Vom "Gedöns" zum großen Gewinnerthema: Der Aufstieg der Familienpolitik
Politische Erfolge lassen sich mit Strategiekompetenz organisieren und realisieren. So erlebte die Familienpolitik in den Jahren zwischen 2004 und 2009 eine Hochkonjunktur, unerwartet, aber nicht zufällig. Anfang der zweitausender Jahre war die öffentliche Wahrnehmung „der Familie“ skeptisch bis pessimistisch. In den Medien dominierten Beiträge, in denen es um „Lasten“, „Risiken“ und „Zerbröseln“ ging. Die behauptete Misere besaß einen materiellen Kern. Über Jahrzehnte hatte die Familienpolitik mit hohem finanziellen Aufwand unbefriedigende Ergebnisse erzielt. Da sich die politischen Eliten nicht sehr dafür interessierten, fiel ihnen dieses Missverhältnis nicht auf. Das Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) arbeitete wuselig, aber unter Verzicht auf mehrheitstaugliche Projekte. Gerhard Schröder bezeichnete Familienpolitik als „Gedöns“. Zwei Jahre später gab er als erster Bundeskanzler eine familienpolitische Regierungserklärung ab.
Ein progressiver Neustart
Schröders Sicht hatte sich aufgrund von Wahlanalysen des SPD-Planungsstabes geändert. In der Folge war dort nach einem Führungswechsel im Familienressort 2003 ein Politikwechsel vorbereitet worden. Maßgebliche Wissenschaftler wurden als Berater gewonnen, und ab 2004 schlug man mit der nachhaltigen Familienpolitik öffentlich einen neuen, progressiven Weg ein. Die Neuorientierung erfolgte in Übereinstimmung mit mehrheitlichen Lebenswünschen sowie den zentralen Empfehlungen aus der Werkstatt des 7. Familienberichts. Monetäre Förderung wurde wirkungsorientiert ausgerichtet, unterstützende Infrastruktur massiv ausgebaut und die Arbeitswelt familienbewusster gestaltet.
Für eine Strategie kombinierter Reformschritte wurden günstige Zeitfenster gesellschaftlicher Stimmung und politischer Konstellation genutzt. Zwei offensive Ministerinnen nacheinander ergriffen als „politische Unternehmerinnen“ jenseits der Koalitionsverträge ihre Chancen. Indem sie in der Gesellschaft breite Unterstützung für ihr Programm mobilisierten, zogen sie ihre Parteien mit und überwanden deren überkommene Doktrinen. Als Revolution von oben verabreichte Renate Schmidt der überraschten SPD ihre Familienpolitik. In einem Crash-Kurs überzeugte sie Kanzler Schröder, zog Medien und Stakeholder auf ihre Seite. Schmidts Nachfolgerin Ursula von der Leyen überrannte anschließend ihre zögerliche Kanzlerin und die widerstrebende CDU, indem sie Schmidts progressives Programm nicht nur übernahm, sondern den Modernisierungsschub noch beschleunigte und erweiterte.
Die hohe Präsenz in der Öffentlichkeit, immer flankiert von starken Partnern und wissenschaftlicher Expertise ergab eine bisher seltene Wucht in der medialen Wirkung. Der Erfolgsdruck auf Parlament und Regierung wurde so nochmals erhöht. Selbstverständlich gab es Widerstände: in der Union sowieso, aber auch in der SPD, aus strukturkonservativen Organisationen und aus den Ländern. Neben dem enormen Rückhalt in der Bevölkerung trug die strukturierte Unterstützung durch Persönlichkeiten wie DIHK-Präsident Ludwig Georg Braun, DGB-Chef Michael Sommer, Bischof Wolfgang Huber oder den Bundespräsidenten dazu bei, dass politische Entscheidungen für Gesetze und Finanzierung zügig durchgesetzt wurden.
In den folgenden Jahren gewann die Familienpolitik in der Bevölkerung außerordentlich an Zustimmung. Im Jahr 2004 gelangte Renate Schmidt als erste Familienministerin in die Top 10 der wichtigsten Politiker. Ihre Nachfolgerin schaffte es sogar mehrmals unter die Top 3. Die zentrale Aussage des durchgehend positiven Medientenors lautete: „Familienpolitik wird zum Gewinnerthema“ (Infratest 2005). Eine systematisch entwickelte Berichterstattung in den Leitmedien wirkte seit Anfang 2004 „top down“. Eine wahre Explosion von Beiträgen erfolgte in regionalen Zeitungen, und auch Wirtschaftsblätter öffneten sich für das Thema. Bis zur Bundestagswahl 2009 wurde die Präsenz kontinuierlich und konzentriert aufrechterhalten. Als Treiber wirkten regelmäßige Pressekonferenzen der Ministerinnen mit „magischen“ Daten (zum Beispiel zur Väterquote) und innovativen Impulsen (etwa der „Wachstumspfad“), häufig gemeinsam mit angesehenen Unterstützern.
