Unser unlesbares Zeitalter
Ein Vierteljahrhundert nach seinem Ende ist es an der Zeit, dass wir wieder über den Kalten Krieg diskutieren. Im Jahrzehnt nach den Ereignissen von 1989 sprachen wir über kaum etwas anderes. Niemand von uns hatte damit gerechnet, dass die Sowjetunion so rasch zerfallen würde. Niemand hatte geahnt, dass Osteuropa so schnell zu rechtsstaatlicher Demokratie zurückkehren würde. Niemand hatte vorausgesehen, dass die revolutionären Bewegungen, die Moskau so lange unterstützt hatte, in sich zusammenfallen würden. Konfrontiert mit dem Unerwarteten, trauten wir uns untypisch großes Denken zu. Erleben wir gerade das „Ende der Geschichte“? Und: „What’s left of the left – was bleibt von der Linken übrig?“ Doch dann ging das Leben weiter, und unser Denken wurde wieder klein. Europa widmete sich der Errichtung seiner gestaltlosen Europäischen Union. Amerika beschäftigte sich mit dem politischen Islamismus und hing dem Wunschtraum an, in der arabischen Welt Demokratien zu etablieren. Und die Aufmerksamkeit der Welt insgesamt richtete sich auf unser globales Kerncurriculum, nämlich Wirtschaftsfragen. Aus diesen und anderen Gründen vergaßen wir den Kalten Krieg – was eine sehr gute Sache zu sein schien.
Der dichte Nebel vor unseren Augen
Aber das war es nicht. Tatsächlich haben wir nicht annähernd genug über das Ende des Kalten Krieges nachgedacht, erst recht nicht über das geistige Vakuum, das er hinterlassen hat. Ganz gleich, was man sonst noch über den Kalten Krieg sagen kann – er schärfte auf jeden Fall die Gedanken. Die widerstreitenden Ideologien, deren Linien sich zwei Jahrhunderte zurückverfolgen ließen, boten ebenso klare wie gegensätzliche Deutungen der politischen Wirklichkeit. Jetzt gibt es diese Ideologien nicht mehr. Man könnte meinen, ihr Verschwinden hätte uns zu viel größerer Klarheit über die Dinge verhelfen müssen. Aber genau das Gegenteil scheint zuzutreffen.
Niemals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, vielleicht nicht einmal seit der russischen Revolution, war das politische Denken im Westen so oberflächlich und ahnungslos wie heute. Wir alle spüren, dass sich in unseren Gesellschaften unheilvolle Veränderungen vollziehen. Dasselbe gilt für andere Gesellschaften, deren Schicksal großen Einfluss auf unseren eigenen weiteren Weg nehmen wird. Aber wir besitzen keine tauglichen Konzepte, ja nicht einmal einen geeigneten Wortschatz zur Beschreibung der Welt, in der wir uns befinden. Die Verbindung zwischen Worten und Dingen ist gekappt. Das Ende der Ideologie hat nicht dazu geführt, dass sich die Wolken gelichtet haben. Vielmehr hat es einen Nebel verursacht, der so dicht ist, dass wir nicht einmal mehr lesen können, was direkt vor unseren Augen steht. Wir befinden uns in einem unlesbaren Zeitalter.
Was ist – oder war – Ideologie? Nachschlagewerke definieren Ideologie als „System“ von Ideen und Überzeugungen, die das politische Handeln von Menschen anleiten. Aber die Metapher ist ungeeignet. Jede praktische Tätigkeit, nicht nur politisches Handeln, hat mit Ideen und Überzeugungen zu tun. Eine Ideologie tut etwas anderes: Sie hält uns im Griff, indem sie uns mit einem zauberhaften Abbild der Wirklichkeit ausstattet. Um bei der optischen Metapher zu bleiben: Ideologie richtet sich auf ein undifferenziertes Sichtfeld und stellt dabei den Fokus so ein, dass Objekte in einem vorbestimmten Verhältnis zueinander erscheinen. Die aus der Französischen Revolution geborenen politischen Ideologien besaßen deshalb so große Wirkungsmacht, weil sie mit bewegenden Bildern einhergingen, die offenbarten, wie die Gegenwart aus einer nachvollziehbaren Vergangenheit entstand und sich nun in Richtung einer verstehbaren Zukunft bewegte. Zwei große Erzählungen konkurrierten dabei in Europa und dann weltweit um Aufmerksamkeit: einerseits eine progressive Erzählung, die in einer befreienden Revolution gipfelte; andererseits eine apokalyptische Erzählung, die mit der Wiederherstellung der natürlichen Ordnung der Dinge endete.
