Unverzichtbar, weil hoch modern

In Heft 1/2005 der Berliner Republik stellte Anke Hassel die deutsche Mitbestimmung auf den Prüfstand. Diagnose: Bedingt zukunftstauglich. Hier antworten Konrad Klingenburg und Rainald Thannisch. Ihre These: Die Mitbestimmung nützt Wirtschaft und Gesellschaft

Die Debatte um die Mitbestimmung hat die Berliner Republik erreicht. Und das ist auch gut so. In Heft 1/2005 hat Anke Hassel gefragt: “Wie weiter mit der Mitbestimmung?” Wir sind geneigt, ihr zu antworten: “Vorwärts immer, rückwärts nimmer”. Denn es gibt schon etwas Merkwürdiges an diesem unserem Lande – die Neigung nämlich, all das klein oder schlecht zu reden, was zum Erfolg des Modells Deutschland beigetragen hat. Dazu gehört der Flächentarif, der viel mehr Beweglichkeit zulässt als seine Gegner zuzugeben bereit sind. Dazu gehören gesetzlich verbriefte Schutzrechte, die ein ungezügeltes Hire and Fire verhindern. Und dazu gehört eben auch die Mitbestimmung im Aufsichtsrat. BDA und BDI haben sie ins Visier genommen, sekundiert von der FDP sowie dem Wirtschaftsflügel der Union. Zwar hat angeblich niemand die Absicht, die Mitbestimmung ganz zu schleifen – aber mehr als ein Torso soll es bitte in Zukunft nicht mehr sein.

An diesen Pfeilern des Modells Deutschland wird seit vielen Jahren gesägt. Selten mit Argumenten, die sachlicher Überprüfung standhalten. Umso mehr mit ideologischer Aufgeregtheit und einer Form von Schwarzmalerei, die ihrerseits zu einem der entscheidenden Standortrisiken geworden ist. Hey, wir sind Weltmeister, schon vor 2006! Exportweltmeister – nicht trotz, sondern wegen der Mitbestimmung. Ja, dieses Land hat viele Probleme – vom Angstsparen über die Profitgier und Verteilung des vorhandenen Reichtums bis zum Zerreden seiner Stärken. Aber die Mitbestimmung gehört mit Sicherheit nicht dazu.

Warum also immer wieder diese Attacken von Seiten der Arbeitgeberfunktionäre – aber nicht von den Praktikern in den Aufsichtsräten großer Konzerne? Hier hat Anke Hassel völlig Recht. Wer die deutsche Mitbestimmung schleifen will, hat offensichtlich ein grundsätzliches Problem mit den Gewerkschaften, dem geht ihr Einfluss auf Politik und Gesellschaft viel zu weit. Anders sind die Angriffe gegen ein bewährtes Instrument des Co-Management und einen elementaren Bestandteil der Wirtschaftsdemokratie nicht zu erklären. Die Angriffe auf die Mitbestimmung stehen also in einem breiteren Kontext.

Es sollte die grundsätzliche Frage erlaubt sein: Welche Vorzüge hat der Shareholder-value-Kapitalismus gegenüber dem Rheinischen Modell? Wo nützt er unserer Wirtschaft und Gesellschaft? Wo schafft er innovative Arbeitsbedingungen in den Betrieben? Wo verhindert er sie durch Dauerdruck auf die Beschäftigten? Und wie halten wir es eigentlich mit der Verteilung des immer weiter steigenden Reichtums bei gleichzeitig zunehmender öffentlicher Armut?

Old Boys in ihrem Network unter sich

Das sind sehr grundsätzliche Fragen, die sich in einer einzigen bündeln lassen: In welchem Land, in welcher Gesellschaft und Wirtschaftsform wollen wir leben? Hier kommt die Mitbestimmung wieder aufs Tapet. Ist es wirklich so unmodern, sich dem Abbau von demokratischen Mitbestimmungs- und Schutzrechten zu verweigern? Oder ist der ungezügelte Kapitalismus, wie er von finanzstarken Initiativen propagiert wird, zeitgemäß und zukunftsgewandt?

