Vom Proletariat zur Neuen Mitte
Nach mehreren Vorstudien, einer (zusammen mit Peter Lösche verfassten) umfangreichen monografischen Arbeit zum Wandel der Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert und einer Reihe von Essays und Kommentaren zur aktuellen Politik der SPD liegt nun eine Gesamtdarstellung der Parteigeschichte aus Walters Feder vor. Das im Alexander Fest Verlag erschienene Buch richtet sich wie sein Vorgänger - die zusammen mit Tobias Dürr verfasste Heimatlosigkeit der Macht - ausdrücklich nicht nur an ein wissenschaftliches Publikum. Der knappe Umfang, die zahlreichen Abbildungen und Illustrationen (mit ausführlichen Bildunterschriften) sowie der fehlende Anmerkungsapparat machen den Text angenehm leserfreundlich.
Dass Walter ohne den bei Sozialwissenschaftlern üblichen Jargon auskommt, wussten wir schon aus seinen fachwissenschaftlichen Veröffentlichungen. In der populären Darstellung liegt freilich auch ein Problem. Der bewusste Verzicht auf Wissenschaftlichkeit lässt den Leser mit den Urteilen und Interpretationen des Autors letztlich allein. Wie diese in der wissenschaftlichen Diskussion einzuordnen sind und welchen Stellenwert sie dort gewinnen, bleibt unklar, denn auf Deutungskontroversen wird nur gelegentlich zwischen den Zeilen hingewiesen. Das gilt für die historischen Streitfragen - etwa wenn Walter die Sozialdemokraten gegen den Vorwurf in Schutz nimmt, sie seien zu Beginn der Weimarer Republik zu zaghaft aufgetreten. Es gilt aber auch für die aktuellen Debatten wie jene um die Zukunft der Mitgliederpartei, bei denen sich Walter vom Mainstream der heutigen Parteienforschung absetzt.
Die Milieupartei war sich selbst genug
Der Autor schildert die Geschichte der Sozialdemokratie als Ringen zwischen gesellschaftlicher Integration und staatlicher Machtteilhabe. Die Milieupartei des Kaiserreiches war die angemessene Organisationsform der Außenseiter. Von der Regierungsmacht bis auf weiteres ausgeschlossen, musste die Arbeiterbewegung versuchen, ihre fehlende Basis im Staat durch eine schlagkräftige Organisation innerhalb der Gesellschaft aufzuwiegen. Den Schlüssel zur Macht sah man in einer möglichst umfassenden Integration der klassengebundenen Anhängerschaft. Durch ein dichtes Netz an Vereinen und politischen Vorfeldorganisationen begründeten die Sozialdemokraten eine klar unterscheidbare gesellschaftliche Identität. Diese Identität wurde zu einer moralischen Kraftquelle, die der Partei über die schweren Rückschläge hinweghalf, die sie im 19. und 20. Jahrhundert einstecken musste - vom Sozialistengesetz bis zu den Wahlniederlagen in den fünfziger und sechziger Jahren. Zur gleichberechtigten Regierungspartei avancierte die SPD erst am Ende der Ära Adenauer - zu einem Zeitpunkt, als sie schon nicht mehr Milieupartei war.
Walter zeigt, dass die Ohnmacht der SPD im Staat gerade aus dieser moralischen Stärke herrührte. Als Milieupartei war sie sich gewissermaßen selbst genug. Man richtete sich in der Organisation ein und vernachlässigte darüber die Politik. Den Sozialdemokraten fehlte es also am nötigen Machtwillen. Sie versäumten die Koalitionsbildung mit den reformbereiten Kräften im bürgerlichen Lager und schlossen auch keine Verbindungen zu anderen potenziellen Unterstützergruppen (etwa den Landarbeitern), da dies ein Überschreiten des eigenen Milieus erfordert hätte.
