Unter Fremden
Vor drei Jahren war ich Lesepatin an einer Kreuzberger Grundschule. In der Klasse, die man mir zuwies, gab es kein einziges ethnisch deutsches Kind. Manche Sprüche der Jungs der dritten Klasse über Frauen und die Deutschen kamen direkt aus der Koranschule, die sie samstags besuchten. Sie drehten mir den Magen um. Es waren nette Kinder. Sie haben gerne mit mir gelesen. Aber sie lebten in einer Parallelgesellschaft.
Ich verstehe daher, warum der Begriff der Parallelgesellschaft in der aktuellen Debatte so negativ besetzt ist. Auch warum man sie durch Integration überwinden möchte. Alle Menschen in Deutschland sollen deutsch sprechen und die Werte und Normen der Mehrheitsgesellschaft wenn schon nicht leben, dann doch zumindest kennen und akzeptieren. Bundesinnenminister Thomas de Maizière schlägt vor, „Integrationsverweigerer“ zu bestrafen. Gleichzeitig will die Bundesregierung Deutschland als Einwanderungsland definieren – nicht nur, um eine gesellschaftliche Realität anzuerkennen, sondern auch deshalb, weil wir ohne Migration weder unseren Lebensstandard nicht werden halten geschweige denn erhöhen können. Beides gemeinsam geht jedoch nicht. Es ist eine Illusion.
Ungeachtet der Einwanderungsdebatte der vergangenen Jahre bringt es die politische Klasse in vielen europäischen Ländern noch immer nicht über sich, den Wählern die Wahrheit über Migration und Integration zu sagen. Sie lautet: Ja, wir brauchen mehr Migration. Dadurch werden wird unsere Gesellschaft immer multikultureller und ethnisch vielfältiger. Ja, wir werden in diesem Prozess mit Parallelgesellschaften umgehen müssen. Viele Migranten sehen nicht nur anders aus, sondern sind es auch. Wir werden akzeptieren müssen, dass Neukölln ein türkisch-arabisch geprägter Stadtteil von Berlin ist, in dem viele Frauen Kopftücher tragen. Das heißt keineswegs, dass die Unterrichtssprache auch in Neuköllner Schulen nicht Deutsch sein wird. Natürlich müssen Mädchen schwimmen lernen können, und selbstverständlich gehört Gewalt gegen Frauen bestraft. Dennoch wird ein ständiges Austarieren notwendig sein: Was kann der Staat einzelnen Familien im Namen der deutschen freiheitlichen Grundordnung abverlangen? Und was darf der Einzelne aufgrund seiner Freiheitsrechte ablehnen?
Es gibt kein Einwanderungsland ohne Parallelgesellschaften. Einwanderer streifen ihre Kultur und Sprache nicht an der Landesgrenze ab. Jeder Tourist, der im Londoner Soho die bunten Drachen Chinatowns und danach in Brick Lane die Sari-Geschäfte bewundert, kann im Prinzip darauf kommen. Jede multikulturelle Großstadt lebt von dem ungeschriebenen Gesetz, dass die Nachbarn ihr Leben nach komplett anderen Maßstäben ausrichten können als man selbst, ohne dass man einander in die Quere kommt.
Heikel wird es, wie immer, beim Geld. Die liberalen Einwanderungsländer besaßen traditionell keinen ausgebauten Wohlfahrtsstaat, die Solidarität mit den neu eingewanderten Gruppen war sehr begrenzt. Der deutsche Wohlfahrtsstaat ist mit der Idee des Einwanderungslands schwer zu vereinbaren. Seine Grundsicherung ist vergleichsweise großzügig, die Durchlässigkeit des Arbeitsmarktes – und damit die Chancen für Außenseiter – eher gering. Für arabischstämmige Neuköllner Jugendliche ist Hartz IV eine ernst zu nehmende Alternative zur Ausbildung in der Lehrwerkstatt. Das behindert Integration erheblich. Schon deshalb gibt es keine Alternative zu größeren Bildungsinvestitionen.
Doch auch an diese Wahrheit müssen sich die Wähler gewöhnen: In Ländern mit Parallelgesellschaften schrumpft die Bereitschaft zur Solidarität. Zunehmende Einwanderung wird den Wohlfahrtsstaat noch weiter liberalisieren und den Arbeitsmarkt stärker flexibilisieren als bislang. Das ist die eigentliche Ironie an der Geschichte: Migration untergräbt den Sozialstaat in dem Moment, da die Mehrheitsgesellschaft größere Anpassungsleistungen der Einwanderer fordert. Hier liegt der eigentliche Grund, warum so viele Deutsche eine Partei aus dem Geiste Thilo Sarrazins womöglich wählen würden.