Es scheint, als wollten die Old Boys in ihrem Network lieber unter sich bleiben. Doch wer kontrolliert dann die Kontrolleure? Wie steht es mit ihrer demokratischen Legitimation? Ergibt sie sich aus mehr als aus Kapitalanteilen? Merkwürdig ist zudem: Viele reden von der “Teilhabe am Sagen und Haben”– nur in der Wirtschaft soll das nicht gelten? Wie war das mit der Wirtschaftsdemokratie? Soll sie in Wahrheit nicht auch auf dem Altar des Shareholder value geopfert werden? Dabei ist die demokratische Kontrolle wirtschaftlicher Macht gerade in Zeiten schwerer internationaler Unternehmenskrisen – man denke nur an offensichtliche Kontrolldefizite etwa bei Enron oder Worldcom – aktueller denn je.

Genau diese unabhängige Kontrolle stößt aber bei interessierten Kreisen nicht auf Begeisterung. Der Berliner Betriebswirt Prof. Dr. Axel von Werder formuliert es so: “So erschwert die Arbeitnehmereigenschaft von Aufsichtsratsmitgliedern nicht zuletzt auch die offene Sachdiskussion im Überwachungsorgan, indem kritische Fragen an den Vorstand (von Aktionärsseite) aus der Sorge vor einer Beschädigung der Vorstandsautorität unterbleiben.” Diese Position allerdings schwächt die professionelle Aufsichtsratsarbeit und öffnet Tür und Tor für volkswirtschaftlich schädliche Vetternwirtschaft.

Denn die Unabhängigkeit der Vertreter der Kapitalseite ist nicht immer gesichert, zum Beispiel wenn ehemalige Vorstandsmitglieder in den Aufsichtsrat ihres Unternehmens streben. Daten liefert eine aktuelle Studie der Hans-Böckler-Stiftung: Im vergangenen Jahr wurden 35,9 Prozent der Aufsichtsratsmandate von 142 untersuchten mitbestimmten börsennotierten Aktiengesellschaften von Ex-Vorstandsmitgliedern besetzt – weit mehr als in den vergangenen Jahren. Zugenommen hat auch der Wechsel vom Vorstandsvorsitz zum Vorsitz des Aufsichtsrates; eine solche Erbfolgeregelung konnte in 19,7 Prozent der untersuchten Unternehmen beobachtet werden. Dazu kommen noch diejenigen Aufsichtsratsmitglieder der Kapitalseite, die als Kreditgeber, Zulieferer oder Auftragnehmer zum kontrollierten Unternehmen in einer geschäftlichen Beziehung stehen.

Wer also verhindern möchte, dass alle wesentlichen unternehmerischen Entscheidungen in der Jagdhütte oder auf der Jacht des Aufsichtsratsvorsitzenden fallen, sollte die Wahl von Arbeitnehmervertretern (die als Betriebsräte ganz überwiegend vor missbräuchlicher Entlassung oder sonstigem Druck geschützt sind) in den Aufsichtsrat nicht in Frage stellen. Ihre Unabhängigkeit wird sogar von der EU-Kommission ausdrücklich anerkannt. Die Repräsentanten der im Betrieb vertretenen Gewerkschaften schließlich sind persönlich und beruflich sogar völlig unabhängig vom Wohlwollen der Unternehmensleitung.

Wie steht es um die Legitimation?

Gerade die Zukunft der Gewerkschaftsvertreter im Aufsichtsrat wird aktuell besonders kritisch diskutiert. So fragt auch Anke Hassel nach deren Legitimation angesichts des rückläufigen gewerkschaftlichen Organisationsgrades: Wäre es nicht angemessen, dass “sich Arbeitnehmer und Gewerkschaften ihren bislang exklusiven Zugang zu den Aufsichtsräten mit anderen Gruppen teilen”, etwa mit Verbraucherschützern und Umweltinitiativen? Der Gedanke, weitere wichtige Stakeholder-Interessen einzubinden, hat zunächst einmal durchaus Charme. Verwunderlich ist allerdings, dass die Repräsentanz neuer Gruppen wie selbstverständlich zu Lasten der Arbeitnehmer gehen soll. Unabhängig davon sprechen jedoch einige wichtige Argumente gegen eine Integration weiterer gesellschaftlicher Gruppen:

Mangelnde demokratische Legitimation: Umwelt- und Verbraucherverbände haben weitaus weniger Mitglieder als die Gewerkschaften und sind zudem weit dezentraler organisiert. Im Gegensatz zu den Gewerkschaften fallen sie nicht unter die grundgesetzlich verankerte Koalitionsfreiheit. Auch ist völlig unklar, welche Gruppen oder Verbände von wem in welche Aufsichtsräte entsandt werden sollen. Gerade das große Feld der Verbraucher ist sehr differenziert und wenig überschaubar.

