Teilhabe und gleiche Chancen
Vor über einem Jahrzehnt gelang es der damaligen rot-grünen Bundesregierung, bedeutende Schritte bei der Modernisierung der deutschen Integrations- und Zuwanderungspolitik einzuleiten. Das neue Zuwanderungsgesetz, das im Jahr 2005 in Kraft trat, reformierte unter anderem die Aufenthaltstitel für Zuwanderer und brachte die heute von allen Seiten geschätzte Idee der Integrations- und Sprachkurse auf ihren Weg. Der eine oder andere Konservative in den Reihen der CDU / CSU meint heute sogar im Nachhinein, es im Grunde selbst erfunden zu haben. Dabei hatten genau diese Akteure zuvor vehement gegen das Zuwanderungsgesetz gestritten. Bereits fünf Jahre zuvor hatte Rot-Grün das noch aus der Kaiserzeit stammende Staatsangehörigkeitsrecht neu gestaltet. Die Einführung des Ius Soli bedeutete, dass in Deutschland geborene Kinder der zweiten Einwanderergeneration per Geburt die deutsche Staatsange-hörigkeit erhalten können. Zweifellos könnte diese Staatsangehörigkeitsreform als Meilenstein gelten – wäre da nicht der Haken mit der Optionspflicht. Diese verpflichtet die Kinder dazu, sich bei Erreichen der Volljährigkeit für eine Staatsangehörigkeit zu entscheiden.
Aber nicht nur gesetzgeberisch, sondern auch mit Blick auf gesellschaftliche Haltungen entwickelte sich Einiges. Die Erkenntnis, dass Deutschland eine zunehmend vielfältige Bevölkerung besitzt, neue Zuwanderer anzieht und diese in Zeiten des demografischen Wandels auch benötigt, ist inzwischen in weiten Teilen der Gesellschaft angekommen. Es verfestigt sich, so urteilt der Sachverständigenrat Deutscher Stiftungen für Integration und Migration in seinem jährlich erscheinenden Integrationsbarometer, ein pragmatisch-positives Integrationsklima. Das Thema ist stets präsent und wird immer mehr als wichtige Querschnittsaufgabe aller politischen Ressorts sowie der Gesellschaft insgesamt anerkannt. Genau das möchten wir Sozialdemokraten bestärken und durch unsere Politik immer wieder neu gestalten.
Leider gab es gerade im politischen Diskurs der vergangenen Jahre auch verbale Störfeuer und politische Entscheidungen, die uns im Bemühen um mehr Zusammenhalt und Gerechtigkeit zurückgeworfen haben (wobei auch einzelne Mitglieder meiner eigenen Partei problematische Beiträge leisteten). Hierzu gehören pauschale und zuweilen völlig unbelegte Behauptungen über Integrationsverweigerung – beispielsweise über sicherheitsgefährdende Parallelgesellschaften, zu denen angeblich ganze Gruppen aufgrund von Religion oder Herkunft gehören. Hierzu gehören auch Debatten über die Frage, ob nun der Islam und die Muslime zu Deutschland gehören (sollen) oder nicht. Das alles hat uns nicht weitergebracht und wies bisweilen sogar Züge von Realitätsverweigerung auf. Auch Ignoranz ist hierbei ein nicht zu unterschätzender Faktor. Denn wer würdigt die Leistung der Gastarbeiter in unserem Land? Wer sieht die Bildungserfolge bei Jugendlichen, deren Eltern nur für kurze Zeit oder nie eine Schule besucht haben?
Es ist an der Zeit, die positiven Ansätze wieder zu stärken und eine moderne Integrationspolitik zu verfolgen. Mit weniger Emotionen und Vorurteilen, stattdessen mit einem schärferen, sachlichen Blick auf konkrete Problemlagen und Ursachen. Ohne die ewige Spaltung zwischen „uns“ und „denen“, dafür mit Kooperation auf Augenhöhe und dem Ziel, das Leben für alle hier lebenden Menschen lebenswerter zu machen, ganz gleich welcher Herkunft oder Religion. Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität – die traditionellen sozialdemokratischen Werte sollten auch unsere Integrationspolitik bestimmen. Dazu aber müssen wir Integrationspolitik neu denken, die Geschichte neu erzählen! Das bedeutet, den Begriff der Integration irgendwann zu überwinden und durch den selbstverständlichen, gesellschaftspolitischen Anspruch auf Teilhabe und Partizipation zu ersetzen. Das erfordert ganz konkrete Maßnahmen in verschiedenen Politikfeldern.