Strategische Partnerschaften wurden auf der Grundlage gemeinsamer Interessen konzipiert. Im wachsenden Kreis einflussreicher Partner – namentlich aus der Wirtschaft und den Gewerkschaften, aber auch aus den großen Stiftungen – erfolgte eine informelle Verständigung auf programmatische Eckpunkte. Spitzenbeamte des BMFSFJ hatten diese im Dialog mit unabhängigen Sachverständigen wie Hans Bertram ab 2003 erarbeitet. Unter dem Motto „Erfolgsfaktor Familie“ initiierte man arbeitsteilige Kooperationen auf freiwilliger Basis zu allseitigem Nutzen. Die im Bund gestiftete „Allianz für die Familie“ verfügte bald über einen beträchtlichen operativen Unterbau. In rund 600 „Lokalen Bündnissen für Familie“ engagieren sich bis heute neben sozialen Organisationen und Institutionen alle Industrie- und Handelskammern sowie über 5 000 Unternehmen aller Größenordnungen. Zielmarken wurden für wichtige Bereiche vereinbart und eingehalten.
Der ökonomische Sinn der Familienfreundlichkeit
Als für die Medien reizvoll und für die Bevölkerung anziehend erwies sich die bis dahin ungewöhnliche Argumentation. Sie beruhte auf einer Mischung aus ökonomischer Rationalität und moralischer Verantwortung, aus Gleichstellungszielen und Wertkonservatismus. Beide Ministerinnen fanden in Wirtschaft und Medien immer dann aufmerksame Zuhörer, wenn sie über betriebswirtschaftliche Vorteile oder volkswirtschaftliche Perspektiven sprachen. Zum Kurswechsel im Familienministerium zählte neben internationalen Benchmarks eine intensive Zusammenarbeit mit Ökonomen. Den Auftakt markierte im Januar 2003 eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), die den volkswirtschaftlichen Nutzen des Ausbaus von Kinderbetreuung belegte.
Im November 2003 trat mit Bert Rürup der erste Wirtschaftsweise an der Seite einer Familienministerin auf und erläuterte anhand des Elterngeldes den ökonomischen Sinn dieser Art von Familienpolitik. Viele andere namhafte Ökonomen und Institute sind seither dieser Bewertung gefolgt. Die Prognos AG wies 2004 zum ersten Mal anhand üblicher Kosten-Nutzen-Rechnungen nach, dass und wie Familienfreundlichkeit für Unternehmen Gewinn bringt. In Kooperation mit der Wochenzeitung Die Zeit wurde 2004 und 2008 die Familienfreundlichkeit aller Kreise und Städte anhand aussagekräftiger Kennziffern überprüft und als „Familienatlas“ veröffentlicht – mit fulminanter Resonanz.
Mit dem ambitionierten Ausbau der Tagesbetreuung in zwei Schritten (Gesetze TAG 2005 und KiföG 2008) wurde eine bedarfsgerechte Infrastruktur realisiert. Verbunden mit einem Rechtsanspruch stehen mittlerweile wie geplant für 33 Prozent der Kleinkinder Kitaplätze zur Verfügung. Der von Beziehern wie Experten geschätzte Kinderzuschlag für Geringverdiener hat mehrere hunderttausend Kinder effizient aus der Sozialhilfe geholt. Die neue Familienpolitik folgte insgesamt dem Leitbild der Agenda 2010, Anreize zur Erwerbsarbeit zu stärken. Mit den Regelungen des Elterngeldes ist es der Politik gelungen, einen von der breiten Mehrheit gewünschten „natürlichen“ Zeitpunkt der Rückkehr in den Job und ein optionales Arrangement der Elternzeit zu ermöglichen.
Die Einführung des Elterngeldes 2007 hat die Erwerbstätigkeit von Frauen substanziell verbessert. Das Elterngeld stärkt Familien nachhaltig, indem es Transferabhängigkeit reduziert und einen Beitrag zur Armutsvorsorge leistet. Der durchschnittliche Einbruch des Haushaltseinkommens nach der Geburt von Kindern hat sich deutlich verringert. Vom Elterngeld profitieren besonders Familien mit mittleren und kleinen Einkommen. Das stärker gestaffelte Kindergeld ab dem dritten Kind verringert Armutsrisiken vor allem bei den stärker belasteten kinderreichen Familien. Renommierte Familienforscher, Ökonomen und Demografen erwarten langfristig eine höhere Geburtenrate als Effekt einer modernen Mischung aus Zeit, Infrastruktur sowie Geld und verweisen auf internationale Erfahrungen.