Fehlende ökonomische Begründung: Es ist ökonomisch durchaus sinnvoll, die Arbeitnehmer und die Vertreter der Kapitalseite gleichberechtigt an der Unternehmenskontrolle zu beteiligen, da beide Produktionsfaktoren einen unverzichtbaren Beitrag zur Wertschöpfung des Unternehmens leisten. Dabei bringen die Arbeitnehmer mit ihrer Arbeitskraft und ihrem Engagement weit mehr ein als nur anonymes Kapital. Ihre Teilhabe wirkt sich positiv aus auf Betriebsfrieden und Betriebsklima. Verbraucher- und Umweltinteressen hingegen – so wichtig sie sind – können in vielen Fällen auch über die Beeinflussung des Konsums (man denke an die Auseinandersetzung zwischen Greenpeace und Shell) oder durch gesetzliche Regelungen berücksichtigt werden.

Geringe politische Verwirklichungschancen: Die Chance zu solch einer Reform ist nicht ansatzweise zu erkennen. Die Arbeitgeberverbände streben die Erweiterung der Machtfülle der Kapitalseite an. Da ist es kaum zu erwarten, dass BDA und BDI ihre Kräfte aufbieten, den Einfluss der Arbeitnehmer zu schmälern, nur damit die Unternehmenskontrolle in Zukunft gemeinsam mit Umwelt-, Tierschutz- und Verbraucherverbänden organisiert wird.

Auch die These von der schwindenden Legitimation der Gewerkschaftsvertreter im Aufsichtsrat erscheint wenig stichhaltig. Diese verfügen im Gegensatz zu den Vertretern der Kapitalseite sogar über eine doppelte demokratische Legitimation: Erstens als von der Belegschaft demokratisch gewählte Mitglieder des Aufsichtsrates, zweitens als Vertreter einer Gewerkschaft als demokratischer und sozialer Organisation.

Zwar ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad in Deutschland gesunken, er liegt aber mit 30 Prozent noch immer im Durchschnitt der EU. Darüber hinaus wäre es falsch, allein die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft als Legitimationsquelle für Gewerkschaftsvertreter im Aufsichtsrat anzusehen. Auch Parteien haben mehr Wähler als Mitglieder. Die Unterstützung der Gewerkschaften zeigt sich auch durch die Wahl ihrer Vertreter in die Betriebsräte: Der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Betriebsratsmitglieder im Organisationsbereich der IG BCE liegt um 80 Prozent, bei der IG Metall um 75 Prozent. Im großen Dienstleistungssektor organisiert die Gewerkschaft ver.di immerhin noch geschätzte 64 Prozent der Betriebsräte.

Mitbestimmung bietet weit mehr gesellschaftliche und ökonomische Vorteile über die Kontrolle von Unternehmensentscheidungen hinaus. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass unternehmerische und betriebliche Mitbestimmung eng miteinander verbunden sind. Die Schwächung der einen mindert den Nutzen der anderen. Innerhalb der Betriebe verbessert die Mitbestimmung das Klima und fördert die Motivation. Nichts würgt Einsatzwillen und Kreativität schneller ab als existentielle Ungewissheit und Fremdbestimmung. Mitbestimmung erleichtert und unterstützt zudem eine gute Unternehmensführung durch höhere Akzeptanz der Entscheidungen des Managements in der Belegschaft. Damit begünstigt sie kooperative Modernisierung und hilft, den Strukturwandel aktiv zu gestalten. Allerdings darf man nicht Mitverantwortung der Belegschaften fordern, ohne Mitbestimmung insgesamt zu fördern. Zudem senkt die Mitbestimmung Transaktionskosten: Kostspielige individuelle Ver-handlungen zwischen Unternehmen und Beschäftigen werden durch Betriebsrat und Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat gebündelt. Vor allem aber unterstützt die Mitbestimmung den Innovationsprozess. Innovationen fangen beim Menschen an, wie Charles Handy, einer der großen europäischen Managementphilosophen, hervorhebt: “Mitbestimmungsgesetz und Kündigungsschutz ... schränken fraglos die Flexibilität des Managements ein. Dafür fördern sie aber auch den Gemeinschaftssinn und erzeugen jenes Sicherheitsgefühl, das Innovationen und Experimentierfreude ermöglicht; außerdem entstehen so genau die Loyalität und das Engagement, dank derer ein Unternehmen Krisen durchstehen kann.”