Die ideologische Erzählung der europäischen Linken war eine Art Mischung aus gefesseltem Prometheus und Leben Jesu. Sie unterstellte, die Menschheit sei den Göttern gleichrangig, aber Religion und Hierarchie, Eigentum und falsches Bewusstsein hätten sie über Jahrtausende an den Felsen der Geschichte gekettet – bis schließlich im Jahr 1789 ein Wunder der Inkarnation geschehen sei, das die Geister der Freiheit und der Gleichheit Fleisch werden ließ. Das Problem war nur, dass hierauf keine Erlösung folgte. Schon die Jünger Jesu waren zu schwierigen theologischen Hausaufgaben gezwungen gewesen, als sich die Wiederkehr ihres Heilands immer weiter verschob. In ähnlicher Weise entwickelte auch die politische Linke des 19. und 20. Jahrhunderts eine revolutionäre Apologetik, um ihre historische Enttäuschung besser bewältigen zu können. Dieser Verteidigungslehre zufolge war die Französische Revolution zwar in Terror und napoleonischem Despotismus versunken, andererseits aber habe sie den paneuropäischen Revolutionen von 1848 den Weg geebnet. Diese wiederum seien zwar nur von kurzer Dauer gewesen, hätten aber der Pariser Kommune den Boden bereitet. Diese existierte zwar nur ein paar Monate, habe aber als Vorbild für die Februar-Revolution von 1917 gedient. Gewiss, auf diese seien dann die Oktoberrevolution und Stalin mit seinem Terror gefolgt, andererseits aber habe die Pilgerreise der Revolution nach dem Zweiten Weltkrieg auch China und die Dritte Welt erreicht und damit den Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus globalisiert. Schließlich kam Kambodscha – und die Musik verstummte.
Faschismus und Kommunismus sind den Studierenden von heute unverständlich
Die konterrevolutionäre Rechte im Europa des 19. Jahrhunderts war politisch gesehen viel stärker als die Linke. Eine ähnlich herrliche Erzählung wie diese hatte sie jedoch nicht zu bieten. Erzwungenermaßen entstanden in Reaktion auf die Linke, wirkte die Rechte düster und weniger inspirierend. Aber in Zeiten der Krise konnte sie sehr überzeugend auftreten. Die Geschichte, die die Rechte erzählte, war eine Mischung aus der Legende vom Golem und der Offenbarung des Johannes. In der bekanntesten Version der Golem-Geschichte steckt ein Rabbiner einer Lehmfigur einen Zettel in den Mund, auf dem der Name Gottes steht. Das erweckt die Figur zum Leben. Sie rast durch ein jüdisches Ghetto und terrorisiert so lange dessen Bewohner, bis der Rabbi das Papier schließlich wieder an sich reißt. Wenn wir uns den Golem als le peuple vorstellen, das Stück Papier als die Schriften von Voltaire und Rousseau und die Zerstörung des Ghettos als revolutionären Terror, dann haben wir uns in den Geist der reaktionären Rechten hineinversetzt.
In der Legende zähmt der Rabbi den Golem. Den Kräften der Reaktion hingegen gelang es im Laufe des 19. Jahrhunderts nie mehr, die Kräfte der Revolution wieder unter Kontrolle zu bringen. Diese betrafen ja auch Wissenschaft, Wirtschaft und Technologie. Eisenbahnlinien durchkreuzten eben noch unberührte Landschaften. Städte ersetzten Dörfer und Landgüter. Fabriken verdrängten Bauernhöfe. Weltliche Schulen traten an die Stelle religiöser Lehranstalten. Herzöge und Grafen mussten unrasierten Politikern weichen, und Landleute verwandelten sich in eine unterschiedslose Masse verrohter Arbeiter. Mit dem Voranschreiten des Jahrhunderts wandelte sich eine romantische Rechte, die von der Wiederkehr eines Zeitalters der Süße und des Lichts träumte, in eine apokalyptische Rechte, die überzeugt war, das Große Leiden zu erleben. Als sich entgegen aller Wahrscheinlichkeit die russische Revolution ereignete und der Marxismus von einer kleinen Sekte zu einer mächtigen globalen Kraft aufstieg, war das Antlitz des Antichristen für alle Welt sichtbar geworden. Die letzte Schlacht hatte begonnen. Sie zu führen, eilten nationalistische Erlöser herbei, die ihre Völker mit eisernem Stabe regierten: „Und er tritt die Kelter des Weins des grimmigen Zorns Gottes, des Allmächtigen“ (Offenbarung 19:15). Damit haben wir uns in den Geist des Faschismus hineinversetzt.
