Hoffnungsträger Syriza? Nein!
Griechenlands neue Regierungspartei Syriza propagiert zwar ein Ende der Austeritätspolitik, ist aber keine Anti-Austeritäts-Partei. Als sie noch eine kleine Protestpartei war, schrieb Syriza sich den Widerstand gegen den Kapitalismus und die Globalisierung auf ihre Fahnen. Syrizas Texte waren vollgestopft mit marxistischen Bezichtigungen gegen „das Kapital“ und Aufrufen zum Klassenkampf. Sie dokumentierten eine dystopische Weltsicht, gekennzeichnet von Argwohn und Ablehnung gegenüber den europäischen Regierungen, den EU-Institutionen und dem Binnenmarkt. Märkte und die Wettbewerbsfähigkeit waren Dinge, die nur „Neoliberale“ befürworten konnten.
Seit 2010 haben sich die Positionen von Syriza zu einer Erzählung nationalen Opfertums verdichtet. Ihr Narrativ ist praktisch deckungsgleich mit jenem der Rechtsaußenparteien und der alten Kommunistischen Partei. Es besagt, dass die Ursache der Krise nicht in den Defiziten liegt, die die griechischen Regierungen in den Jahren von 2004 bis 2009 angehäuft haben. Schuld sei vielmehr das verhasste „Austeritätsmemorandum“, das Griechenland im Zuge einer Verschwörung der europäischen Eliten auferlegt worden sei, um das griechische Volk zu unterdrücken und seine Vermögenswerte mittels „barbarischem“ Neoliberalismus zu plündern (was diese „Eliten“ angeblich in ganz Europa tun). Folgerichtig erwählte Syriza als Koalitionspartner die rechtsextreme Partei Unabhängige Griechen, mit der sie diese Ideen teilt, und wies die neue proeuropäische Partei To Potami ab (die mehr Parlamentssitze gewonnen hat als die Unabhängigen Griechen). Die neue Regierung spricht jetzt oft von Europa als „Feind“, mit dem sich das Land im „Krieg“ befände.
Wer Syrizas Weltsicht nicht teilt, ist »Merkelist«
Aus der Sicht von Syriza und den Unabhängigen Griechen haben die Parteien, die den beiden Bailout-Abkommen zustimmten, den finanziellen Zusammenbruch Griechenlands nicht verhindert. Da – wie sie argumentieren – ein „Grexit“ im Grunde unmöglich sei, habe die angebliche Bedrohung durch die Finanzkrise nur als Feigenblatt gedient. Diejenigen, die das Memorandum unterzeichneten, waren demnach bestenfalls „Neoliberale“ und schlimmstenfalls bezahlte Knechte Deutschlands, Verräter und Quislinge – weshalb Syriza sie als „Merkelisten“
bezeichnet. Anhängern dieses Weltbilds zufolge hätten Griechenlands Partner dem Land keinen Dienst erwiesen, als sie ihm im Augenblick tödlicher Gefahr 240 Milliarden Euro liehen. Vielmehr hätten sie die Gelegenheit ergriffen, ein „neoliberales Experiment“ durchzuführen. Als Syriza im Januar die Macht übernahm, erklärte Alexis Tsipras in seiner Siegesrede, nun sei in Griechenland die Demokratie „wiederhergestellt“. Diese hasserfüllte Rhetorik hat Syriza nicht im Alleingang erfunden. Sie ist schon länger in den einflussreichen Privatsendern allgegenwärtig, aus denen die meisten Griechen ihre Nachrichten beziehen. Das griechische Privatfernsehen ist unreguliert und wird von Oligarchen gesteuert, denen die Öffentlichkeit zwar misstraut, deren Sender sie aber trotzdem konsumiert. Da viele Kanäle defizitär sind und überhaupt nur existieren, um Einfluss auszuüben, haben die Eigentümer kein Interesse daran, für ernste Nachrichtenprogramme zu bezahlen. Sie benutzen die Beschimpfung von Ausländern, um mit billiger Effekthascherei Sendezeit zu füllen. Je bizarrer die Behauptungen, desto höher die Quote.
