The Kids Are All Right
„Nein, ich bin nicht Charlie!“, schrieb eine 15-jährige Schülerin mit arabischem Migrationshintergrund, als ihr Lehrer die Klasse aufforderte, einen Aufsatz über den Anschlag von Paris und den „Islamischen Staat“ (IS) zu schreiben. „Sondern ich bin das zerstörte Gaza, das abgeschlachtete Syrien, das hungernde Afrika, das zerteilte Kurdistan, … das besetzte Afghanistan, das unterdrückte Ägypten, das bombardierte Libyen, das belagerte Yarmouk und Daraa-Flüchtlingslager, das vergessene Guantanamo.“ Die Schülerin griff dabei auf einen im Internet kursierenden und spontan von tausenden Jugendlichen mit „Like“ versehenen Text des Frankfurter Rappers SadiQ zurück.
Mit Salafismus oder dem IS haben solche Positionen zunächst nichts zu tun. Sie stellen meist auch keine Sympathiebekundung mit den Attentätern von Paris dar. Im Gegenteil: Sie sind Ausdruck des Protests und eines Gefühls von Nichtzugehörigkeit. „Millionenfach zeigt ihr euch bestürzt und empört über die ermordeten Karikaturisten, aber über unsere Toten spricht hier niemand“, lautet der Vorwurf, den viele Jugendliche in den globalisierten Klassenzimmern in Hamburg, Frankfurt und Essen ebenso teilen wie in Paris, Marseille oder Toulon. Natürlich sind solche provokanten Haltungen von Jugendlichen eine Herausforderung – und es sind vor allem Salafisten, die sie für sich zu nutzen wissen. Die Empörung, mit der viele Lehrkräfte darauf reagieren oder mit der Medien über Jugendliche berichteten, die Schweigeminuten für die Opfer verweigerten, mag verständlich sein – sie versperrt allerdings den Blick auf die Chancen für Pädagogik und Prävention, die sich hier eröffnen. Aber der Reihe nach.
Was macht den Salafismus für Jugendliche und junge Erwachsene attraktiv? Diese Frage wurde in den vergangenen Monaten immer wieder gestellt. Zunächst ist festzuhalten, dass die große Mehrheit junger deutscher Muslime von Predigern wie Pierre Vogel eher peinlich berührt ist. Und: Unter den wenigen Salafisten, die meinen, den Islam in Irak, Syrien oder Afghanistan mit Gewalt „verteidigen“ zu müssen, finden sich viele Konvertiten deutscher Herkunft – ein erster Hinweis darauf, dass es nicht „der Islam“ ist, der junge Menschen antreibt. Deren Biografien zeigen, dass Erfahrungen von Entfremdung, Ohnmacht, Perspektivlosigkeit und Verwahrlosung die Angebote des Salafismus – Gemeinschaft, Orientierung, einfache Weltdeutungen – attraktiv erscheinen lassen. Übrigens machen auch andere extreme Strömungen solche Angebote.
»Die Deutschen werden mich nie akzeptieren«
Häufig spielen komplizierte, widersprüchliche und für Kinder und Jugendliche belastende Familiengeschichten eine zentrale Rolle. Dies gilt besonders für die kleine Gruppe der Gewaltbereiten, denen die religiös begründete radikale Ideologie ein Ventil für ihren Frust und ihre Wut bietet – und die Chance, sich einmal im Leben mächtig, überlegen und auf der richtigen Seite zu fühlen.
