Überwachung bedroht die Demokratie
Immer wieder gibt es wichtige politische Repräsentanten, die grundlegende Strukturen eines Rechtsstaats absichtlich oder unabsichtlich ignorieren. In dieser Tradition steht der bisherige deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich. Er meint tatsächlich, dass Sicherheit vor Kriminalität und Terrorismus das wertvollste Bürgerrecht sei, ein so genanntes „Supergrundrecht“. Ein Blick in den Gesetzestext verschafft Klarheit über die Rechtslage: Weder im Grundgesetz, noch in der Grundrechtecharta der Europäischen Union ist ein solches Bürgerrecht festgeschrieben. Aufgabe des Staates ist es, die Sicherheit und eine effektive Kriminalitätsbekämpfung zu garantieren, aber es ist kein eigenständiges Bürgerrecht, das etwa in der Abwägung mit anderen oder gar – wie Friedrich offenbar meint – über den anderen Grundrechten stünde. Was in Deutschland und der Europäischen Union normiert ist, ist das Grundrecht auf Datenschutz und Privatsphäre. Jeder Eingriff in dieses Grundrecht muss im konkreten Fall gerechtfertigt und verhältnismäßig sein. Das ist häufig so, schon heute. Besonders, wenn die Grundrechte anderer betroffen oder bedroht sind. Über viele Jahre haben wir Gesetze und Rechtsprechungen entwickelt, die diesem notwendigen Ausgleich nachkommen.
Mit der zunehmenden Globalisierung und Digitalisierung werden die Herausforderungen für Sicherheit und Strafverfolgung auf der einen Seite und für die Durchsetzung von Grundrechten und rechtsstaatlichen Prinzipien auf der anderen Seite nicht kleiner. Wir brauchen eine bessere grenzübergreifende Zusammenarbeit ebenso wie einheitliche gemeinsame Regeln. Doch wer glaubt, er könne sich in dieser Situation von wichtigen Grundregeln und Grenzen verabschieden, leistet den Gegnern von Demokratie und Rechtsstaat Vorschub. Die massenhafte Überwachung durch den amerikanischen Geheimdienst NSA, den britischen Geheimdienst GCHQ und offenbar auch weitere Geheimdienste von EU-Mitgliedsstaaten ist ein beispielloser Fall von Missachtung solcher grundlegenden Regeln.
Anlasslose Generalüberwachung darf nicht sein
Programme wie PRISM, Tempora, Echelon, Bullrun oder XKeyscore sind unverhältnismäßig, da sie eine große Zahl völlig unverdächtiger Personen einer automatischen Analyse und Rasterung unterwerfen. Doch nicht nur Geheimdienste bedienen sich dieser anlasslosen Generalüberwachung. Auch Polizei- und Strafverfolgungsbehörden habe diese weitgehenden geheimdienstlichen Methoden an die Hand bekommen: So verfügt Großbritannien über ein „Secure Flight Program“, das vor allem auf der Analyse der Fluggastdaten beruht. Oder nehmen wir das „Terrorist Financing Tracking Program“ des amerikanischen Finanzministeriums, das die EU durch das SWIFT-Abkommen „genehmigt“ hat. Seit dem Sündenfall des Überwachungsprogramms Echelon hat die Entwicklung seinen Lauf genommen, weitgehend unbeobachtet und bei einer rasanten Weiterentwicklung der technischen Möglichkeiten.
Dabei gilt zumindest in allen Ländern der EU der Schutz von Daten und Privatsphäre als ein verbindliches Menschenrecht. Die Überwachungsfantasien beziehungsweise -realitäten der Geheimdienstler sind schlicht nicht vereinbar mit dem gewachsenen Verständnis einer freiheitlichen Demokratie. Der gesetzgeberisch normierte Paradigmenwechsel hin zur Generalüberwachung in Europa – die Vorratsdatenspeicherung – wurde von fünf Verfassungsgerichten in der Europäischen Union verworfen. Derzeit liegt die Anfrage zweier weiterer Gerichte zur Entscheidung beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg vor. Es ist nur zu hoffen, dass auch der Europäische Gerichtshof den Richtersprüchen der Verfassungsgerichte und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg folgt und klarstellt, dass die Überwachungsmaßnahmen von NSA, GCHQ und Co mit den Grundsätzen europäischer Rechtsstaatlichkeit nicht zu vereinbaren sind. Die anlasslose Speicherung und automatische Rasterung ist unerträglich und eines Rechtsstaats unwürdig. Und sie beschädigt die Demokratie: Wer ständig Angst hat, von mächtigen Behörden oder Unternehmen beobachtet zu werden, wird das eigene Verhalten schnell anpassen. Vermeintlich merkwürdiges Verhalten außerhalb der Norm kann dann schwere Konsequenzen haben, wenn aus dem Staub unseres Alltagshandelns Indizien oder gar Beweise konstruiert werden.