Eine kleine Kulturrevolution löste die Elternzeit bei den Vätern aus. Die Böckler-Stiftung hat schon 2005 mit Blick auf die Väter enorme betriebliche Effekte festgestellt. Der Anteil der Elternzeitväter stieg bisher von mageren 3,5 Prozent auf rund 30 Prozent. Im Anschluss an die Vätermonate reduzieren diese Männer Arbeitszeit und Freizeit und verbringen dadurch im Schnitt eine Stunde mehr pro Werktag mit ihren Kindern. Diese Entwicklung wird in der Bevölkerung altersübergreifend ausdrücklich begrüßt. Hoch angesehen blieben alle 2005 bis 2009 neu geschaffenen Leistungen. Überhaupt ist die Bevölkerung mehrheitlich der Auffassung, dass sich seit 2005 „die Bedingungen für Familien mit Kindern spürbar verbessert haben“ (Allensbach 2009). Die Medien registrierten das dauerhafte Meinungsklima und würdigten die empirisch gestützte Erfolgsgeschichte.
Wissenschaftliche Beratung auf hohem Niveau
Parallel zu den großen Reformprojekten wurden in rascher Folge die Voraussetzungen dafür geschaffen, die Familienpolitik evidenzbasiert weiterzuentwickeln. Die wissenschaftliche Politikberatung auf hohem Niveau, international vergleichend angelegt, wurde ab 2006 in einem Think Tank beim BMFSFJ weiter professionalisiert. In dem Jahr wurde erstmals eine Gesamtschau über Zahl und Größenordnung der staatlichen Leistungen erstellt. Seither werden jährlich Status und Entwicklung dokumentiert. Weiter ging es mit einem konsequenten Monitoring, wie die neuen Leistungen wirken. Für Transparenz sorgte ein jährlicher Familienreport. Den vorläufig letzten Schritt bildete ab 2009 die groß angelegte „Gesamtevaluation der ehe- und familienbezogenen Leistungen“, die bis 2013 schrittweise durchgeführt wurde.
Angelehnt an den 7. Familienbericht formulierte man für das weltweit beispiellose Unterfangen einen Zielkatalog: wirtschaftliche Stabilität von Familien, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Förderung und Wohlergehen von Kindern, Generationenzusammenhalt sowie Erfüllung von Kinderwünschen. Anhand der großen Leistungen analysierten und dokumentierten Teams von Wissenschaftlern, inwiefern diese Ziele erreicht werden (Effektivität) und welcher Aufwand (Effizienz) dafür betrieben wird. Mit „Akzeptanz-Analysen“ wurden Bekanntheit und Bewertung der Leistungen sowie die Muster ihrer Inanspruchnahme untersucht. Alle Ergebnisse sollten „fortlaufend“ ab 2010 in Regierungshandeln eingespeist werden. Im Ressort wurden weitere ehrgeizige Vorhaben konzipiert, die Ministerin allerdings strebte nach Höherem.
Was die Mitte der Gesellschaft interessiert
Den Protagonisten der schwarz-gelben Koalition ab 2009 war ein wirkungsorientiertes Profil der Familienpolitik erkennbar gleichgültig; das Kindergeld wurde „klassisch“ erhöht, ausgerechnet das Elterngeld gekürzt und das umstrittene Betreuungsgeld eingeführt. Eine schwache Ministerin bescherte der Familienpolitik vier verlorene Jahre und das BMFSFJ verkümmerte wieder zum Ressort „Gedöns“. Missachtung traf die bisherigen Berater, versteckt wurden die Ergebnisse der Gesamtevaluation, die schillernde „Wahlfreiheit“ ersetzte die harte und messbare Vereinbarkeit als Maßstab. Die Rolle rückwärts ins alte Denken war schon 2010 vollzogen. Vier Jahre später regiert im Bund wieder eine Große Koalition. Die Erwartungen der Bevölkerung richten sich laut Umfragen am nachdrücklichsten auf die Familienpolitik.
In einem seltsamen Kontrast dazu verlief allerdings die Pressekonferenz der beiden Parteivorsitzenden zum Koalitionsstart. Die Wörter „Familie“, „Vereinbarkeit“ oder „Kinder“ kamen in den Statements nicht vor. Im Koalitionsvertrag ist zwar von Unterstützung für Familien die Rede, aber wenig von finanziell unterlegten Maßnahmen und gar nichts von evidenzbasierter Umgestaltung. Doch ein Comeback progressiver Familienpolitik ist überfällig. Als markantes Fortschrittsziel für eine neue Phase erfolgreicher Familienpolitik drängt sich die von Familienministerin Manuela Schwesig propagierte Familienarbeitszeit förmlich auf. Die Mitte der Gesellschaft, derzeit skeptisch gegenüber der SPD, würde sich dafür interessieren. Das ElterngeldPlus ist ein guter Anfang.