Über Steuern mutig streiten!
Die Steuerpolitik führt in Wahlkämpfen in der Regel ein widersprüchliches Dasein: Während die parteipolitischen Diskussionen permanent von Detailzahlen befeuert werden (etwa: „Bei uns werden X Prozent der Bevölkerung entlastet“ oder „Wir werden den Freibetrag für Verheiratete um X Punkte erhöhen“), rückt das Gesamtbild der finanzpolitischen Strategien und Prioritäten der Parteien meist völlig in den Hintergrund.
Das ist nicht gut so. Denn das wichtigste Merkmal der Steuerpolitik lautet, dass ständig in breiten Alternativen gedacht werden muss. Der Vorschlag, Steuern zu erhöhen, steht nie allein, sondern dient immer einem anderen politischen Ziel. Wenn ich die Bildungsinvestitionen in Deutschland erhöhen möchte, dann kann ich a) an anderer Stelle Ausgaben senken, b) neue Kredite aufnehmen oder c) Steuern erhöhen. Diese Optionen gehören zueinander ins Verhältnis gesetzt und abgewogen.
Hängen bleibt im Wahlkampf aber oft nur der Satz: „Partei X will den Spitzensteuersatz erhöhen“. Das ist natürlich viel prägnanter als die inhaltlich richtige aber viel zu lange und technische Darstellung: „Für Partei X hat Priorität, die Bildungsinvestitionen zu erhöhen. Die Finanzierung kann nicht über Ausgabensenkungen erfolgen, weil die möglichen Einsparungen über die Erhöhung des subventionierten Ökosteuersatzes für energieintensive Unternehmen schon für die Senkung der Staatsschulden eingeplant sind. Deshalb führt kein Weg an einer Steuererhöhung vorbei, die aber aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit nur Spitzenverdiener treffen soll.“ Tauglich für die Talkshow sind solche Ausführungen nicht.
Um die Gesamtperspektive muss es gehen
Erschwerend kommt hinzu, dass die Steuerthemen oft kompliziert sind – allein bei der Einkommenssteuer kommen unterschiedliche Steuerklassen, das Ehegattensplitting sowie diverse Abschreibungsmöglichkeiten ins Spiel. Journalisten, Stiftungen oder Institute versuchen, steuerpolitische Maßnahmen auf ihre konkreten Implikationen für typische Haushaltskategorien hin zu untersuchen („Die Jahresmehrbelastung für eine Familie mit zwei Kindern bei einem Einkommen von X beträgt Y“). Diese nackten Mehrbelastungszahlen stehen dann aber weder in einem Zusammenhang mit den breiteren politischen Alternativen, also mit den Maßnahmen, die durch sie finanziert werden, noch mit den ausbleibenden Steuer- oder Schuldenstanderhöhungen an anderer Stelle. Klar ist: Bierdeckelargumente verzerren die Komplexität von Entscheidungen über Einnahmequellen und Ausgabenprioritäten. Die wichtigste Anforderung an die Debatte um die Steuerpolitik ist deshalb, sie in einen breiteren Zusammenhang zu stellen. Es sollte weniger um technisches Kurzpassspiel gehen, als um das gesellschaftliche Gesamtkonzept, das dann nach einer politischen Bewertung verlangt.
Die folgenden vier Thesen zur deutschen Steuerpolitik sind ein möglicher Ansatz, diese Gesamtperspektive abzubilden. Es mag viele andere Gesamtperspektiven geben. Aber wenn es im Wahlkampf ganz generell gelingt, mehr über die Gesamtperspektiven zu sprechen, als über die Nachkommastellen bei den Einzelmaßnahmen, dann wäre das schon ein großer Erfolg.