Wer heute, nur zwei Jahrzehnte später, über solche Dinge spricht, der beschwört eine verlorene Welt herauf. Man versuche nur einmal, jungen Studenten der Gegenwart – amerikanischen, europäischen, sogar chinesischen – das große Drama des politischen und geistigen Lebens zwischen 1789 und 1989 zu vermitteln. Danach fühlt man sich wie ein blinder Dichter, der das verlorene Atlantis besingt. Faschismus, das ist für die Studierenden von heute das „radikal Böse“ – also unverständlich. Wie er sich entwickeln konnte, warum er Millionen von Menschen begeisterte – das bleibt rätselhaft. Der Kommunismus wiederum (von dem die heute Jungen allenfalls zu wissen meinen, er habe „viele gute Dinge“ vollbracht), ergibt ebenfalls keinen Sinn mehr, erst recht nicht die schiere Gläubigkeit, mit der Menschen einst an der Sowjetunion hingen. Die Studierenden von heute empfinden heute einfach nicht mehr die psychologische Sogwirkung von Ideologie, und es fällt ihnen schwer, sich „Verführtes Denken“ (Czesław Milosz) vorzustellen. Es ist für sie einfacher, sich in das geistige Universum der „Bekenntnisse“ des Augustinus hineinzudenken als in die Welt der politischen Romane von Dostojewski oder Conrad.
Das ist ein zweifelhafter Segen. Viele von uns über 50-Jährigen erinnern sich noch daran, wie es war, mit Kommunisten und ihren marxistischen Mitläufern zu diskutieren. Man staunte über ihre beeindruckende – und letztlich abstoßende – Beschlagenheit. Mit einem Hauch von Nachsicht erklärten sie einem, dass Dinge, die man selbst für bedeutsame Tatsachen hielt, in Wirklichkeit völlig unwichtig seien, dass andererseits aber das, was uns selbst ganz trivial vorkam, in Wirklichkeit den Kern der Sache ausmache. Sie schienen dabei nicht einmal realitätsblind machende Scheuklappen zu tragen. Im Gegenteil – und darin bestand das Problem – sahen sie absolut alles. Und ebenso erkannten sie, wie aufgrund okkulter Kräfte über enorme Entfernungen hinweg alles mit allem zusammenhing. Traten peinliche Ereignisse ein, verfielen sie zunächst instinktiv in den Modus des Leugnens. Aber sehr bald schon hatten sie neue kasuistische Erklärungen parat und verteidigten mit dem Selbstbewusstsein von Jesuiten jedes beliebige Übel der Welt, von der Berliner Mauer bis zu den Roten Brigaden.
Neugierde und Ehrgeiz sind verschwunden
Solche Menschen sind heute selten, und das ist auch gut so. Aber zugeben muss man zugleich, dass einige wertvolle geistige Qualitäten, die wir entwickelt hatten, um diesen Leuten Paroli zu bieten, inzwischen ebenfalls verschwunden sind. Neugierde, zum Beispiel, und Ehrgeiz. Der antikommunistische Intellektuelle Daniel Bell sagte voraus, das Ende der Ideologie werde die Köpfe dafür frei machen, den feinen und unerwarteten Wechselwirkungsverhältnissen des modernen gesellschaftlichen Lebens auf den Grund zu gehen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Drang, Dingen auf den Grund zu gehen, selbst verkümmern würde. Aber genau das ist geschehen.
So sehen es die übriggebliebenen Linken nicht. Sie denken, das Zeitalter der Ideologie sei niemals zu Ende gegangen. Faschismus und Kommunismus seien einfach gegen eine neue „hegemoniale Weltsicht“ ausgetauscht worden. Amerikaner nennen diese Weltsicht demokratischer Kapitalismus – und sind unzufrieden mit ihm; Europäer sprechen von Neoliberalismus – und sind ebenfalls unzufrieden mit ihm. An dieser Wahrnehmung ist eine ganze Menge dran. Es ist schwer bestreitbar, dass das Konzept der Demokratie, wie missverstanden und verleumdet auch immer, die einzige Form der Politik ist, die heute weltweite, wenn nicht sogar universelle Anerkennung genießt. Und es stimmt, dass Wirtschaftswachstum das eine gemeinsame Ziel ist, das Regierungen in aller Welt verfolgen – oftmals im unreflektierten Glauben an die vermeintlich kostenlosen Vorteile von Freihandel, Deregulierung und ausländischen Direktinvestitionen.
