Vor Tische las man’s anders: Die Missverständnisse der frühen Jahre



Als wir im Oktober 1999 dem großen Hauptstadt-Medienpublikum das erste Heft unserer neuen politischen Zeitschrift vorstellten, wurde es gelesen wie eine Regierungserklärung. Was würden diese jungen Leute machen, wenn sie jetzt zu bestimmen hätten? Wie lautet das Programm, was steht auf der Agenda, wie viel grundstürzend Neues haben sie zu bieten? Der Maßstab waren die Inszenierungen unserer Achtundsechziger-Vorgängergeneration. Konnten wir lauter sein, schriller, tabubrecherischer, radikaler? Nein. An diesem Anfang mussten wir schon mal versagen. Der Spiegel schwieg vornehm, Zeit und FAZ waren sich einig im Totalverriss: Von wegen „Generation Berlin“ – brav, spießig, Berliner Mief stand auf den Etiketten!

Danach konnte alles nur besser werden. Wir sind noch da. Als Ort von Debatten, die uns weiter gebracht haben. Die dieses unwahrscheinliche Zeitschriftenprojekt angefangen haben, waren übrigens: Kurt Bodewig, Sebastian Edathy, Hubertus Heil, Christian Lange, Birgit Roth, Michael Roth, Carsten Schneider, Karsten Schönfeld, Ute Vogt und der Verfasser dieser Zeilen als Herausgeber. Für die Gestaltung zeichnete sich damals Walther Weiss verantwortlich, Layout: Lorenz Obenhaupt, Redaktionsassistenz: Kai Mühlstädt. Und das Medienecho auf die Berliner Republik hörte sich so an:

Selbst ernannte Avantgarde
Im Oktober wird in der Hauptstadt eine neue Zeitschrift mit dem programmatischen Titel Berliner Republik erscheinen. Herausgeber dieses als „Platz der Selbstverständigung“ einer „neuen politischen Generation“ angekündigten überparteilichen Forums ist eine Gruppe von zehn jüngeren – das heißt unter 40-jährigen – sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten. Emphatisch kündigen die Nachwuchs-MdBs eine Art Kulturrevolution gegen die „staatstragenden Yesterday Heroes der 68er“ an. Es werde, heißt es im Werbetext für die neue Zeitschrift, jetzt „endlich eine jüngere progressive Generation erkennbar, die erst von Berlin aus beginnt, wirksam zu werden“.

Der Tonfall, in dem sich die SPD-„Youngsters“ bemerkbar zu machen versuchen, ist dem aufrührerischen Duktus der 68er-Revolte entlehnt. Doch die Stoßrichtung ihres Aufbegehrens steht diesem rhetorischen Gestus diametral entgegen. Die selbst ernannte Avantgarde möchte Schluss machen mit dem Utopismus der alten Linken; sie wendet sich gegen den subversiven Grundimpetus radikalen Kritisierens bestehender Verhältnisse, der seit der 68er-Revolte in der bundesrepublikanischen Gesellschaft vorherrschend geworden sei. Sie stößt sich an einem übertriebenen Individualismus und einem exzessiven Anspruchsdenken, das sie für die Frucht dieses rebellischen Geistes hält. Ihre Helden sind Revolteure gegen das Prinzip der Revolte. Sie protestieren gegen einen ritualisierten Nonkonformismus und fordern vehement den Übergang in eine ausgewogene Normalität.

Richard Herzinger, in: Die Zeit, 23. September 1999

 

 

Ruft und zeigt!
Graphisch erinnert sie an Tempo, das längst eingestellte Kultheft der achtziger Jahre. Das schwarz-weiße Layout der SPD-Youngster ist bescheidener, aber Schluss-Symbol eines jeden der dreißig Texte ist, wie einst bei Tempo, ein Strichmännchen. Auf Seite 33 ist es ganz groß zu sehen: Es ruft und zeigt. ... In der Berliner Republik liest sich jeder Text gut und bringt Neues.