Daneben spielen bei fast allen Jugendlichen mit Migrationshintergrund Erfahrungen von Diskriminierung und Nichtzugehörigkeit eine Rolle. „Die Deutschen“, heißt es zum Beispiel, „werden mich in hundert Jahren noch fragen, woher ich komme, nur weil ich schwarze Haare habe.“ Jugendliche sind in besonderer Weise sensibel dafür, was Stimmungsbarometer schon lange dokumentieren: Die Mehrheit der Deutschen steht dem Islam und den Muslimen skeptisch bis ablehnend gegenüber – bis hin zu unverhohlenem Rassismus. Auch Medien und Politik scheinen diesen Jugendlichen nicht selten nahezulegen, „den Islam“ aufzugeben, wenn sie „dazugehören“ wollen, weil ihre Religion angeblich nicht mit Demokratie, Grundrechten oder der „christlich-abendländischer Leitkultur“ kompatibel sei. Die Salafisten bieten diesen Jugendlichen nicht nur ein Forum und Ventil für ihre Diskriminierungs- und Ungerechtigkeitserfahrungen, sondern geben ihnen zudem das Gefühl, mit ihrer Religion anerkannt und willkommen zu sein – eben: dazuzugehören.
Dabei ist gerade diesen in Deutschland geborenen Jugendlichen der dritten und vierten Generation viel stärker als ihren Eltern und Großeltern bewusst, dass Deutschland ihre Heimat ist. Umso empfindlicher reagieren sie auf die Erfahrung, nicht so akzeptiert zu werden, wie sie sind und für das, was ihnen wichtig ist. Dies führt nicht selten zu einem überbetonten Rückbezug („Isso bei uns“) oder verschiedenen Formen von Selbst-Ethnifizierung. Wenn sie dann in der Schule lauthals und provokativ verkünden, nicht „deutsch“, sondern „türkisch“, „arabisch“ oder „muslimisch“ zu sein, oder wenn sie erklären, dass ihnen die Scharia (von der sie oft selbst keine Ahnung haben) wichtiger sei als das Grundgesetz, wird ihnen das schnell als Ausdruck von Segregation und Rückzug in „Parallelgesellschaften“ oder gar Islamismus vorgeworfen. Hier liegt aber ein grundlegendes Missverständnis vor.
Denn häufig ist genau das Gegenteil der Fall: Wenn Jugendliche Bestandteile „ihrer“ Kultur oder Religion betonen, dann steht dahinter meist das integrative Bedürfnis, mit den ihnen eigenen Besonderheiten als Teil der Gesellschaft anerkannt zu werden. Hinter ihrem „Hallo, hier sind wir“ oder in dem „Wir sind auch ein Teil vom deutschen Volk“, wie es der Rapper Alpa Gun in seinem populären Stück „Ausländer“ einmal formulierte, verbirgt sich letztlich die legitime Forderung, das Postulat der Einwanderungsgesellschaft auch einzulösen. Dass diese Forderung mitunter überzogen, aggressiv und beleidigend vorgetragen wird („Schweinefleischfresser“, „Deutsche Schlampe“), ist – zum Beispiel für Lehrkräfte – nur schwer erträglich. Verständnis und Verständigung können indes da entstehen, wo weniger auf die vordergründige Provokation, sondern auf den dahinter verborgenen Integrationswunsch reagiert wird.
Eltern und Großeltern sind oft überfordert
Dafür ist es höchste Zeit. Denn in Reaktion auf die Erfahrungen nach dem 11. September hat eine ganze Generation von Jugendlichen mit muslimischem Migrationshintergrund auf der Suche nach Zugehörigkeit und Aufmerksamkeit den Islam als kleinsten gemeinsamen Nenner für sich entdeckt, obwohl – oder gerade weil – Muslime spätestens mit den Anschlägen von New York unter Generalverdacht stehen. Religiosität spielt dabei oft eine untergeordnete Rolle, stattdessen geht es um den Islam als Bestandteil des Selbstverständnisses einer Minderheit, die es – aus ihrer Sicht – zu behaupten gilt.