Im Ergebnis erzeugen diese TV-Shows Angst, Wut und Hass, ohne den geringsten Hinweis darauf zu geben, wie Europa tatsächlich funktioniert. Diese geistige Unterströmung von Paranoia ist einer der Gründe, weshalb die öffentliche Meinung in Griechenland so quer zum europäischen Mainstream steht. Sie erklärt auch, warum hier so viele populistische Parteien erfolgreich sind.
Syriza ist Griechenlands Anti-Reform-Partei
Viele Griechen verstehen deshalb immer noch nicht, was die Eurozone eigentlich ist. Syriza und ihre Verbündeten vermeiden es stets zu erwähnen , dass die Verträge alle Euroländer zu einer verantwortlichen Finanzpolitik verpflichten; dass der frühere Premierminister Kostas Karamanlis den Stabilitäts- und Wachstumspakt missachtete; dass die Kommission die Aufgabe hat, alle Mitglieder zu überwachen; dass es der Europäischen Zentralbank vertraglich verboten ist, Regierungen Geld zu leihen; oder dass das Inflationsziel bei zwei Prozent liegt und deshalb strenge Defizitregeln erforderlich sind. Stattdessen stellt Syriza Griechenlands Austerität als finstere Machenschaft der Troika und des Memorandums dar, die nur mit Tricks und Erpressung durchgesetzt worden seien.
Dieses Opfernarrativ steht jeglichen guten Argumenten für Strukturreformen im Weg. Solche Reformen könnten die Wettbewerbsfähigkeit stärken und die Rolle Griechenlands als gleichberechtigtes Mitglied der EU wiederherstellen. Aber viele Griechen glauben nicht an sie. Sie bezweifeln, dass eine Reform des öffentlichen Dienstes, Steuerreformen, verbesserter Investorenschutz, wirksame Korruptionsbekämpfung und eine Öffnung der Wirtschaft Griechenland wohlhabender und lebenswerter machen würden. Sie fürchten „neoliberale“ Reformen, von denen nur die Ausländer und die bereits Reichen profitieren würden.
Diese Angst ist verständlich, aber völlig fehl am Platz. Vielmehr würde Offenheit genau das Gegenteil der Befürchtungen bewirken: Sie würde den Würgegriff schwächen, in dem die Interessengruppen und Oligarchen die griechische Volkswirtschaft derzeit halten. Genau diese Angst machen sich die Gewerkschaften des öffentlichen Sektors und die mächtigen Wirtschaftslobbys zunutze, um – Hand in Hand mit Syriza – jeden Versuch zu blockieren, bestehende Privilegien wie Rentenansprüche und Steuervorteile abzuschaffen. Syriza ist nicht Griechenlands Anti-Austeritäts-Partei, Syriza ist Griechenlands Anti-Reform-Partei.
Griechenland verspielt damit auf tragische Weise seine Chance. Eine progressive griechische Regierung müsste nachdrücklich auf eine gesamteuropäische Reformpolitik drängen. Sie könnte dies tun, wenn sie die wirklichen Probleme der Eurozone thematisieren würde, und wenn sie offen zugeben würde, dass alle Mitgliedsstaaten für die ursprüngliche Architektur der Eurozone verantwortlich sind, da sie ihr zugestimmt haben. Doch das Projekt einer gemeinsamen Währung hat sich vor allem für die kleineren Staaten an der Peripherie, die jetzt schmerzhafte Anpassungen erleben, als Fiasko erwiesen. In den vergangenen fünf Jahren mussten fünf Euroländer Unterstützung in Anspruch nehmen (Griechenland, Portugal, Irland, Spanien, Zypern) – und andere könnten noch folgen. Dies beweist: Das Problem ist systemisch und nicht etwa von den einzelnen Ländern hausgemacht.
Am entscheidenden Thema redet Syriza vorbei
Die Defekte sind bekannt: Der Euroraum betreibt keine gemeinsame Fiskalpolitik. Zudem fehlt es an automatischen Stabilisatoren, wie sie andere Währungsunionen in ihren einzelnen Regionen einsetzen, beispielsweise Arbeitslosen- und Wohngeld, ein gemeinsames Gesundheitswesen, geteilte Bankenrisiken, Einlagensicherungssysteme und ein Kreditgeber, der in letzter Instanz einspringen könnte. Hinzu kommt, dass die Arbeitnehmer – aufgrund von Sprach- und Regulierungsbarrieren – nicht die gleiche Mobilität aufweisen, wie sie etwa für die USA typisch ist.
