Trügerisches Halbwissen

zu Thomas Hanke, Das finanzielle Analphabetentum, Berliner Republik 6/2008

Taxifahrer und Friseure wurden von Bankern bekanntlich traditionell als Informationsquelle geschätzt: Fingen sie an, über Aktien zu reden, war es höchste Zeit, zu verkaufen. Doch die Zeiten haben sich geändert. Über Dividenden, Leitzinsen und Bailout wissen in Zeiten von Riester-Rente und Börse im Ersten alle Bescheid – jedenfalls etwas.


Und das ist auch gut so, sagt die Intuition. Warum sollte Wissen schaden? Je mehr die Menschen Bescheid wissen, umso vernünftiger sollten sie eigentlich handeln – und vernünftiges Handeln kommt am Ende ihnen selbst und dem Gemeinwohl zugute, so die Theorie. Die Vertreter der Finanzindustrie sind übrigens derselben Meinung: Glaubt man den Arbeitgebern, dem Banken- und dem Industrieverband oder dem Deutschen Aktieninstitut, dann haben die Deutschen beim Thema Geld ein Pisa-Problem. Alle Jahre wieder kommt aus diesen Reihen die Forderung nach einem Schulfach Wirtschaft. Und die Branchenverbände der Fondsgesellschaften und der Versicherer fördern die finanzielle Bildung finanziell.


Mit der Finanzkrise ist nun ein neues Argument auf den Plan getreten: Die Krise sei auch deshalb möglich geworden, weil sich „in der Masse der Bevölkerung das finanzielle Analphabetentum breit gemacht“ habe, schreibt etwa Thomas Hanke in der Ausgabe 6/2008 der Berliner Republik. Sein Kronzeuge ist der amerikanische Ökonom Robert Shiller, der das Platzen von gleich zwei Spekulationsblasen vorausgesagt hat und daher auf diesem Gebiet als Autorität gelten darf.


Herdentrieb und Spekulationsblasen setzt Shiller Aufklärung entgegen. Seine Utopie ist die „finanzielle Demokratie“, in der mündige Finanzbürger mit vielen neuen Instrumenten agieren, je nach individuellem finanziellen Bedürfnis: Versicherung, Kredit, Geldanlage. Dazu gehören auch Derivate, die es erlauben, auf fallende Immobilienpreise zu spekulieren, um so aus Hauspreisblasen schon früh die Luft abzulassen. Das mache die Welt stabiler, meint Shiller. Der Hang zum Herdentrieb sei mit besserer Information und neuen Finanzinstrumenten in den Griff zu bekommen.


Ist diese Utopie realistisch? Mangelte es in der Vergangenheit tatsächlich an finanzieller Bildung? In den Vereinigten Staaten war Financial Literacy ein Schlüsselbegriff der vergangenen Jahre. Sie wurde von der amerikanischen Notenbank Fed propagiert, vom Finanzministerium und sogar von Präsident George W. Bush. Die Finanzbranche steckte jährlich dreistellige Millionenbeträge in Aufklärungskampagnen. Das „Education Program“ der Citigroup, einst die größte Bank der Welt, lief in guten Zeiten in 65 Ländern. In einigen amerikanischen Bundesstaaten ist Wirtschaft Schulfach. Doch dies alles hat nicht verhindert, dass Millionen von Amerikanern Hypotheken aufgenommen haben, die sie nie hätten aufnehmen (und schon gar nicht zugesagt bekommen) dürfen.


Die Maßnahmen scheinen wenig gefruchtet zu haben. Lauren Willis von der Loyola Law School in Los Angeles zieht eine negative Bilanz: „Finanzielle Bildung hat kaum nachhaltige Wirkung auf Wissen und insbesondere das Verhalten.“ Mehr Information könne eine „Illusion von Wissen“ erzeugen. Gegen das Marketing der Finanzindustrie sei finanzielle Bildung in der Praxis immer unterlegen, mögen die Lehrer noch so sehr zur Skepsis mahnen. Financial Literacy scheint eine Ausrede für die unterlassene harte Arbeit gewesen zu sein“ – nämlich effektive Regulierung. Beispielsweise habe die amerikanische Börsenaufsicht SEC den aufgeklärten Konsumenten als Ersatz für strikte Vorschriften stilisiert.


Tatsächlich war an den Übertreibungen auf einer ganzen Reihe von Märkten wohl vor allem der übersteigerte Optimismus Schuld. Er galt den Immobilienpreisen, der Aufholjagd der Schwellenländer, neuen Finanzinstrumenten oder dem Wachstumspotenzial von Volkswirtschaften. Sich dem Sog eines solchen Paradigmas zu widersetzen ist schwer. Denn es hieße letztlich, sich in Finanzdingen im Ernst für schlauer zu halten als Alan Greenspan.


Geldentscheidungen haben nämlich weniger mit Wissen als mit Psychologie zu tun. Die Experimente der behavioural finance zeigen, dass kognitives Wissen wenig hilft. Der Herdentrieb ist ein soziales Phänomen – und größer denn je, vermutet Robert Shiller. Was er ignoriert: Gerade die am besten informierten Menschen waren vor der Krise vom Herdentrieb erfasst. Finanzielle Bildung hat sie nicht davor geschützt, ihr Geld Bernie Madoff anzuvertrauen.


Vielleicht stimmt sogar eher das Gegenteil: Die Spekulationsblase wurde begünstigt durch den Glauben an Techniken, mit denen Kapital scheinbar ohne Risiko multipliziert oder das Lohneinkommen über Kredite maximal ausgeschöpft werden konnte. Vielleicht war der jüngste Crash auch deshalb stärker als die vorangegangenen, weil die Zahl der gut informierten Akteure deutlich zugenommen hat und ein größerer Anteil des weltweit angelegten Vermögens heute effizienter und flexibler verwaltet wird als früher. Dass so viele Akteure auf die gleichen Informationen weltweit in gleicher Weise reagiert haben, hat zumindest nicht gerade geholfen.



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