Und Bonn?
Das große Möbelrücken hat längst begonnen. Der Anfang einer neuen Ära. So einschneidend für viele der schätzungsweise 35 000 Menschen, die Bonn verlassen haben oder demnächst umziehen, das Abschiednehmen ist, so neugierig dürfen diejenigen, die ankommen, auf das neue Gesicht der Stadt sein.
Am 1. September 1948 trat der Parlamentarische Rat in Bonn zusammen. Am 23. Mai 1949 verkündete er das Grundgesetz mit Bonn als Hauptstadt und Sitz von Parlament und Regierung. Bonn ist die Geburtsstadt einer gelungenen deutschen Demokratie. Die hier entwickelten republikanischen und föderalistischen Traditionen sollen in Berlin fortleben.
Als am 20. Juni 1991 der Bundestag mit 338:320 Stimmen beschloss, den Sitz des Parlaments und der Regierung vom Rhein an die Spree zu verlagern, wirkte das in Bonn schockartig. Viele hier lebende Menschen waren besorgt um den Charakter und den Wert ihrer Stadt, die zu Unrecht als "Bundesdorf" verspottet wurde. Nun ja, sie ist wahrlich keine "Weltstadt", aber doch eine "Stadt von Welt"!
Inzwischen ist diese vielfach von persönlichen Ängsten geprägte Bedrückung einer optimistischeren Grundstimmung gewichen. Bonn baut. Bonn bewegt sich. Bonn boomt. Dass die Stadt mit ihren rund 310 000 Einwohnern frische Attraktivität gewann, ist nicht allein den finanziellen Starthilfen aus Bundesmitteln - 2,8 Milliarden Mark sind für die Bonner Region als Ausgleich eingeplant - und den Vorteilen eines technisch bestens ausgestatteten Regierungssitzes zu verdanken. Vor allem private Unternehmen haben den Standort Bonn gewählt und sich entschieden, in dieser Stadt zu investieren. Sicher ist auch die rheinische Mentalität ausschlaggebend, die nicht zu trübsinniger Rückschau neigt, sondern sich lieber heiter der Zukunft zuwendet.
Häufig wurde in der Vergangenheit der politische Betrieb in Bonn als "Raumschiff" oder als "Käseglocke" karikiert. Diese kaum ausrottbaren Urteile sind ebenso unzutreffend wie etwa die Behauptung, Berlin sei eine Metropole des Protzes und der Angeber oder wäre anfällig für Diktaturen. Bonn ist keine Industrie-, sondern eine Universitäts- und Verwaltungsstadt. Die Stadt spiegelt daher soziale Gegensätze nicht so krass wider wie manche Großstädte. Aber Bonn hat nie den Bezug zum Realen und nie den Kontakt zur Umwelt verloren.
Fast 50 Jahre lang lag hier der Schauplatz konkreter politischer Ereignisse, die sichtbar und erlebbar waren. An diesem Ort des Dialogs und des liberalen Geistes fanden staatliche Ereignisse von hohem Rang und globaler Bedeutung statt. In diesem Klima konnten große Demonstrationen friedlich ablaufen. Und hier wurde der Raum geboten für glanzvolle Ereignisse wie den jährlichen Bundespresseball, aber auch für aufwühlende Veranstaltungen wie etwa die Ausstellung über Verbrechen der Wehrmacht. Nicht, dass Bonn eine konfliktfreie Zone wäre - aber die Stadt bietet den Rahmen, um Konflikte zu bewältigen.
Die Bonnerinnen und Bonner brauchen nicht abrupt von vertrauten Bildern und gewohnten Abläufen Abschied zu nehmen. Denn nach wie vor wird das Politische, neben dem Wissenschaftlichen, dem Kommunikativen und dem Kulturellen, eine prägende Rolle spielen. Sechs Bundesministerien behalten aufgrund der verlässlichen Abmachung des Bonn/Berlin-Gesetzes ihre Standorte am Rhein. Sie sind keine Trostpflaster für den Abzug des Bundestags, des Bundesrats, des Kanzleramts, des Auswärtigen Amts und anderer staatlicher Spitzenbehörden. Sie sind Bausteine eines funktionsfähigen Regierungsapparats, der mit neuen Methoden der Organisation und der Kommunikation in zwei Städten zusammenfinden muss. Alle Ministerien in Berlin und Bonn sind miteinander verkabelt. Die Beamten werden über Computer kommunizieren.
Die Arbeitsteilung zwischen Berlin und Bonn kann sich über diesen Kommunikationsverbund zu einem vernünftigen Zusammenspiel, vielleicht zu einem beispielhaften Modell entwickeln.
