Tony’s Blues

"Ill Fares the Land" fasst vor allem ein Gefühl linker Machtlosigkeit in Worte - und blendet das Versagen sozialdemokratischer Politik nahezu vollständig aus

Der Schwanengesang von Tony Judts Ill Fares the Land ist in der britischen Presse viel weniger positiv besprochen worden als in den Niederlanden. Die Rezensenten der Financial Times, des Daily Telegraph, des Independent und des Guardian kritisieren besonders Judts Pessimismus. Meiner Meinung nach zu Recht.

Hat die Jugend heutzutage wirklich jede Beziehung zu Politik und Gesellschaft verloren, wie Judt behauptet? Ist Barack Obamas Präsidentschaft tatsächlich schon für immer verspielt? Sind wir willenlose Opfer der unmoralischen Selbstsucht rechter Politiker (zu denen Judt auch Tony Blair und Gordon Brown rechnet)? Und stimmt es, dass wir uns 20 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer nur noch auf der blinden Jagd nach Gewinnen befinden?

Darüber hinaus stolpern Judts britische Kritiker über seinen Mangel an Sorgfalt. Sie erinnern an die Tatsache, dass die Staatsausgaben unter Margaret Thatcher nicht gesunken, sondern gestiegen sind, und dass in ihrer Amtszeit mehr für Bildung und Gesundheit ausgegeben wurde als in den siebziger Jahren. Unter Blair nahm das Wirtschaftswachstum zu, Arbeitslosigkeit und Armut gingen zurück. Zu Recht hat Chris Patten, dieser eigenwillige konservative Politiker, der mit What’s next? ein viel besseres Buch über die Herausforderungen der westlichen Politik verfasst hat, im Guardian darauf hingewiesen, dass sich alle darüber einig sind, wie vollkommen festgefahren England mit Old Labour in den siebziger Jahren war. Und dass man über Margaret Thatcher und Tony Blair alles sagen könne, nur nicht, dass sie unmoralisch waren, wie es Tony Judt der Einfachheit halber tut.

Das Problem der Sozialdemokratie ist gerade, dass die Kombination von bürgerlicher Moral und meritokratischem Ethos („Wer sein Bestes tut, wird nach oben kommen“) von Politikern wie Margaret Thatcher, Ronald Reagan sowie später Nicolas Sarkozy, Jan Peter Balkenende und Angela Merkel in den vergangenen 30 Jahren bei den „einfachen arbeitenden Menschen“ so gut ankam. Altmodisch formuliert: Die Arbeiterklasse wollte sich immer stärker mit den Zielen der Mittelschicht identifizieren. Ein Eigenheim, eine sichere Wohngegend, Ferien im Ausland und gute Bildung für die Kinder – und das Ganze am besten ohne Steuererhöhungen. Nur progressive Politiker, die diesen Kontext begriffen – wie Blair, Clinton und Kok – konnten Wahlen gewinnen. Tony Judt macht es sich zu einfach, wenn er die politischen Führer der vergangenen 30 Jahre als „Pygmäen“ bezeichnet.

Die Bedeutung von Judts Botschaft liegt in seiner Hauptfrage: Warum schafft es die Sozialdemokratie nicht, zu der Hegemonie zurückzukehren, die sie in der Periode 1945 bis 1975 in der westlichen Welt nach Beendigung der schwersten Finanzkrise in den dreißiger Jahren hatte? Die Antwort des Autors lautet, die Ungleichheit in den westlichen Gesellschaften sei enorm gewachsen und es mangele an Gemeinschaftsgefühl. Judt hat Heimweh nach einem sichtbar funktionierenden Sozialstaat, nach uniformierten Postboten und ordentlichen Bahnhöfen. Sein Rezept lautet folgerichtig, dass Sozialdemokraten selbstbewusst zu ihrem Etatismus der ruhmreichen Nachkriegsjahre zurückkehren sollten.

Stolz auf die Errungenschaften der Großväter

Dabei beruht seine Hoffnung auf negativen Emotionen: Die Angst vor Terrorismus, die Unsicherheit und Einkommensverluste müssten die Wähler in Richtung der Sozialdemokraten treiben. Sicher ist sich Judt seiner Sache jedoch nicht (und im Lichte der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts gibt es hierfür auch keinen Grund). Er definiert die Sozialdemokratie als einen Kompromiss: Im Gegensatz zu reinen Sozialisten akzeptierten Sozialdemokraten den Kapitalismus und die parlamentarische Demokratie. Zugleich relativiert er die Sozialdemokratie als eine typisch europäische, zeitgebundene Erscheinung. Am Ende hat Judt nicht viel mehr zu bieten als den Hinweis, Sozialdemokraten müssten stolz auf die Errungenschaften ihrer Väter und Großväter sein.

Aber nicht alles glänzt, was Sozialdemokraten im Laufe des 20. Jahrhunderts angepackt haben. Zu Recht macht Judt Sozialdemokraten für den desaströsen Kahlschlag in den Innenstädten verantwortlich, für trostlose Wohnkasernen, die zum Verlottern geradezu einladen, für den Qualitätsverlust in der höheren Bildung und die Vernachlässigung des öffentlichen Raumes und der Natur. Auch leidet Ill Fares the Land am Übel vieler linker Abhandlungen: Die Sozialdemokratie selbst wird nie als ein Machtfaktor analysiert, nie als eine politische Kraft, die im öffentlichen Sektor das Sagen hat. Judt verkennt, dass zahllose Sozialdemokraten und Gewerkschaftsfunktionäre als Bänker, Versicherer, Verwalter von Pensionskassen und anderen institutionellen Anlegern mitverantwortlich für die Kreditkrise sind. Diese Verstrickung betrifft bei weitem nicht nur die Deregulierung des Finanzsektors durch die amerikanischen Demokraten und die britische Labour-Führung. (Über die moralische Dimension der Kreditkrise hat Margaret Atwood eine wunderbare Monografie geschrieben: Payback.) Sozialdemokraten mit sauberen Händen gibt es nicht. Rechenschaft abzulegen ist unvermeidlich.

Letztlich fasst Tony Judt vor allem ein Gefühl linker Machtlosigkeit in Worte. Damit können wir nicht viel anfangen. «

Aus dem Niederländischen von Marc Drögemöller

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