt werden; bei der Rente vielleicht auch durch Verrechnung mit dem "demographischen Faktor" über einige Jahre.


Die hier vorgeschlagene Strukturreform markiert einen Richtungswechsel: weg von Beiträgen auf Arbeit hin zu Steuern. Deutschland muss, selbst wenn es mit der Zeit kleiner und grauer wird, nicht ärmer werden. Unser Wohlstand kann weiter wachsen. Wir müssen allerdings dafür sorgen, dass nicht die negative Bevölkerungsentwicklung das Fundament unserer ökonomischen Leistungsfähigkeit zerstört: Arbeit, die hier in Deutschland getan wird.

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