Wulf Schmiese, in: Die Welt, 4. Oktober 1999

Viel Selbstironie
Im Startheft greifen die Autoren bisweilen mit viel Selbstironie die Frage nach dem politischen Selbstverständnis der Generation Berlin auf, entwerfendas Profil für den idealen Parteivorsitzenden und beschreiben ihre ersten Versuche als Neuankömmlinge im Berliner Nachtleben. Der Politologe Franz Walter streitet der jetzigen SPD-Führungsriege ab, wahre 68er zu sein. Seine These: Die politische Sozialisation der SPD-Enkel-Generation sei wegen ihres Alters nämlich viel früher erfolgt, und zwar in der Halbstarken-Kultur Ende der 50er Jahre.

dpa, 5. Oktober 1999

Ganz am Anfang
Als sich das Restaurant des Fernsehturms nach der Vorstellung der Zeitschrift einmal um sich selbst gedreht hatte, waren die Zuhörer genauso schlau wie vorher. Klar war nur eines: Die Post-68er-Generation der SPD steht mit ihrem Versuch, sich ein Profil zu schaffen, noch ganz am Anfang. „Wir wollen zeigen, was der politische Führungsnachwuchs der SPD denkt“, sagte Verleger Frank Suplie vom Vorwärts-Verlag. Das erste Durchblättern des Heftes offenbart vor allem eins: der SPD-Nachwuchs denkt wohlwollend über Kanzler Gerhard Schröder, während der letzte Rote Oskar Lafontaine gar nicht gut wegkommt.
AFP, 5. Oktober 1999

Harte Ware
Die Berliner Republik, die mit einer Startauflage von 5000 Exemplaren startet, spannt ihr Themenspektrum weit. Neben einer ganzen Reihe von Berlin-Texten geht es um harte politische Ware wie Steuern und Rente, mehrere Autoren sind auf der Suche nach neuer Mitte und Drittem Weg. Eine schlichte, verdienstvolle Seite listet die Juso-Bundesvorstände von 1996 bis 1980 auf. Wir finden die Namen eines Bundeskanzlers (Schröder), von drei Bundesministern (Scharping, Eichel, Wieczorek-Zeul), eines gestürzten Bundesgeschäftsführers (Schreiner). Die Überschrift lautet: „Yesterday Heroes“.
Tissy Bruns, in: Der Tagesspiegel, 6. Oktober 1999

Die Mitte
Die Leute, die jetzt die Berliner Republik herausgeben, sehen denen, die die Generation Berlin ausmachen sollen, recht ähnlich. Es sind zehn junge, zwischen 23 und 43 Jahre alte Bundestagsabgeordnete der SPD, sie bekennen sich zu einem „offenen, undogmatischen Stil“, sie räumen ein, dass ihnen ein Programm fehlt – „daran wird zu arbeiten sein“ –, und richten ihre Zeitschrift an jüngere Leser, „die trotz starker beruflicher Beanspruchung“ noch erreichbar sind, wenn auch nur für „ein zeitgemäß strukturiertes Leseangebot“. Es geht um die Mitte der Gesellschaft, sie soll so stark werden, dass auch die Ränder ihren Vorteil davon haben.
Stephan Speicher, in: Berliner Zeitung, 6. Oktober 1999

SPD-Studenten
Eigentlich hatten Bartels und seine Mitstreiter die erste Nummer auf dem Dach des Reichstags präsentieren wollen, der Symbolik wegen, wie er sagt. Aber dort gab es wohl Bedenken. Denn trotz vieler Gastautoren ist die Berliner Republik doch eine Sache der SPD. Davon sieht man indes nicht viel. Ein Verbandsblättchen mit Handschüttelfotos und abgelegten Reden entspräche nicht dem Anspruch der neuen Generation. Die erste Nummer hat grafisch durchaus den Standard einer gehobenen Studentenzeitung.
Berliner Seiten in der FAZ, 6. Oktober 1999

Nicht kritisierbar
Sich im Selbstgefühl der eigenen Möglichkeiten zu ergehen, ohne eine einzige davon zu benennen, scheint die SPD-Jugend hier für ein politisches Programm zu halten. ... Einerseits will sie also schon Generation im mehr als biologischen Sinne sein. Andererseits sucht sie durchaus noch nach dem, was sie dazu erst machen könnte: Linie, Prägung, Ton. Beides, die Suche und das Sein, lässt sich vereinbaren: Man findet das Sein in der Suche, genießt an den Möglichkeiten gerade, dass sie noch nicht Wirklichkeit geworden und darum auch nicht kritisierbar sind. Daher wohl die Attraktionskraft von meistverwendeten Worten wie „neu“, „anders“, „Mitte“, „Zukunft“, „Dritter Weg“.
Jürgen Kaube, in: FAZ, 6. Oktober 1999

Dienst
Das Blättchen könnte der entstehenden Republik gleichen Namens einen Dienst erweisen.