Das Betreuungsgeld grenzt an Sabotage
Da wäre zunächst der große Bereich von Bildung, Ausbildung und Berufseinstieg. Internationale Studien zeigen immer wieder, dass in Deutschland der Bildungserfolg in hohem Maße von der sozialen Herkunft abhängt – ein völlig inakzeptabler Zustand. Die schlechteren Ausgangsbedingungen von Kindern aus bildungsfernen oder finanziell schwachen Haushalten müssen wettgemacht werden, um für alle Kinder und Jugendlichen die Chance auf sozialen Aufstieg und erfolgreiche Bildungs- und Berufswege zu gewährleisten. Dabei muss die Politik klare Schwerpunkte setzen und beispielsweise die Sprachförderung systematisch ausbauen, die im Übrigen zunehmend auch sozial benachteiligte Kinder aus Familien ohne jegliche Zuwanderungsgeschichte benötigen. Auch eine leistungsfähige Schulsozialarbeit sowie Orientierungshilfen vor und während der Berufsausbildung sind dringend erforderlich.
Die derzeitige Politik der Regierung Merkel / Rösler im Hinblick auf die Förderung von Bildung ist geradezu rückschrittlich. Das von Schwarz-Gelb beschlossene Betreuungsgeld müssen wir unbedingt verhindern. Es verschwendet rund zwei Milliarden Euro im Jahr, die dringend für den Ausbau von Krippen, Kitas und Tagespflege benötigt werden. Doch die schwarz-gelbe Koalition tut nicht nur zu wenig, um allen Kindern den frühen Einstieg in Bildung und Betreuung zu ermöglichen, sie lässt die Jugendlichen auch am – vermeintlichen – Ende ihres Bildungsweges hängen. Immer noch erhalten jährlich über 80 000 Jugendliche keinen Ausbildungsplatz, und fast 270 000 junge Menschen stecken in ausbildungsvorbereitenden Maßnahmen, ohne jemals eine qualifizierende Ausbildung zu erreichen.
Moderne Integrationspolitik darf jedoch niemanden zurücklassen. Sie muss sehr früh ansetzen, später aber auch zweite und sogar dritte Chancen gewähren, die junge Menschen möglicherweise brauchen, um ihren Weg erfolgreich gehen zu können. Die SPD strebt deshalb eine „integrierte soziale Lebenslaufpolitik“ an, die in der jeweiligen Lebenslage die optimale Unterstützung bietet. Dazu gehören erstens ein Recht auf Ausbildung, zweitens individuelle Fördermaßnahmen und drittens Unterstützung beim Nachholen von Schulabschlüssen. All das ist notwendig, weil Arbeit und Einkommen wesentliche Faktoren für eine gelungene Integration darstellen. Aus diesen Faktoren speisen sich Anerkennung, gesellschaftliche Teilhabe und die Möglichkeit eines weitgehend selbstbestimmten Lebens.
Nur als Einbürgerungsland kommen wir voran
Auch beim Staatsangehörigkeitsrecht müssen wir in unserem Land neue Wege gehen. Deutschland ist unbestreitbar ein Einwanderungsland und profitiert enorm von seiner Vielfalt, dem Engagement und den Ideen der Menschen verschiedenster Herkunft. Jetzt müssen wir konsequent handeln und auch Einbürgerungsland werden. Deshalb sollen ausländische Studierende, die bei uns ihren Abschluss machen, dauerhaft in Deutschland bleiben können. Noch wichtiger: Die doppelte Staatsbürgerschaft muss generell hingenommen werden, so wie es in vielen EU-Staaten längst Normalität ist. Auch bei uns ist die „Ausnahme“ des doppelten Passes längst zur Regel geworden: Bei Einbürgerungen in Deutschland behielten im Jahr 2011 bereits 50,4 Prozent der neuen Deutschen ihre bisherige Staatsangehörigkeit bei. Die Ungleichbehandlung, dass dieses Recht manchen Betroffenen zusteht, anderen aber nicht, muss beendet werden.
