Von Wachstum und Wohlstand
Wo genau liegt die Wegscheide des Kapitalismus? Und welche Alternativen gibt es? Seitdem ich unverhofft als Sachverständige in die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ katapultiert wurde, stelle ich mir zunehmend diese Frage. Es scheint unbenommen, dass der Kapitalismus mit seinem Raubbau an den eigenen Lebensgrundlagen, der Ausbeutung weiter Teile von Natur und Menschen in Entwicklungsländern, dem Konsum von endlosen Billigwaren und der Herausbildung einer kleinen Kaste von Topverdienern inmitten von stagnierendem materiellen Wohlstand sich zumindest in einer Sinnkrise, wenn nicht sogar in einer Funktionskrise befindet. Wobei Krise das falsche Wort ist, wie Meinhard Miegel, Wachstumskritiker auf Seiten der Union, nicht müde wird zu betonen. Krisen führten zur Umkehr. Für den Kapitalismus gebe es jedoch keine Rückkehr.
Aber was genau ist es dann? Die Themenwahl im Bericht der Enquete-Kommission, der am 15. April 2013 verabschiedet wird, verweist auf die Fragen, die dem Parlament wichtig sind. Der Bericht der Kommission konzentriert sich auf den Zustand unseres Gemeinwesens und nicht auf die Befindlichkeiten der Einzelnen. Er beschäftigt sich neben der Auswahl angemessener Indikatoren, die zusätzlich zum Bruttosozialprodukt systematisch berücksichtigt werden sollen, mit Schlüsselthemen nachhaltigen Wirtschaftens. Das umfasst die Regulierung der Finanzmärkte, die Entkoppelung von Ressourcenverbrauch und Produktion sowie nachhaltiges Arbeiten und Konsumieren.
Die Frage nach geeigneten Indikatoren war zwischen den Parteien heiß umstritten. Sie lenkt jedoch vom eigentlichen Thema ab. Auch noch so sorgfältig definierte Indikatoren werden dem Bruttosozialprodukt nicht den Rang ablaufen. Vielmehr brauchen wir einen Satz unterschiedlicher Indikatoren, die das Richtige messen. Bei den jetzt ausgewählten ist das der Fall: Einkommens- und Vermögensverteilung, Bildung, Gesundheit, Artenvielfalt und Treibhausgase sind fraglos Indikatoren für Nachhaltigkeit. Für mich persönlich hätte die Geschlechtergerechtigkeit zur sozialen Dimension dazugehört. Das hat die Kommission leider verpasst.
Der Bericht beschreibt durch seine Themenwahl indirekt, was passiert, wenn in Marktwirtschaften die impliziten Kosten von Risiken und Produktionsverfahren nicht berücksichtigt werden: Finanzmarktakteure verlieren die Selbstkontrolle, Ressourcen werden über Gebühr verbraucht und Arbeitnehmer organisieren ihre Ausbeutung selbst. Das alles, um im Wettbewerb bestehen zu können und Marktnischen auszunutzen. Die Folgen davon haben wir jetzt sowohl beim Klimawandel als auch in der Finanzkrise auszubaden. Damit bekommt der Gesamtbericht unterschwellig eine kritische Botschaft, die nicht allen gefällt. Die Sachverständigen der Koalitionsfraktionen, insbesondere die Professoren der Ökonomie, haben sich dementsprechend immer wieder gegen jede Empfehlung gewehrt, die Marktmechanismen einschränken könnte.
Für wegweisende Gedanken, die über das Tagesgeschäft hinausgehen, muss man sich in dem 1000-seitigen Werk auf Spurensuche begeben. Meine persönlichen Highlights sind: In Zukunft gehört zur Wohlstandsmessung auch die Einkommens- und Vermögensverteilung. Darin ist die Aussage enthalten, dass die stets zunehmende Ungleichheit den Wohlstand der Republik bedroht. Das sollten zukünftige Regierungen ernst nehmen. Auch die „Hinweislampe“ zur „nicht-marktvermittelten Produktion“ hat ihren eigenen innovativen Reiz, wenngleich die Kommission nicht wirklich weiß, wie man sie interpretieren soll. Im Kapitel über Lebensstile, Konsum und Arbeit finden sich ein paar Schätze: zum Beispiel, dass nachhaltiger Konsum von öffentlicher Infrastruktur abhängt; und dass Lebensqualität viel mit einer gerechten Verteilung von Arbeits- und Familienzeiten zwischen Männern und Frauen zu tun hat.
Der wesentliche Vorteil der Enquete-Kommission gegenüber anderen Initiativen dieser Art ist jedoch, dass der Bericht nicht allein auf einer Gruppe Sachverständiger oder subjektiven Einschätzungen beruht, sondern politisch erarbeitet wurde. In manchen Schlüsselfragen von Wachstum und Wohlstand gibt es deutlich unterschiedliche Positionen, in anderen einen großen Konsens. Das merkt man jedoch erst, wenn man in mühevoller Kleinarbeit versucht, mit vielen Personen unterschiedlicher politischer Herkunft an einem Dokument zu schreiben.