Eine wichtige Erklärung hierfür liefert die marxistische Ideologie. Sie gab der Arbeiterbewegung die Gewissheit, dass sich die Geschichte auch ohne konkretes Zutun in ihrem Sinne entwickeln würde. Die SPD ließ sich deshalb auf die komplexen Realitäten der Industriegesellschaft nicht ein und konzentrierte ihre reformistischen Bemühungen einseitig auf die Sozialpolitik. Als der Weimarer Staat Mitte der zwanziger Jahre in die Krise geriet, waren die Sozialdemokraten alleine zu schwach, um ihn zu retten. Dass sie selbst Mitschuld an dieser Schwäche trugen, mag man ihnen aus heutiger Sicht vorwerfen. Die Kritik an der späteren Tolerierungspolitik hingegen weist Walter zurück, da diese ab 1930 die einzige verbliebene Möglichkeit dargestellt habe, die Nationalsozialisten von der Macht fernzuhalten.
Längst nicht alle Arbeiter wählten die SPD
Der Übergang der Sozialdemokratie von der Milieupartei zur modernen Volkspartei war ein langer Prozess, der nicht erst in den fünfziger Jahren einsetzte. Walter zeigt, dass die Integration der klassengebundenen Wähler auch in der Wilhelminischen und Weimarer Zeit nur unvollständig gelang: Ein Großteil der Arbeiterschaft verblieb im bürgerlichen Lager, dessen Vereinsstrukturen nicht weniger umfangreich und in manchen Bereichen (etwa beim Fußball) sogar attraktiver waren als jene der Sozialdemokratie. Auf der anderen Seite rekrutierte die SPD einen zunehmenden Teil ihrer Wähler aus den Angestelltenschichten, bei denen sie am Ende der Weimarer Republik bereits besser abschnitt als unter den Arbeitern. Auch zusammen mit der KPD erreichten die Sozialdemokraten nach 1924 in ihrer eigenen Klasse niemals eine absolute Mehrheit, wie Walter überraschend vermerkt. Die Milieupartei war also keineswegs eine reine Arbeiterpartei.
Die SED nahm der Sozialdemokratie die Symbole
Der Abschied von der Milieupartei war ein Produkt mehrerer miteinander verbundener Entwicklungen. An erster Stelle ist der Nationalsozialismus zu nennen, dessen Volksgemeinschaftsideologie die Arbeiter von der SPD weiter entfremdete. Das Dritte Reich leitete das Ende der Klassengesellschaft alten Stils ein. Nicht nur, dass die Nazis das Vereinsnetz der Sozialdemokraten unwiederbringlich beschädigten. Unter den Bedingungen der Diktatur wurde die Verbürgerlichung der proletarischen Schichten auch durch die aufkommende Tendenz befördert, sich ins Private zurückzuziehen: Die Wohnstube ersetzte das Milieu. Noch einschneidender stellten sich die Wirkungen der "Zwangsvereinigung" in der sowjetischen Besatzungszone dar. Auch wenn SPD und KPD in der Weimarer Republik frühzeitig getrennte Wege gegangen waren, entsprangen sie doch einem gemeinsamen sozialistischen Milieu, dessen Angehörige sich nach der Spaltung weiter miteinander verbunden fühlten.
Die Überwindung dieser Spaltung traf daher bei den Sozialdemokraten - entgegen einem bis heute gepflegten (und von Walter bloßgelegten) Geschichtsmythos - zunächst auf breite Sympathie. Zum Widerstand entschloss die Partei sich erst 1946, als es bereits zu spät war. Damit ließ sich auch das sozialdemokratische Milieu nicht mehr retten. Indem sie auf dieselben Traditionen und Symbole zurückgriff, hatte die neu formierte Einheitspartei der SPD "gewissermaßen die Sprache genommen. Der kulturelle Habitus der alten Sozialdemokratie war dem der SED zu ähnlich, um als Bezugspunkt alternativer Orientierungen dienen und unter den Bedingungen der roten Diktatur fortexistieren zu können." Die SPD kämpfte daher auf verlorenem Posten, als es 1989/90 zur Wiedervereinigung kam. Während Union und FDP auf die Ressourcen der Blockparteien zurückgreifen konnten, musste sie in den neuen Ländern praktisch bei Null anfangen.