Wir leben in einem libertären Zeitalter – aus Mangel an Alternativen
Ich gehe sogar noch weiter. Die gesellschaftliche Liberalisierung, die in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zunächst in wenigen westlichen Ländern begann, trifft heute fast überall auf der Welt unter den gebildeten städtischen Eliten nur noch auf wenig Widerstand. Eine neue kulturelle Grundhaltung ist entstanden. Menschen mit dieser Einstellung halten es für selbstverständlich, dass individuelle Selbstbestimmung Vorrang hat vor traditionellen sozialen Bindungen; dass in Fragen von Religion und der Sexualität Indifferenz zu herrschen hat; und dass Menschen a priori verpflichtet sind, andere Menschen zu tolerieren. Man denke nur daran, wie erstaunlich rasch in den vergangenen Jahren die Akzeptanz von Homosexualität und sogar von homosexuellen Ehen in vielen westlichen Ländern gewachsen ist – eine historisch beispiellose Transformation traditioneller Moral und Sitten, die mehr über unsere Zeit aussagt als alles andere.
Sie sagt uns nämlich, dass wir in einem libertären Zeitalter leben. Das liegt nicht etwa daran, dass die Demokratie auf dem Vormarsch wäre (tatsächlich ist sie vielerorts in der Defensive). Es liegt auch nicht daran, dass die Erträge des freien Marktes allen Menschen zugute kommen würden (tatsächlich existiert längst eine neue Klasse von Armen). Und es ist auch nicht so, dass wir jetzt alle tun und lassen könnten, was wir wollen (denn zwangsläufig stehen Wünsche im Widerspruch zueinander). Nein, heraufgezogen ist unser libertäres Zeitalter schlicht aus Mangel an Alternativen: Alle Ideen, Überzeugungen oder Gefühle, die in der Vergangenheit die Nachfrage nach individueller Autonomie dämpften, sind verkümmert. Es gab hierüber weder öffentliche Debatten noch Abstimmungen. Nach dem Ende des Kalten Krieges haben wir uns einfach in einer Welt wiedergefunden, in der, ob wir es nun wollen oder nicht, jede Ausbreitung des Prinzips Freiheit auf einem Gebiet zu seiner weiteren Ausbreitung auch auf anderen Gebieten führt. Die einzige Freiheit, die wir dabei verlieren, ist die Freiheit, unsere Freiheiten selbst zu wählen.
Über diese Entwicklung sind nicht alle erfreut. Die Linke, vor allem in Europa und in Lateinamerika, will die wirtschaftliche Freiheit zugunsten des Gemeinwohls begrenzen. Zugleich jedoch lehnt sie auf anderen Gebieten rechtliche Beschränkungen individueller Autonomie kategorisch ab. Das betrifft etwa Vorschläge zur Überwachung und Zensur des Internets, die immerhin ebenfalls dem Gemeinwohl dienen könnten. Die Linke wünscht sich ein unkontrolliertes Cyberspace in einer kontrollierten Wirtschaft – eine technologische und gesellschaftliche Unmöglichkeit. Auf der Rechten wiederum, ob in China, in den Vereinigten Staaten oder anderswo, hätte man gern das genaue Gegenteil: eine möglichst wenig kontrollierte Wirtschaft innerhalb einer restriktiven Kultur, was auf lange Sicht ebenso unmöglich ist. Uns ergeht es also wie dem Mann, der einen rasenden Zug anzuhalten versucht, indem er mit aller Kraft am Vordersitz zerrt.