Am Schuldenabbau führt kein Weg vorbei
These 1: Der Schuldenabbau muss die Priorität der deutschen Steuerpolitik sein. Das liegt nicht etwa daran, dass Schulden grundsätzlich schlecht sind und die schwäbische Hausfrau nur Geld ausgeben sollte, welches sie tatsächlich besitzt. Der Grund für das Primat des Schuldenabbaus in Deutschland liegt in einer ganz besonderen Kontextbedingung: der Demografie. Die Veränderungen in der Altersstruktur unserer Gesellschaft haben zur Folge, dass in den kommenden Jahrzehnten mit einer Stagnation des Wirtschaftswachstums zu rechnen ist. Dies ist dann der Fall, wenn die bevölkerungsbedingte Schrumpfung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht durch eine entsprechend starke Steigerung der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität ausgeglichen wird. Die Grafik [siehe Print-Ausgabe] illustriert diese Zusammenhänge. Sie zeigt eine Extrapolation des Wachstums in Deutschland in den kommenden Jahrzehnten unter der Annahme, dass die Arbeitsproduktivität (BIP pro Erwerbsperson) mit mit dem durchschnittlichen Wert der Periode 1992 bis 2008 wächst. In diesem Zeitraum brachte das BIP pro Erwerbsperson von 1,13 Prozent eine durchschnittliche Wachstumsrate von real 1,5 Prozent im Jahr für die gesamte Volkswirtschaft hervor. Aufgrund des Rückgangs der arbeitenden Bevölkerung würde das gleiche BIP pro Erwerbsperson bis 2060 in dieser Extrapolation aber nur noch zu einer durchschnittlichen BIP-Wachstumsrate von real 0,28 Prozent für die gesamte Volkswirtschaft führen.
Die Frage, wie der aktuelle Schuldenstand von mehr als zwei Billionen Euro zurückgeführt werden soll, wenn gleichzeitig die Wachstumsraten fallen und die sozialpolitischen Herausforderungen in einer alternden Gesellschaft eher steigen, ist kaum zu beantworten. Der aktuelle Finanzplan des Bundes 2011 bis 2015 geht von einer mittelfristigen Steigerung des preisbereinigten BIP von 1,5 Prozent aus. Das ist deutlich mehr, als die hier vorgestellten Extrapolationen erwarten lassen. Die demografischen Herausforderungen (die übrigens Ökonomen wie Paul Krugman, die von Deutschland ständig stärkere fiskalische Impulse verlangen, immer übersehen) machen deutlich, dass an einem Abbau des Schuldenstands kein Weg vorbei führt.
These 2: Deutschland hat ein Investitionsproblem – vor allem in der Bildung. Die deutsche Wirtschaftspolitik ist zu wenig auf die Zukunft ausgerichtet. Bei den Ausgaben für Bildung oder Infrastruktur, also den Grundlagen zukünftigen Wirtschaftswachstums, liegen wir mit einer Nettoinvestitionsquote von gerade drei Prozent (2011) im OECD-Vergleich weit hinten. Seit der Jahrtausendwende ist die Nettoinvestitionsquote des Staates gemessen am BIP in Deutschland im Schnitt sogar negativ. Das heißt, die öffentlichen Investitionen haben nicht einmal den Ersatzbedarf gedeckt. Besonders deutlich wird der Investitionsmangel im Bereich Bildung. Deutschland ist das einzige OECD-Land, in dem heute weniger junge Menschen einen Hochschulabschluss haben als ältere. Wir haben die niedrigste Studienanfängerquote und eine der niedrigsten Abiturquoten. Doch das Studium ist der Schlüssel zum sozialen Aufstieg. Die OECD rechnet mit einer Gesamtrendite von mindestens zehn Prozent für jeden im Bildungssektor investierten Euro.
Gerade wenn die Bevölkerung altert und die Zahl der Erwerbstätigen zurückgeht, ist es wichtig, den Beitrag jedes Einzelnen zu erhöhen. Bildung ist dafür der wichtigste Hebel. Aber auch anderswo fehlt es an Investitionen. Schon heute nimmt die Unterfinanzierung der öffentlichen Infrastruktur bedrohliche Ausmaße an: Kommunen sind finanziell nicht mehr in der Lage, ihre Aufgaben zu bewältigen. Renovierungen von Schulen und Kindergärten werden aufgeschoben. Es besteht ein immenser Nachholbedarf bei der Reparatur von Straßen. Viele unserer Universitäten sind der internationalen Konkurrenz in Sachen Ausstattung und Wettbewerbsfähigkeit immer noch unterlegen.