Ein dritter Erklärungsfaktor, dem Walter freilich nur am Rande Beachtung schenkt, ist die Entwicklung des modernen Leistungs- und Wohlfahrtsstaates. Die Prozesse der gesellschaftlichen Individualisierung sind dadurch weiter vorangetrieben worden. Je mehr der Staat sich als Fürsorgeinstanz betrachtete und in die Lebenswirklichkeit seiner Bürger eingriff, umso entbehrlicher wurde das Eingebundensein in die Milieus. Der Staat trat an die Stelle der gesellschaftlichen Gruppen. Die Erosion der Milieus stellt insofern auch eine unfreiwillige Folge der sozialdemokratischen Ideologie dar, die sich den Ausbau des Sozialstaates ja gerade zum Ziel setzte. Damit veränderte sich auch das Verhältnis der Wählerschaft zur SPD. Ob man der Partei die Stimme gab, hing jetzt weniger von natürlichen Bindungen als von konkreten Interessen ab. Die Sozialdemokraten mussten sich verstärkt für neue Wählerschichten öffnen.
Bevor sie das von der Union vorgegebene Modell der Volkspartei übernahm, befand sich die SPD in den fünfziger Jahren in einer wenig beneidenswerten Situation. Auf dem Weg zur Regierungspartei war sie trotz des entschiedenen Machtwillens Kurt Schumachers kein Stück vorangekommen. Gleichzeitig blieb ihr der Rückzug in die Heimeligkeit der gesellschaftlichen Milieus aus den besagten Gründen versperrt. Dennoch weigerte sich die Partei trotzig, den Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft zur Kenntnis zu nehmen. Erst als sie ihren marxistischen Glaubenssätzen im Godesberger Programm abschwor und die innen- und außenpolitischen Realitäten des neuen Staates akzeptierte, konnte die SPD zum bürgerlichen Lager aufschließen und erneut Regierungspartei werden.
In den ersten Jahren der sozial-liberalen Koalition veränderte sich die innere Struktur der Partei nachhaltig. Die Aufbruchstimmung ließ viele neue Mitglieder zur SPD hinzustoßen, die sich dadurch verjüngte, aber auch radikalisierte. Der überragende Sieg bei der Bundestagswahl 1972 täuschte darüber hinweg, dass die von Willy Brandt erfolgreich umworbene "neue Mitte" schon seit diesem Zeitpunkt wieder zu zerbröseln begann. Unter der Kanzlerschaft Helmut Schmidts erforderte die Integration der Parteibasis einen immer weiteren Spagat. Walter schließt sich der These an, dass die Nicht-Übernahme des Parteivorsitzes durch Schmidt dabei eher stabilisierend wirkte und die Regierungszeit der sozial-liberalen Koalition verlängerte. Den Verlust der Mehrheits- und Regierungsfähigkeit konnte das allerdings nicht verhindern. "Ein Teil der neuen Mitte wanderte nach rechts zur Union ab, der andere nach links zu den Grünen. Die SPD war nicht mehr in der Lage, die verschiedenen gesellschaftlichen Entwicklungen unter einen Hut zu bringen", schreibt Walter. "Das führte sie zurück in die Opposition."
Strukturell benachteiligt? Keine Spur!
In den achtziger Jahren orientierte sich die Partei zunächst stärker in Richtung der postmaterialistischen Wählerschichten. Durch die Bildung von Koalitionen mit der aufstrebenden Partei der Grünen in den Ländern zeichnete sich Ende des Jahrzehnts die Möglichkeit einer Wiedergewinnung der Mehrheit auch auf der Bundesebene ab. Dass es dazu erst 1998 kam, hängt zum einen mit den retardierenden Wirkungen des deutschen Vereinigungsprozesses zusammen, der die SPD auf dem falschen Fuß erwischte. Zum anderen hatte die Partei ein personelles Problem. Die Troika Wehner-Brandt-Schmidt war in den sechziger und siebziger Jahren ein Glücksfall gewesen. Anders als sie rivalisierte die Generation der Enkel, die in den achtziger Jahren nach der Macht griff und in den Bundesländern ein ums andere Ministerpräsidentenamt besetzte, offen um die Füh-rungsposition. In der sechzehn Jahre währenden Ära Kohl verschliss die SPD insgesamt fünf Parteivorsitzende und ebenso viele Kanzlerkandidaten. Eine Klärung trat erst nach dem Regierungswechsel 1998 ein, als sich der erfolgreiche Kandidat Gerhard Schröder auch an der Parteispitze, durchsetzte.