Die Eurozone ist daher eine äußerst ungerechte Wirtschafts- und Währungsunion. Die Mitgliedsstaaten sind großen Finanz- und Handelsströmen ausgesetzt, die sehr leicht destabilisierend wirken können. Obendrein potenzieren sich die Auswirkungen von Krisen, weil es den Staaten nicht möglich ist, bei Bedarf von den üblichen Instrumenten der Geld- oder Fiskalpolitik Gebrauch zu machen, um negative Folgen abzumildern.
Auf der anderen Seite stehen die Gewinner, die außergewöhnliche Vorteile genießen. Deutschland hat von den niedrigen Zinsen und dem festen Wechselkurs gegenüber seinen wichtigsten europäischen Handelspartnern sehr profitiert, mit denen die Deutschen, geschützt durch die Institutionen des Binnenmarktes, freien Handel treiben können. Eine Aufwertung der eigenen Währung hätte den deutschen Exportboom stark gebremst. In der Eurozone kann den Deutschen dies jedoch nicht passieren.
Deutschlands politische Klasse scheint die Unfairness der Eurozone frohgemut zu ignorieren. Sie weigert sich, ihren Beitrag zur Korrektur der Handelsungleichgewichte gegenüber Deutschlands Partnern zu leisten. Und sie hängt offenbar dem Märchen an, es könne einen fairen Wettbewerb zwischen den Unternehmen in Deutschland und den Unternehmen in der Peripherie geben – Unternehmen, die keinen Zugang zu Bankkrediten haben und deren Länder wirtschaftlich und politisch so instabil sind, dass Investoren abgeschreckt werden. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat im vorigen Jahr (in seiner Entscheidung zum OMT-Programm) sogar die Missachtung der Auswirkungen, die deutsche Politik auf das Ausland hat, zu einer Art „verfassungsrechtlichen Pflicht“ erklärt. So wird konservative Politik als juristische Doktrin verkleidet.
Das entscheidende Thema, das Griechenland mit Nachdruck vorbringen müsste, heißt Gerechtigkeit in der Eurozone. Der Euro hat in etlichen Peripheriestaaten zu einer wirtschaftlichen Implosion, wachsender Ungleichheit, verbreiteter Korruption und einem dramatischen Verlust an Vertrauen in Demokratie und die EU geführt. Diese Entwicklungen ergeben sich nicht aus isolierten und hausgemachten Fehlern (wobei es auch diese tatsächlich gibt). Das Debakel ist vor allem ein Ergebnis kollektiver Entscheidungsprozesse, in denen die möglichen Auswirkungen der europäischen Währungsarchitektur völlig falsch eingeschätzt wurden. Wir haben eine Handels- und Währungsunion geschaffen, die Risiken, Lasten und Vorteile der Zusammenarbeit sehr ungleich unter ihren Mitgliedern verteilt. Dieses kollektive Problem kann nur kollektiv gelöst werden.
Eine progressive Regierung für Griechenland müsste mit Nachdruck über die Notwendigkeit sprechen, effiziente Märkte und soziale Gerechtigkeit in einem neu gestalteten Euroraum miteinander zu verbinden. Wir brauchen viele weitere Strukturen solidarischer Lastenteilung, einen intensiveren Fokus auf die Schaffung von Arbeitsplätzen, mehr Unterstützung für die Armen und stärkere demokratische Institutionen. Die Abkehr vom Austeritätskurs zum Wohle der arbeitenden Menschen und der Arbeitslosen in ganz Europa ist nicht nur ökonomisch vernünftig, sondern auch ein dringendes Gebot der Gerechtigkeit. Von dieser einfachen Wahrheit lenkt die Syriza-Regierung mit ihrer feindseligen Verschwörungsrhetorik ab. Sie ignoriert damit das entscheidende Argument für den Neuanfang in Griechenland und Europa.
Aus dem Englischen von Tobias Dürr
Gesine Schwans Position zu Syriza finden Sie hier.