These 3: Steuererhöhungen sind nötig. Aus den ersten beiden Thesen ergibt sich eine Gleichung, die zum Herzstück der Steuerdebatte werden sollte: Zukünftige soziale Gerechtigkeit = Bildungsinvestitionen erhöhen + Staatsschulden senken. Jedem ist klar, dass die Konsolidierung der Staatsfinanzen bei gleichzeitiger Erhöhung der Bildungsinvestitionen Steuererhöhungen und/oder Ausgabensenkungen erfordern. Es ist mutig, wenn SPD und Grüne mit Forderungen nach einer Erhöhung der Einkommenssteuer für Spitzenverdiener in den Wahlkampf ziehen. Doch genau das ist der richtige Schritt im gesamtpolitischen Kontext.
Das ist eine politische Bewertung. Und diese ist an dieser Stelle dringend notwendig. Denn eine finanzpolitische Diskussion ohne Bewertung kann es nicht geben. Wer umgekehrt Steuern senken will, der wird entweder Ausgaben senken müssen, Sozialabgaben erhöhen oder zusätzliche Schulden aufnehmen. Alle drei Maßnahmen belasten die Bevölkerung an unterschiedlichen Stellen. Je nach Präferenz kann der eine oder andere die verteilungspolitischen Implikationen von zusätzlichen Schulden, höheren Steuern oder Sozialabgaben befürworten. Steuern und Sozialabgaben mögen ökonomisch ähnlich wirken, verteilungspolitisch wirken sie sehr unterschiedlich. Steuern holen sich wegen der Progression von den Reichen mehr als von den Ärmeren. Abgaben dagegen sind für alle Menschen gleich, oder ihre Progression ist gedeckelt. Sie treffen die Ärmeren überproportional. Wer sich für Steuersenkungen ausspricht und nicht auf den Cent genau darlegt, wo Einsparungen erfolgen sollen, der plädiert also entweder für höhere Sozialabgaben oder höhere Schulden.
Genau um solche Vergleiche muss es in der finanzpolitischen Auseinandersetzung im Wahlkampf gehen. Denn wer am Ende die Lasten tragen sollte, das ist eine Frage der politischen Bewertung. Ich bin überzeugt: Ein höherer Spitzensteuersatz (der heute schon bei Einkommen von rund 53.000 Euro pro Jahr fällig wird, also einem besseren Facharbeitergehalt, das keineswegs ein „Spitzeneinkommen“ ist) und eine angemessene Besteuerung von Vermögen wird von vielen als gerecht empfunden, so lange auf diesem Weg dringend notwendige Zukunftsinvestitionen ermöglicht werden, die sonst aufgrund der demografischen Entwicklung nicht mehr finanzierbar wären. Auch Schweden, Dänemark, Belgien, Portugal, Spanien und die Niederlande haben Spitzensteuersätze von mehr als 50 Prozent. Und eine Erhöhung der Besteuerung von Kapitalerträgen rechtfertigt sich im aktuellen Kontext schon allein dadurch, dass die massiven Injektionen von Liquidität durch die Notenbanken vor allem im Kapitalmarkt wirken. Wenn dort die Erträge rapide steigen, dann ist es ein Gebot der Stunde, einen kleinen Teil der Gewinne über eine erhöhte Steuer wieder an die Gemeinschaft zurückzuführen.
Bildung ist der beste Schutz vor Altersarmut
Übrigens: Was die Rentenfrage betrifft, macht die Steuerdebatte deutlich, dass großzügigere Rentenkompromisse oder gar teure Anpassungen der Rentenformel nicht realisierbar sind. Das mag für einige Sozialdemokraten hart klingen, ist aber bei näherem Hinsehen die logische Konsequenz einer der zukünftigen Gerechtigkeit verpflichteten Politik. Bildungsinvestitionen sind der beste Schutz vor Altersarmut. Sie verhindern Erwerbsarmut, die der Altersarmut vorausgeht. Als Baustein einer klaren wirtschaftspolitischen Strategie ist diese Haltung sicher leichter zu vermitteln als im engen Fokus einer isoliert geführten Rentendebatte. Auch die Rentendiskussion sollte deshalb eingebettet werden in eine viel breitere Debatte über die finanzpolitischen Prioritäten der Parteien.