Allen fortgezogenen Ministerien sind Behörden und Institutionen zugeordnet, die teils schon präsent sind und teils von anderswo, hauptsächlich aus Berlin und Frankfurt am Main, nach Bonn ziehen. Der Funktionswandel bringt Verluste mit sich, aber auch Zugewinn und neue Impulse.
Das Renommee, das Bonn sich als politisches Zentrum der Bundesrepublik Deutschland weltweit erworben hat, wird nicht verschwinden. Die Stadt beherbergt weitere namhafte Einrichtungen vom Sekretariat der Klimarahmenkonvention - das im Oktober/November den Welt-Klima-Gipfel in Bonn veranstaltet - bis zum Paralympischen Komitee.
1998 hatte jeder siebte Bewohner der Stadt einen ausländischen Pass, so dass die Beschäftigten der UN-Organisationen eine Bevölkerung vorfinden, für die internationaler Umgang Alltag ist. Die reduzierte, aber weiter sichtbare Bedeutung dieser Stadt für Europa und den Globus knüpft an Traditionen an - und bekommt ein verändertes Gesicht: Es ist eine erfreuliche Aussicht, wenn im Gebäude der heutigen Chinesischen Botschaft im Diplomaten-Stadtteil Bad Godesberg ein Zentrum für Traditionelle Chinesische Medizin entsteht.
Als aufstrebender Wirtschaftsstandort wird Bonn auch künftig von Verwaltung und Dienstleistung, Forschung und Lehre gekennzeichnet sein. Die ganze "Post-Familie" hat sich mittlerweile hier versammelt. Um sie herum gruppieren sich zahlreiche verwandte und ergänzende Betriebe der Informations- und Kommunikationsbranche. Markantes Zeichen des Strukturwandels ist der Kauf des Gebäudes der CDU-Parteizentrale und der Britischen Botschaft durch die Telekom. Die Post baut ihre neue Unternehmenszentrale, und die Deutsche Welle ihr neues Funkhaus. Schließlich wird Bonn seinen Platz in der Forschungs- und Wissenschaftslandschaft festigen. Als neues Element kommt das Center for Advanced European Studies and Research (CAESAR) hinzu.
Nach wie vor wird die Bundesstadt Bonn in den Nachrichten eine Rolle spielen. Aber sie wird nicht als Rivalin der Bundeshauptstadt Berlin auftreten. Und sie will sich auch nicht darauf einlassen, dass manche Politiker und Publizisten die Vorzüge einer künftigen "Berliner Republik" preisen und andere sich nach der alten "Bonner Republik" sehnen. Die vereinigte Bundesrepublik soll die Vorzüge der ehemaligen und der jetzigen Hauptstadt vereinen, die Besonderheiten beider Städte zugunsten des ganzen Staates nutzen und die Fähigkeiten der Menschen Berlins und Bonns zum Besten einsetzen.
Zu wünschen ist, dass der Umzugsbeschluss beiden Städten Vorteile bringt. Und zu hoffen ist, dass die in den beiden Städten lebenden Menschen nicht aufeinander neidisch sind, sondern sich gegenseitig schätzen lernen. Sie sollen kooperieren, nicht konkurrieren.
Die Berliner müssen fair ertragen, wenn die Bonner Telekom Baskets gegen Alba Berlin gewinnen; und die Berliner sollten ihren weltbekannten Humor spielen lassen, wenn die zugezogenen Bonner einen ihrer heimatlichen Bräuche fortleben lassen und an der Spree den dort fremden Karneval feiern - Arm in Arm mit ihren Mitbewohnern. Der aus Berlin kommende Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat im Interview mit der Frankfurter Rundschau treffend formuliert, er fände es gut, wenn "ein mir liebenswürdiges Maß des Unpathetischen, des Gelassenen, des Entspannten mitgenommen" würde.
Willkommen sind in Bonn einige tausend Familien aus Berlin. Sie werden ihre Lebensweisen mitbringen und sich in einer - aus ihrer Sicht - weniger aufregenden Provinzstadt zurechtfinden müssen. Auch wenn ihnen das prickelnde Großstadt-Flair fehlt, sie finden nicht nur eine aufnahmebereite Bevölkerung vor, sondern auch ein reichhaltiges Kulturleben, das aufgrund der jahrzehntelangen Hauptstadtfunktion außerordentlich entwickelt ist. Um dies aufrechtzuerhalten, hat der Bund versprochen, sich langfristig zu engagieren.
Wie unbefangen Bonn mit seiner Zukunft umgeht, belegt die Leuchtschrift "ZEITWENDE" - der Titel einer Ausstellung - auf dem Dach des Kunstmuseums am Rande des Regierungsviertels. Das Kulturzentrum "Brotfabrik" steuert ein Projekt bei, das 50 Jahre "und das nahende Ende" satirisch reflektiert: "Die Regierung geht, Bonn bleibt."