Doch unser Libertarismus ist keine Ideologie im alten Sinne. Er ist ein Dogma. Es lohnt sich, den Unterschied zwischen Ideologie und Dogma zu bedenken. Ideologien versuchen zunächst, die gesellschaftsprägenden historischen Kräfte zu verstehen, um diese dann umso besser beherrschen zu können. Die großen Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts taten genau dies – und zwar im Übermaß. Da ihr intellektueller Anspruch „total“ war, hießen sie auch den politischen Totalitarismus gut. Unser Libertarismus funktioniert anders: Er ist in höchstem Maße dogmatisch. Wie jedes Dogma billigt er Unwissenheit über die Welt und macht seine Anhänger auf diese Weise blind dafür, welche Auswirkungen ihr Dogma auf eben diese Welt hat. Das libertäre Dogma unserer Zeit verkündet grundlegende liberale Prinzipien: die Unverletzlichkeit des Einzelnen, den Vorrang der Freiheit, das Misstrauen gegenüber der öffentlichen Gewalt, das Gebot der Toleranz – und tut darüber hinaus keinen einzigen weiteren Schritt. Das libertäre Dogma hat keinen Wirklichkeitssinn, es ist weder neugierig darauf, wie wir bis hierhergekommen sind, noch will es wissen, wohin wir gehen. Es ist nicht liberal in einem Sinne, den Montesquieu, die amerikanischen Verfassungsväter, Tocqueville oder Mill wiedererkennen würden. Ihnen käme dieses Dogma als Glaubensbekenntnis nach dem Muster des lutherischen sola fide („allein durch Glauben“) vor: Gebt den Einzelnen größtmögliche Freiheit über sämtliche Aspekte ihres Lebens – und alles wird gut. Und wenn doch nicht alles gut wird, dann pereat mundus: Möge die Welt zugrunde gehen.
Das Dogma unserer Zeit ist eine Mentalität, eine Stimmung, ein Vorurteil
Die dogmatische Einfachheit des Libertarismus erklärt, warum dieser weltweit für Menschen attraktiv ist, die im Übrigen sehr wenig gemeinsam haben: antistaatliche Fundamentalisten der amerikanischen Rechten, Anarchisten der europäischen und lateinamerikanischen Linken, Demokratisierungspropheten, Absolutisten der bürgerlichen Freiheiten, Menschenrechtsaktivisten, neoliberale Wachstumspropagandisten, Internethacker und Waffenfanatiker, Pornoproduzenten und Ökonomen in der Tradition der Chicagoer Schule. Das Dogma, das sie alle verbindet, ist implizit und bedarf keiner Erklärung; es ist eine Mentalität, eine Stimmung, eine Vermutung. Es ist das, was früher – nicht abwertend – als Vorurteil bezeichnet wurde. Eine Ideologie aufrechtzuerhalten bedeutet viel Arbeit, weil ihre Plausibilität immer wieder aufs Neue durch politische Entwicklungen in Frage gestellt wird. Theorien müssen neu justiert, Revisionen ein weiteres Mal revidiert werden. Ideologien erheben den Anspruch, das tatsächliche Funktionieren der Welt zu erklären. Damit laden sie zu Versuchen ihrer Widerlegung ein – und widersetzen sich umgekehrt solchen Versuchen. Ein Dogma tut dies nicht. Deshalb ist unser libertäres Zeitalter ein unlesbares Zeitalter.
Betrachten wir zwei Beispiele. Seit den achtziger Jahren betreibt die Europäische Union das Projekt ihrer wirtschaftlichen Integration im Zeichen des Neoliberalismus, einer kraftvollen Spielart des zeitgenössischen Libertarismus. Für dieses Vorgehen gab es handfeste Gründe. Diese hatten mit bestimmten Fehlern des traditionellen Wohlfahrtsstaates zu tun, ebenso mit der Trägheit von Volkswirtschaften, die sich unter der Last von staatlichen Eingriffen, Überregulierung und mächtigen Gewerkschaften nicht entfalten konnten. Doch mit der Zeit sind diese Gründe in Vergessenheit geraten, und der Neoliberalismus gerann zu dem, was er heute ist: ein Dogma, das seine realen, nicht ausschließlich wirtschaftlichen Auswirkungen auf die Welt verschleiert.
Schockierend ist beispielsweise, mit welcher Langsamkeit die Europäer begreifen, wie ernsthaft der neoliberale Ansatz wirtschaftlicher Integration die Prinzipien demokratischer Selbstregierung untergräbt, die nach dem Zweiten Weltkrieg wieder durchgesetzt worden waren. Demokratie handelt zuallererst von Selbstbestimmung, in kollektiver und in individueller Hinsicht. Bis heute haben sich moderne Verfassungsdemokratien immer nur auf dem Boden von souveränen Nationalstaaten entwickelt. Und das aus gutem Grund.