Wer akzeptieren soll, später in Rente zu gehen, der muss wissen, dass dieser Schritt nicht die Folge zunehmender sozialer Kälte ist, sondern ganz im Gegenteil der Beitrag zu einer gerechteren Gesellschaft. Eine längere Lebensarbeitszeit ist deshalb auch kein simples Resultant demografischer Entwicklungen, sondern der Ausdruck gesellschaftlicher Präferenzen in einem finanzpolitischen Gesamtkonzept.
These 4: Wir müssen Finanzierungsquellen jenseits von Steuererhöhungen erschließen. Höhere Steuersätze sind nur ein Teil der Lösung. Natürlich müssen auch Ausgaben und Subventionen auf den Prüfstand: Die Steuerermäßigung auf Hotelübernachtungen ist nur die Spitze des Eisbergs. Aus meiner Sicht sollte das Kindergeld einkommensabhängig ausgezahlt werden, und auch das Elterngeld gehört überprüft. Auch die Befreiung von der Ökosteuer für energieintensive Unternehmen sollte nicht unter den Tisch fallen, wenn auf diesem Weg andere Prioritäten in der Steuerpolitik verwirklicht werden könnten.
Doch es gibt noch weitere Quellen, um die Finanzierung des Gemeinwesens zu erleichtern: Die Möglichkeiten zur Mobilisierung von privatem Kapital sind bei weitem nicht ausgeschöpft. In Deutschland gibt es so viel Reichtum wie nie zuvor. Allein das Geldvermögen wird auf 8,5 Billionen Euro geschätzt. In Deutschland wird mehr gespart als in den meisten anderen Ländern. Doch das Geld wandert viel zu oft ins Ausland und wird nicht in produktive Investitionen hierzulande gesteckt. Um privates Kapital besser in Zukunftsprojekte zu lenken, könnte zum Beispiel die steuerliche Absetzbarkeit von privaten Investitionen in ausgewählte zukunftsträchtige Leitprojekte erhöht werden. Oder der Staat könnte projektbezogene „Kommunal-Anleihen“ oder „Bürger-Fonds“ auflegen, mit denen sich die Bürger an konkreten kommunalen Vorhaben im Bereich Bildung und Infrastruktur beteiligten könnten. Hier sind innovative Lösungen gefragt, die die Wohlhabenden in unserer Gesellschaft einladen, freiwillig höhere Beiträge zu leisten, um die Gemeinschaft weiter zu bringen.
Oft wird gesagt: Die Skepsis in der Bevölkerung gegenüber der Verwendung öffentlicher Mittel durch den Staat ist hoch und die Akzeptanz von Steuererhöhungen dementsprechend gering. Ich glaube nicht, dass diese pessimistische Kurzeinschätzung zutrifft. Wenn es gelingt, die Diskussion auf das finanzpolitische Gesamtkonzept zu lenken, dann wird auch die Bereitschaft wachsen, für eine Stärkung der Gesellschaft und des Gemeinwesens höhere Beiträge zu leisten. Es geht darum, deutlich zu machen, dass höhere Steuern der Schlüssel zu einer besseren Zukunft sind, während viele Alternativen wie neue Schulden oder Kürzungen bei den Sozialausgaben die Gesellschaft weiter ins Ungleichgewicht bringen.
Diese Überzeugungsarbeit funktioniert aber nur, wenn von vornherein die Prioritäten klar sind. Die Bürger werden höhere Steuern nur dann akzeptieren, wenn die Erträge nicht versickern, sondern einem ganz bestimmten Zweck zugutekommen. Um welchen Zweck es sich handelt, sollte der wichtigste Gegenstand der politischen Debatte sein. Ich würde den Akzent darauf legen, dass die heutige Politik vor allem zukünftigen Generationen verpflichtet ist. Eine gerechte Zukunftspolitik ergibt sich vor allem aus einer besseren Bildungspolitik und soliden Staatsfinanzen. Deshalb plädiere ich für die Faustformel: zukünftige soziale Gerechtigkeit = Bildungsinvestitionen erhöhen + Staatsschulden senken. Viele andere Ziele sind ebenfalls wichtig, sollten diese Prioritäten aber nie gefährden.