Während sich vermeintliche Sicherheitspolitiker verbissen dafür einsetzen, die flächendeckende Überwachung unseres Lebens zum Normalfall zu machen, fühlen sich viele Ermittler mit ihren Problemen alleingelassen. Selbst das Bundeskriminalamt musste eingestehen, dass in den Jahren der Vorratsdatenspeicherung die Aufklärungsraten bei Kriminalfällen nicht merklich angestiegen waren, von der Verhinderung von Straftaten ganz zu schweigen. Doch die grundlegenden Probleme der Sicherheitspolitik geraten immer wieder in Vergessenheit: die Ausdünnung von Polizei und Justiz in der Fläche, eine mangelhafte Ausbildung und Ausstattung sowie die fehlende Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg. Stattdessen werden Milliarden in die massenweise Analyse der Daten über unser Kommunikations-, Bewegungs- und Konsumverhalten gesteckt, um vielleicht irgendwann die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen zu finden. In den meisten Fällen verläuft diese Art der Suche noch immer erfolglos und produziert etliche Fehlergebnisse, die sich in herber Willkür gegenüber den Betroffenen niederschlagen.
Informationelle Selbstbestimmung als Grundpfeiler
Selbst wenn sich am Ende aus Sicht der Ermittler ein Vorteil in der massenhaften Überwachung aller Lebensbereiche finden ließe: Wollen wir tatsächlich, dass der gläserne Mensch Realität wird? Ist es wünschenswert, dass jede Ecke unseres Lebens ausgeleuchtet werden kann? Diese Frage wirft die aktuelle Debatte mit immer größerer Wucht auf. Sie führt uns stets erneut zu dem Grundsatz zurück, den die Richter des Bundesverfassungsgerichts in ihrem Urteil zur Volkszählung 1983 formuliert hatten: Die informationelle Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger ist ein zentraler Grundpfeiler einer demokratischen Gesellschaft. Schon damals stellte das Gericht in weiser Voraussicht klar, dass die Gefährdung dieser Selbstbestimmung nicht allein von staatlichen Behörden ausgeht, sondern in jeder einzelnen Datenverarbeitung enthalten ist. Deshalb ist es richtig, wenn angesichts der Auseinandersetzungen über Prism, Tempora und Co dazu aufgerufen wird, die Datenschutzregeln vor allem gegenüber Unternehmen wie Google, Facebook, Yahoo und Skype durchzusetzen. Es muss in der Hand der Betroffenen liegen, welche Informationen sie über sich preisgeben wollen. Es darf nicht sein, dass die Unternehmen und am Ende wir alle selbst zu privaten Bediensteten der staatlichen Behörden werden. Das wäre eine Überwachungsgesellschaft, in der Misstrauen und Willkür herrscht.
Statt sich darum zu bemühen, sinnfreie Aufforderungen zur Totalüberwachung in den Raum zu blasen, wäre es richtig, die Standards für Rechtsstaat und Grundrechte auf europäischer Ebene so weit zu vereinheitlichen, dass Polizei- und Justizbehörden den globalen Herausforderungen tatsächlich gerecht werden können, ohne dass es dabei ein Minus beim Datenschutz gibt. Zudem wäre es richtig, den europäischen Datenschutz zum Markenkern eines vertrauenswürdigen Marktes zu machen, bei dem klar ist, dass auf die zahlreichen Informationen nur dann zugegriffen wird, wenn es tatsächlich einen begründeten Verdacht oder eine konkret drohende Gefahr gibt. Es wäre richtig, die Weitergabe von Daten an Drittstaaten zu unterbinden, solange es keine gesetzlich normierten Schutzbestimmungen auf dem Niveau des europäischen Rechts gibt, um die Bürgerinnen und Bürger der EU nicht überzogenen und unverhältnismäßigen Maßnahmen zu unterwerfen. Es wäre richtig, in einer europäischen Demokratie unmissverständlich sicherzustellen, dass das gemeinsam vereinbarte Recht und die eingegangenen Verpflichtungen auf Grundwerte und Grundrechte in allen EU-Staaten gleichermaßen durchgesetzt und geschützt werden. Und es wäre richtig, endlich einzusehen, dass eine freiheitliche Demokratie Grenzen setzt: Nicht alles, was technisch möglich ist und auch nicht alles, was theoretisch machbar wäre, ist auch gesellschaftlich wünschenswert.