Der Nationalstaat kommt einer Art Kompromiss zwischen Reichspolitik und Dorfpolitik gleich: Er ist groß genug, um Menschen über ihre lokalen Interessen hinausdenken zu lassen, aber er ist nicht so groß, dass sie das Gefühl bekommen, keine Kontrolle mehr über ihr Leben zu haben. Er bietet eine klar abgegrenzte Arena der politischen Auseinandersetzung und des kollektiven Handelns von Bürgern, die sich mit dem Nationalstaat identifizieren und zugleich über die Mittel verfügen, ihre Regierung zur Rechenschaft zu ziehen. In historischer Betrachtung bedeutet dies alles eine wirklich reife Leistung.
Von Beginn an hat es keinerlei Konsens darüber gegeben, worin die besondere Leistung der EU zu bestehen habe – abgesehen davon, dass ihre Maschinerie den Frieden erhalten und Wohlstand generieren sollte. Zwar waren sich alle einig, dass es dazu erforderlich sei, die Souveränität der Nationalstaaten einzuschränken. Aber man machte sich anfangs sehr wenig Gedanken darüber, die Europäische Gemeinschaft auch mit demokratischen Verfahren auszustatten. Zum Teil lag dies daran, dass Europas Gründergeneration nach ihren Erfahrungen mit dem Faschismus kein uneingeschränktes Vertrauen in le peuple hatte. Noch weniger Gedanken machte man sich darüber, wie die Identifikation der Bürger mit dem europäischen Projekt aufgebaut werden könnte – wie also Schotten und Sizilianer zu Landsleuten mit dem Gefühl eines gemeinsamen Schicksals werden könnten, die dieselben Institutionen anerkennen. Das Ergebnis ist, dass die ganz normalen Menschen in Europa heute nicht wissen, was sie vom „europäischen Projekt“ halten sollen.
Amerika versucht, neue Demokratien auf Sand zu bauen
Verteidiger der Europäischen Union erinnern uns daran, dass die EU seit zwei Jahrzehnten erfolgreich den Frieden sichert. Sie sagen, die Nationen müssten sogar auf noch mehr Souveränität verzichten, wenn Europa auf den volatilen globalen Finanzmärkten mithalten und im Wettbewerb mit Wirtschaftsriesen wie China und den Vereinigten Staaten bestehen wolle. Das mag so sein. Ein befriedetes Europa ist kostbar, eine leistungsfähigere EU sehr wohl notwendig. Mit Demokratie aber hat das alles nicht viel zu tun.
Während Europa die Fundamente seiner Nachkriegsdemokratien immer weiter abträgt, versuchen die Vereinigten Staaten, neue Demokratien auf Sand zu bauen. In der Vorstellungswelt der politischen und der journalistischen Klasse Amerikas gibt es heute nur zwei politische Kategorien: Demokratie oder le déluge. Wenn man der Auffassung ist, die Demokratie sei die einzig legitime Regierungsform, ist das eine absolut taugliche Unterscheidung. „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf“, wie der deutsche Dichter Christian Morgenstern schrieb. Da wir nicht in der Lage oder nicht fähig sind, zwischen den heute existierenden Formen von Nicht-Demokratie zu unterscheiden, sprechen wir stattdessen von ihren „Menschenrechtsbilanzen“. Diese „Bilanzen“ sind aber viel weniger aussagekräftig, als wir glauben. Wir orientieren uns an Organisationen wie Freedom House, einer Denkfabrik, die die Demokratie fördert und Menschenrechtsverletzungen auf der ganzen Welt öffentlich macht. Unter dem Titel Freedom in the World produziert Freedom House einen einflussreichen jährlichen Bericht, der den Anspruch erhebt, den Freiheitsgrad jedes Landes der Erde quantifizieren zu können. Der „Freiheitsindex“ liest sich wie ein Geschäftsbericht: „Dies ist das siebte Jahr in Folge, in dem mehr Länder mit Rückschritten als Länder mit Verbesserungen zu verzeichnen waren.“ 2013 wurde den Lesern selbstbewusst mitgeteilt, die „bemerkenswertesten Zugewinne“ an Freiheit seien im Jahr 2012 – ausweislich der vorliegenden Zahlen – in Ägypten, Libyen, Burma und Elfenbeinküste zu verzeichnen gewesen. Man weiß kaum, wo man anfangen soll …
Die einzige sinnvolle Frage lautet: Was ist Plan B?