Die Suchbewegungen von jungen, mehr oder weniger religiösen deutschen „Muslimen“ sind zunächst (wenn auch nicht in jeder ihrer Erscheinungsformen) emanzipatorisch und integrativ, weil sie darauf abzielen, als gleichberechtigte Teile der multikulturellen Gesellschaft anerkannt zu werden. Problematisch wird es jedoch dann, wenn Jugendliche auf ihre Fragen keine oder ideologisch eingefärbte Antworten bekommen. So sind Eltern und Großeltern oft überfordert, etwa wenn ihr Religionsverständnis in den Traditionen ihrer Herkunftsregionen verhaftet ist. Auch der örtliche Imam ist in der Regel kein Ansprechpartner; üblicherweise kennt er sich weder auf Facebook noch in den Einkaufszentren aus, in denen Jugendliche große Teile ihrer Freizeit verbringen.
Hier kommen die im Internet omnipräsenten Salafisten ins Spiel. Sie erklären den Jugendlichen – auf Deutsch – was richtig und was falsch ist und was sie zu tun und zu lassen haben, um ein „guter Muslim“ zu sein. Solche einfachen Antworten sind für viele attraktiv. Dass sie Denk- und Lebensformen abwerten, die von dem rigiden Islamverständnis des Salafismus abweichen, erkennen viele Jugendliche nicht. Ihre Ideologisierung beginnt damit weit im Vorfeld etwaiger Radikalisierungsprozesse.
Wenn also die 15-jährige Schülerin weiter schreibt: „Nein, ich bin nicht Charlie. Ich bin die über 1,5 Millionen toten Muslime, die in den letzten Jahren durch die blutige Hand der Westmächte getötet wurden“, dann macht sie das noch lange nicht zur Salafistin. Solche vorschnellen Schlüsse sollten wir vermeiden. Aber sie formuliert eine weit verbreitete Überzeugung, an die der Salafismus mühelos anknüpfen kann. Aus dem Unmut über eigene Diskriminierungserfahrungen (und derjenigen anderer Muslime, vorzugsweise der Eltern) speist sich ein pauschales Feindbild: „Der Westen“, so behaupten sie, bekämpfe seit jeher „den Islam“ und „die Muslime“. Genau da setzen die Salafisten mit ihrer Hauptbotschaft an: „Als Muslim wirst Du nie dazugehören. Komm zu uns. Hier kannst Du Dich wehren. Gemeinsam sind wir stark!“ Dieses Denken kann in einzelnen Fällen (aber immer im Zusammenspiel mit anderen Motiven!) bis zur Legitimation von Gewalt und Terror führen.
Was ist also zu tun? Zunächst muss viel deutlicher als bisher zwischen Deradikalisierung und Prävention unterschieden werden. Wenn derzeit von Prävention die Rede ist, ist meistens Deradikalisierung gemeint. Deradikalisierung zielt darauf ab, einzelne bereits ideologisierte und unter Umständen radikalisierte Jugendliche und junge Erwachsene zu erreichen – wobei Ausstiegsprozesse, das zeigen Erfahrungen aus dem Rechtsextremismus, Jahre dauern können. Maßnahmen zur Deradikalisierung werden in der Regel dann eingeleitet, wenn die Jugendlichen bereits radikalisiert sind. Sie findet in enger Kooperation mit den Sicherheitsbehörden statt. Hingegen treten Programme und Initiativen zur Prävention bislang viel zu wenig in Erscheinung. Zu übermächtig erscheinen akute Bedrohungsszenarien und die Bilder vom Terror des IS. Diese Schieflage sollte korrigiert werden. Die derzeit in diversen Bundesländern entstehenden „Präventionsnetzwerke“ bieten die Gelegenheit dazu.