Ebenso dringlich ist es, den Optionszwang im Staatsangehörigkeitsrecht abzuschaffen. Mädchen und Jungen, die ausländische Eltern haben und hier geboren wurden, sollen die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten und auch dauerhaft deutsche Staatsbürger bleiben. Die Optionspflicht, die hier aufgewachsene junge Menschen mit der Volljährigkeit zwingt, sich für eine Staatsangehörigkeit zu entscheiden und sie unter Umständen wieder zu Ausländern macht, ist ein massives Integrationshemmnis – und obendrein ein bürokratisches Monstrum. Machen wir uns klar, wie absurd es ist, dass in Deutschland geborene und aufgewachsene junge Menschen plötzlich mit der Frage konfrontiert werden, ob sie nicht doch wieder Ausländer sein wollen! Die weitere Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts ist deshalb schlichtweg unumgänglich. Nur so werden wir den Lebensrealitäten der vielen jungen Deutschen mit ausländischen Wurzeln und, allgemeiner, der Wirklichkeit einer weltoffenen, pluralistischen Gesellschaft gerecht.
Der Modernisierung bedürfen dringend auch Deutschlands Städte. Sie sind für gelingende Integration entscheidend. Dabei mag das Thema Stadtentwicklung auf den ersten Blick nicht als wichtiger Bestandteil einer progressiven Integrationspolitik gelten. Doch die Orte, an denen sich das Gelingen oder Misslingen von Zuwanderung und Zusammenleben in Vielfalt maßgeblich entscheidet, sind nun einmal unsere Städte. Ebenso zeichnet sich in den Städten die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich besonders deutlich ab. Einzelne Stadtteile beherbergen überdurchschnittlich viele Menschen mit geringem Einkommen, niedrigen oder keinen Schulabschlüssen und limitierten Erwerbschancen. Wenn zu den sozialen Ungleichheiten auch noch Defizite in der Infrastruktur hinzukommen, sind die Bewohnerinnen und Bewohner zusätzlich benachteiligt. Dann entsteht eine Abwärtsspirale und ganze Stadtteile drohen abgehängt zu werden. Dabei entscheidet sich genau dort, im direkten Lebensumfeld, ob Kinder Zugang zu Bildung erhalten, ob Integration und das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Kulturen gelingt und ob Menschen gesund und in Sicherheit leben können.
Integration findet also vor allem vor Ort statt, in den Kommunen und in der Nachbarschaft. Deshalb ist Stadt- und Quartiersentwicklung eine besonders wichtige Zukunftsaufgabe. Aus ihr hat sich die jetzige Bundesregierung jedoch seit 2009 systematisch zurückgezogen. Die Streichung der Bundesmittel für das Programm „Soziale Stadt“ um rund 70 Prozent sind für die Kommunen verheerend. Besonders der Ausschluss sozial integrativer Maßnahmen aus dem Förderkatalog, beispielsweise Betreuungsangebote für Jugendliche oder Sprachförderung, ist geradezu unbegreiflich unsinnig. Teilhabe, Solidarität und Eigenverantwortung in benachteiligten Stadtteilen können vor Ort am effektivsten durch ein Programm wie die „Soziale Stadt“ gestärkt werden, das die lokalen Lebensbedingungen verbessert. Das von der rot-grünen Regierung 1999 gestartete Programm hat aufgrund seines beteiligungsorientierten und ressortübergreifenden Ansatzes Vorbildcharakter und schafft wichtige lokale Anreize. Die vielen Erfolgsgeschichten, Strukturen und Netzwerke der „Sozialen Stadt“ drohen angesichts der drastischen Kürzungen wieder zu zerbröseln. Das dürfen wir nicht zulassen.
Bildung und Ausbildung, Staatsangehörigkeitsrecht, sozial-integrative Stadtentwicklung: Am Beispiel dieser drei großen politischen Handlungsfelder habe ich versucht zu zeigen, wie umfassend das Themengebiet Integration ist und wie breit gefächert eine zeitgemäße Integrationspolitik agieren muss. Integration ist ein soziales Phänomen. Es geht nicht primär um Unterschiede in Herkunft oder Religion, sondern um Chancengleichheit und Teilhabe für alle. Damit diese wichtige Zukunftsaufgabe energisch angepackt werden kann, braucht Deutschland eine neue Regierung.