Keine Frage, die große Überraschung der Weltpolitik seit dem Ende des Kalten Krieges ist, dass nicht die freiheitliche Demokratie Fortschritte erzielt. Stattdessen erleben wir, wie klassische Formen nicht-demokratischer Herrschaft in moderner Verkleidung wiederkehren. Das Aufbrechen des sowjetischen Imperiums und die darauf folgende „Schocktherapie“ haben neue Oligarchien und Kleptokratien geschaffen, denen heute innovative Finanzierungsmöglichkeiten und Kommunikationsmittel zur Verfügung stehen. Mit dem Vormarsch des politischen Islam sind Millionen von Muslimen, welche insgesamt ein Viertel der Weltbevölkerung ausmachen, unter restriktivere theokratische Herrschaft geraten. Stämme, Clans und sektiererische Gruppen sind die wichtigsten Akteure in den postkolonialen Staaten Afrikas und des Nahen Osten geworden. China hat den despotischen Merkantilismus zu neuem Leben erweckt.
Jede dieser politischen Erscheinungen hat ihren unverwechselbaren eigenen Charakter. Jede muss für sich genommen begriffen werden, nicht bloß als potenzielle Demokratie in einmal stärker, einmal schwächer ausgeprägter Form. Aber Demokratieförderung scheint so viel einfacher. Wollen schließlich nicht alle Völker gut regiert und in Fragen, die sie betreffen, beteiligt werden? Wollen sie nicht in Sicherheit leben und gerecht behandelt werden? Wollen sie nicht den Demütigungen der Armut entfliehen? Nun, der beste Weg, alle diese Ziele zu erreichen, heißt freiheitliche Demokratie. Das ist die amerikanische Sicht der Dinge – eine Sicht, kein Zweifel, die viele in nicht-demokratischen Staaten lebende Menschen teilen.
Aber das bedeutet nicht, dass alle diese Menschen die Auswirkungen von Demokratisierung verstehen, oder dass sie den sozialen und kulturellen Individualismus akzeptieren würden, den die Demokratisierung unweigerlich mit sich bringt. Ihnen sind Güter wichtig, die der Individualismus zerstört, etwa Rücksichtnahme auf Traditionen, heimatliche Verwurzelung, Hochachtung vor Älteren, Verpflichtung gegenüber Familie und Clan, Hingabe an Frömmigkeit und Tugend. Wenn sie und wir denken, dass sie alles zugleich haben können, dann liegen sie und wir sehr weit daneben. Dies sind die Felsen, an denen die Hoffnungen auf Demokratie für die arabische Welt immer wieder zerschellen.
Die Wahrheit ist, dass Milliarden von Menschen nicht in freiheitlichen Demokratien leben werden – nicht in unserer Lebenszeit, nicht in der Lebenszeit unserer Kinder und Enkel, ja vielleicht überhaupt niemals. Das liegt nicht nur an Kultur und Sitten. Hinzu kommen ethnische Spaltungen, religiöses Sektierertum, Analphabetismus, wirtschaftliche Ungerechtigkeit, von Kolonialmächten ohne Sinn und Verstand auferlegte nationale Grenzen … die Liste ist lang. Ohne Rechtsstaatlichkeit und eine respektierte Verfassung, ohne professionelle Verwaltungen, die Bürgern unparteiisch begegnen, ohne die Unterordnung des Militärs unter zivile Herrschaft, ohne Wettbewerbsbehörden, die für die Transparenz wirtschaftlicher Transaktionen sorgen, ohne soziale Normen, die bürgerschaftliches Engagement und Gesetzestreue fördern – ohne all dies ist die moderne freiheitliche Demokratie unmöglich. Aus diesem Grund lautet die einzige sinnvolle Frage im Hinblick auf die Nicht-Demokratien der Gegenwart: Was ist Plan B?
Unser gedankenloser Größenwahn
Nichts bringt den Bankrott des heutigen politischen Denkens deutlicher zum Ausdruck als unser Unwillen, diese Frage zu stellen. Für die Linke riecht sie nach Rassismus, für die Rechte nach Defätismus (und für die Freiheitsfalken beider Lager nach beidem zugleich). Aber wenn die einzige Wahl, die wir uns vorstellen können, diejenige zwischen Demokratie und le déluge ist, dann schließen wir von vornherein die Möglichkeit aus, nicht-demokratische Regime zu verbessern, ohne zu versuchen, sie entweder (nach amerikanischem Muster) gewaltsam zu transformieren oder (nach europäischem Muster) vergeblich darauf zu hoffen, dass Menschenrechtsabkommen, humanitäre Interventionen, juristische Sanktionen, NGO-Projekte und Blogger mit iPhones bleibende Unterschiede bewirken könnten. Das sind die charakteristischen Irrtümer unserer beiden Kontinente.