Von einer strukturellen Benachteiligung der Sozialdemokratie im Parteienwettbewerb kann, wie Walter zu Recht betont, heute keine Rede mehr sein. Das Wählerpotenzial der SPD ist zukunftsträchtiger und heterogener als dasjenige der Union; es erlaubt der Partei, divergierende Bevölkerungsgruppen zu breiten Wählerkoalitionen zusammenzuschmieden. Der Erfolg bei der Bundestagswahl darf allerdings nicht über die Fragilität der neuen Mehrheit hinwegtäuschen, deren weiterer Zusammenhalt an komplexe strategische Voraussetzungen geknüpft ist. Eine Neuauflage der rot-grünen Koalition ist aus heutiger Sicht eher unwahrscheinlich, auch wenn es für Gerhard Schröder selbst als Kanzler noch einmal reichen sollte.
Es ringen keine Flügel mehr
Über den inneren Zustand der SPD in der Berliner Republik weiß Franz Walter wenig Gutes zu berichten. Die einst so selbstbewusste Partei ist im Zeitraffer zum bloßen Kanzlerverein degeneriert. Dies war sie selbst zu Zeiten Helmut Schmidts nie gewesen. Dieselben Aktivisten, die dem damaligen Amtsinhaber zusetzten, wirken heute ausgebrannt. "Kaum jemand regt sich noch über die Ungerechtigkeiten dieser Welt auf, prangert Ausbeutung und Unterdrückung an oder ruft nach Alternativen zum Bestehenden; es ringen keine Flügel mehr leidenschaftlich um den politischen Kurs der Partei, und selbst die offiziell ausgerufene Programmdebatte ist auf allen Ebenen der SPD ohne Resonanz geblieben. Alles, was die Sozialdemokratie über Jahrzehnte charakterisiert hat, was oft ein wenig schrill, überdreht und enervierend, aber eben auch markant, eigensinnig, ernsthaft und tragend war, ist verschwunden."
Erinnerungen, Erzählungen - und vor allem Sinn
Walters Feststellungen klingen resignativ, doch wird man ihnen kaum widersprechen können. Allein, es bleibt die Frage, ob die innere Schwäche der führenden Regierungspartei tatsächlich die Hauptursache für die derzeit ungewissen Wiederwahlchancen der Koalition bedeutet. Der Autor selbst ist sich da nicht sicher, schließlich kennt er die veränderten Wettbewerbsbedingungen der Mediendemokratie nur zu gut. Sie belohnen eher den pragmatisch-populistischen Regierungsstil als den langen Atem der Programmdebatte. Franz Walters Urteil ist also, wie er zwischen den Zeilen selbst zugibt, ein bisschen ungerecht. Man braucht sich ja nur in der Bundesrepublik umzusehen, um festzustellen, dass die SPD mit diesem Problem nicht allein steht. Die großen Botschaften, aus denen die Volksparteien ihr einstiges Sendungsbewusstsein bezogen, sind im nachideologischen Zeitalter passé. Nichts wäre allerdings falscher, als Walters Leitbild einer autonomen Organisation mit eigenen Ansprüchen, Maßstäben und Zukunftvisionen als Anachronismus abzutun.
Auch wenn sich Parteien von den Gründen, die zu ihrer Entstehung geführt haben, emanzipieren, leben sie doch zugleich von "Erinnerungen, Traditionen, Erzählungen, Dogmen, Leidenserfahrungen, von einer großen Sinnperspektive, die über das je Gegenwärtige hinausreicht". Der Historiker Walter mahnt uns, diese Perspektive nicht ganz aus dem Auge zu verlieren. Damit grenzt er sich von einem falsch verstandenen Modernisierungsglauben ab, der in den Parteien nur noch strategische Akteure sieht. In der Politikwissenschaft herrscht diese seltsame Sichtweise schon seit langem vor; sie scheint sich auch unter den professionellen Wahlkämpfern im Willy-Brandt-Haus durchzusetzen. Dass Franz Walters Kritik dort - wenige Monate vor der Bundestagswahl - auf Widerspruch stoßen wird, ist leicht vorauszusehen. So gesehen kommt das Buch zur rechten Zeit.