Größe und Frieden durch Mitbestimmung

All diese Argumente belegen: Die Mitbestimmung ist ein unverzichtbares Element des bundesdeutschen Wirtschafts- und Sozialsystems. Sie hat dieses Land und sein Wirtschaftsmodell groß gemacht und leistet ihren Beitrag zum Erhalt des sozialen Friedens. Es gibt keinen empirischen Beleg für die Behauptungen von BDA und BDI, die Mitbestimmung im Aufsichtsrat sei ein Standortnachteil für deutsche Unternehmen in Europa. Die jüngste Gewinnentwicklung der DAX 30-Unternehmen spricht hier Bände.

Sicher, die deutsche Unternehmensmitbestimmung ist im europäischen Vergleich besonders weit entwickelt. Aber sie ist nicht so isoliert, wie es BDA und BDI gerne hätten. Auch das Argument, ausländische Investoren würden abgeschreckt, zieht nicht: Von den 763 Unternehmen im Geltungsbereich des Mitbestimmungsgesetzes von 1976 gehören immerhin etwa 30 Prozent mittelbar oder unmittelbar einem ausländischen Investor. So befindet auch das MPI für Gesellschaftsforschung in Köln, dass internationale Investoren die Mitbestimmung in Deutschland bei der Zusammenstellung und Bewertung ihres Portfolios ignorieren, weil sie von ihr keine Verminderung der Effizienz erwarten. Auch von einer Vertreibung der Holdings, von BDA und BDI gerne angeführt, kann keine Rede sein: Hier ist Deutschland nach Angaben der amerikanischen Handelskammer sogar der attraktivste Standort in Europa.

Dies alles belegt: Die Kritik der Wirtschaft an der Mitbestimmung steht auf tönernen Füßen. Hier geht es anscheinend nicht um die Sache, sondern um andere Interessen. Deshalb ist es besonders erfreulich, dass die gesellschaftliche Akzeptanz der Mitbestimmung weiterhin sehr hoch ist. Einer repräsentativen TNS-Emnid-Umfrage zufolge finden 82 Prozent der Deutschen, dass die Mitspracherechte der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat nicht reduziert werden sollen. Die Ohrfeige für die Vertreter der Arbeitgeberverbände schallt umso lauter, als sich diese Unterstützung auch in der Wirtschaft wiederfindet. Namhafte Unternehmensvorstände wie Jürgen Schrempp von DaimlerChrysler, Utz Claassen von EnBW oder Hartmut Mehdorn von der Bahn loben öffentlich die gute Praxis der Mitbestimmung im Aufsichtsrat. Auch die im Führungskräfteverband ULA zusammengeschlossenen leitenden Angestellten im Aufsichtsrat bescheinigen der Mitbestimmung in einer aktuellen Umfrage des WZB positive Wirkungen und sprechen sich gegen einen grundlegenden Systemwechsel aus.

Anke Hassel hat darauf hingewiesen, dass sich BDA und BDI momentan mit ihren Vorschlägen nicht durchsetzen können, weil die Bundesregierung in der Verteidigung der Mitbestimmung “steht”. Mit ihrer Hilfe ist es gelungen, die Mitbestimmung auf Unternehmensebene bei der Europäischen Aktiengesell-schaft (und voraussichtlich abgeschwächt auch bei der Verschmelzungsrichtlinie) zum Standard zu machen. Wichtig ist nun, dass der erreichte Kompromiss nicht bei weiteren Richtlinien untergraben wird.

Was bleibt? Die Erkenntnis, dass die Debatte um die Zukunft der Mitbestimmung nicht allein von den Kennern der Materie geführt werden darf. Sie gehört mitten hinein in die Auseinandersetzung um die Zukunft dieses Landes und der europäischen Idee. Wer die Mitbestimmung schleifen will, will eine andere, kältere Republik. So gut es ist, dass die Bundesregierung in Treue fest zur Mitbestimmung steht, so wichtig ist es daher, die Auseinandersetzung um deren Zukunft mit härteren Bandagen zu führen. Dazu gehört, die Deutungshoheit über gesellschaftliche Phänomene zurückzugewinnen und nicht Begriffe vom politischen Gegner negativ besetzen zu lassen, die zum Kern sozialdemokratischer Identität gehören.

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