Der nächste Friedensnobelpreis sollte nicht an einen Menschenrechtsaktivisten oder an den Gründer einer Nichtregierungsorganisation vergeben werden. Erhalten sollte ihn derjenige Denker oder politische Anführer, der das Modell einer verfassungsmäßigen Theokratie entwickelt, die es muslimischen Ländern ermöglicht, die Autorität religiösen Rechts in kohärenter, aber zugleich begrenzter Weise anzuerkennen und dies mit guter Regierungsführung zu verbinden. Das wäre eine historische Leistung – wenn auch nicht unbedingt eine demokratische.
Natürlich wird kein solcher Preis vergeben werden, und dies nicht nur deshalb, weil die entsprechenden Denker und politischen Anführer fehlen. Eine solche Leistung überhaupt erkennen zu können, würde erfordern, dass wir das Dogma hinter uns lassen, individuelle Freiheit wäre unter allen historischen Umständen das einzige und höchste politische Gut. Stattdessen müssen wir erkennen, dass Zielkonflikte und Kompromisse unvermeidlich sind. Wir müssen akzeptieren, dass der Weg aus der Knechtschaft in die Demokratie, wenn er denn existiert, über weite Strecken durch nicht-demokratisches Gelände verlaufen wird – ganz so wie es im Westen selbst auch der Fall war.
Ich fange an, ein gewisses Mitleid für die amerikanischen Beamten zu empfinden, die vor zehn Jahren die Besatzung von Afghanistan und Irak organisierten und auf der Stelle damit begannen, bestehende politische Parteien, existierende Armeen sowie traditionelle Institutionen der politischen Beratung und Entscheidung zu zerschlagen. Der wichtigste Grund für diesen kolossalen Fehler war nicht amerikanischer Größenwahn oder Naivität (wenngleich von beidem reichlich vorhanden war). Entscheidend war vielmehr, dass diese Beamten nicht imstande waren, über Alternativen zu sofortiger – und letztlich geheuchelter – Demokratie nachzudenken. Sie kannten nichts anderes als ihr oberstes Gebot: Neue Verfassungen entwerfen, Parlamente und Präsidentialkanzleien einrichten, anschließend Neuwahlen ausrufen. Und danach setzte dann in der Tat le déluge ein.
Das libertäre Zeitalter ist ein unlesbares Zeitalter. Es ist die Geburtsstätte einer neuen Art von Größenwahn, die sich von dem Größenwahn der alten Meisterdenker unterscheidet. Unser Größenwahn besteht darin, zu meinen, wir müssten nicht mehr gründlich nachdenken, nicht mehr aufpassen und sorgfältig auf Verbindungslinien achtgeben. Er besteht in dem Glauben, wir müssten nur an unseren „demokratischen Werten“, unseren Wirtschaftsmodellen und unserem Vertrauen in das Individuum festhalten – dann werde schon alles gut.
Wir haben unangenehme Szenen intellektueller Trunkenheit erlebt, uns daraufhin als selbstzufriedene Abstinenzler aus der Geschichte zurückgezogen – und sind nun unvorbereitet auf die Herausforderungen, die sie aufs Neue bringt. Das Ende des Kalten Krieges hat zerstört, was im Westen noch an Vertrauen in Ideologie existierte. Aber zerstört hat es offenbar auch unseren Willen, die Dinge zu verstehen. Wir haben abgedankt. Das libertäre Dogma unserer Zeit stellt unsere Gemeinwesen, unsere Volkswirtschaften und unsere Kulturen auf den Kopf – und lässt uns zugleich blind hierfür werden, indem es uns noch selbstbezogener und desinteressierter macht, als wir von Natur aus sind. Die Welt, die wir mit unseren eigenen Händen schaffen und verändern, liegt so fern von unserem Geist wie das fernste schwarze Loch. Früher einmal litten wir an Heimweh nach der Zukunft. Heute erinnern wir uns nicht einmal mehr an die Gegenwart. «
Aus dem Englischen von Tobias Dürr
Eine stark gekürzte Fassung dieses Essays erschien in Ausgabe 37/2014 der ZEIT. Wir danken der Redaktion und dem Autor für die Genehmigung zum Abdruck des vollständigen Textes.