Deutsch und muslimisch darf kein Widerspruch sein
Prävention ist Demokratieerziehung. Sie richtet sich proaktiv, also weit bevor eine mögliche Ideologisierung und Radikalisierung einsetzen kann, an „ganz normale“ Jugendliche und junge Erwachsene, etwa in Schulen und Jugendeinrichtungen. In Bezug auf den Salafismus findet Demokratieerziehung allerdings in einem spezifischen Kontext statt: Vor allem Jugendliche mit Migrationshintergrund brauchen Räume, in denen sie frei über ihre Fragen zu Herkunft, Zugehörigkeit, Identität, Kultur und Religion sprechen können – sonst kommen andere und geben einfache Antworten. Jugendliche müssen sensibilisiert und befähigt werden, simple Religions-, Welt- und Feindbilder zu hinterfragen. Dazu sind auch religiöse Angebote wichtig: Dass Islam und Demokratie (oder auch Scharia und Grundrechte) keinen Gegensatz darstellen, sondern selbstverständlich miteinander vereinbar sind, wäre eine Botschaft, die besonders für Jugendliche wichtig ist. Allzu oft wird ihnen nämlich suggeriert, dass sie sich entscheiden müssten – statt ihnen zu vermitteln, dass sie „muslimisch“ und „demokratisch“ ebenso wie „türkisch“, arabisch“ oder „bosnisch“ und „deutsch“ sein können. Dabei müssen universelle Werte in den Mittelpunkt gerückt werden, die im Islam selbstverständlich auch zuhause sind: Gerechtigkeit, soziale Verantwortung, Toleranz und Frieden. Der Salafismus könnte hier geradezu als Chance verstanden werden, sich dieser gemeinsamen Werte des Zusammenlebens neu zu vergewissern.
Eigene Erfahrungen müssen anerkannt werden
Im Weiteren richtet sich Prävention an die vornehmlich nicht-muslimischen Multiplikatoren, Pädagogen etwa, die in globalisierten Klassenzimmern arbeiten und oft nur wenig über die Lebenswelten der Jugendlichen wissen. Neben entsprechenden Kenntnissen ist ein Klima der Anerkennung Voraussetzung für präventiv wirksame Arbeit: „The kids are all right“, sollte die Grundhaltung sein, ungeachtet aller Fragen, Konflikte und Skepsis. Hierzu müssen wir auch unseren Sprachgebrauch prüfen und verändern – im Klassenzimmer, aber ebenso in Politik und Medien. Jugendliche sind sehr sensibel für ausgrenzende „Wir-und-Die-Diskurse“. Deutliche Signale der Zugehörigkeit sind von großer Bedeutung für gelingende Kommunikation und Integration. Sie sind zudem die Basis für kritische Interventionen, um problematische Einstellungen und Positionen hinterfragen, irritieren und begegnen zu können. Und noch etwas zeigt die Erfahrung: Wer über Islamismus reden will, darf über Islamfeindlichkeit nicht schweigen. An dieser Lebenswirklichkeit kann und sollte Prävention ansetzen.
Dabei sind für Jugendliche formelhaft erscheinende Konzepte wie die freiheitlich-demokratische Grundordnung, das Grundgesetz oder die Demokratie nicht unbedingt das Maß der Dinge. „Wie wollen wir leben?“ lautet hingegen die lebensweltnahe Grundfrage, die Jugendlichen helfen kann, eigene Positionen zu entwickeln. Hier sollten ihre Erfahrungen und Empfindungen im Mittelpunkt stehen und anerkannt werden. So macht die Position der 15-jährigen Schülerin zu den Anschlägen von Paris zwar einerseits die Gefahr der Ideologisierung deutlich. Sie bietet aber zugleich einen Ansatzpunkt für Pädagogik und Prävention: dann nämlich, wenn die darin zum Ausdruck kommende Empörung über Ungerechtigkeiten und die Empathie mit Opfern von Krieg und Gewalt positiv gewürdigt und zum Ausgang für ein Gespräch gemacht wird. Für ein Gespräch über die persönlichen Erfahrungen der Jugendlichen im Umgang mit Unrecht und Gewalt und darüber, wie es vielleicht besser laufen könnte – in der Schule, im Kiez, in Deutschland und der Welt. Dann gelingt nicht nur Präventionsarbeit, dann gelingt auch die Einwanderungsgesellschaft.«