Rainer Jung, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 15. Oktober 1999

Weimar
Die Titellettern erinnern den Leser eher an die Weimarer Republik – wenngleich es damals bereits das Bauhaus als progressive Designschmiede gab – aber nicht an eine dynamische Berliner Republik. Gewöhnungsbedürftig für ein Magazin ist der sparsame, ja spartanische Gebrauch von Farbe, der aber wiederum bei dem hier geübten sorgfältigen Einsatz für große Aufmerksamkeit sorgt. Ansonsten herrschen optische Schwarz-Weiß-Malerei und changierende Grautöne vor.
Roman Maruhn, in: e-politik.de, 17. April 2000

Lüge
Berliner Republik ist der Titel eines Heftchens, das von irgendwelchen sich dynamisch dünkenden Sozialdemokraten – tatsächlich, so was gibt’s wieder – in ihrer wohl etwas zu reichlich bemessenen Freizeit zusammengebosselt wird. Sein Herausgeber sieht aus wie ein Matze-Mattusek-Verschnitt, ist SPD-Bundestagsabgeordneter und heißt Hans-Peter Bartels. Im Editorial der Ausgabe 1/2000 schreibt er: „Vor elf Jahren hieß dieses Land Bundesrepublik Deutschland oder DDR. Wer Deutschland sagte, machte sich verdächtig, entweder einen bundesdeutschen Alleinvertretungsanspruch für alle Deutschen zu erheben oder gar den Frieden durch Wiedervereinigungsphantasien gefährden zu wollen. Im Osten sprach man, teilungskorrekt, von der BRD, West-Berlin und der Deutschen Demokratischen Republik, manchmal auch nur von der Republik – der manche sich durch Republikflucht zu entziehen suchten. Heute heißt das alles – und es richtet sich gegen niemanden – Deutschland.“ Zum Wahrheitsgehalt der letzten Parenthese befrage man nur einmal einen Bewohner Belgrads. Allerspätestens dann weiß man: Figuren wie der Editorial-Verfasser der Berliner Republik sehen nicht nur unglaublich dreist aus, sie lügen auch genauso.
Christian Schmidt, in: konkret, Mai 2000

Kurs halten
Wie sich die Zeitschrift entwickeln wird, vermag man noch nicht zu sagen. Wenn die Berliner Republik aber ihr Niveau und ihren Kurs hält, wird sie sich etablieren können.
Jacques Schuster, in: Die Welt, 13. Mai 2000

In der Arena
Berliner Republik – der Name ist Programm. Von den gemütlichen Tagen am Rhein zwischen „Langem Eugen“ und „Tulpenfeld“ grenzt man sich ab, zunächst allerdings mehr in Stil und Auftreten, denn der bewährte Rahmen bundesdeutscher Kontinuität wird nicht gesprengt. Dem Anspruch, etwas Neues auszuprobieren, wird die Berliner Republik in einem Punkt mehr als gerecht. Statt sich in Sitzungssälen des Reichstags oder der Kellerbar der Parlamentarischen Gesellschaft zu verkriechen, sucht man die Öffentlichkeit. So wird eine eigene, vierteljährlich erscheinende Zeitschrift gleichen Namens publiziert. ...

Hervorstechendes Merkmal der in der Berliner Republik zusammengeschlossenen Abgeordneten ist ..., dass sie sich der starren politischen Festlegung entziehen. Sie suchen gerade in der Wirtschafts- und Sozialpolitik – dem traditionellen Tummelplatz sozialdemokratischer Prinzipienreiter – nach pragmatischen Konzepten. Ideologie ist verpönt. ... Ob „junge Wilde“ oder „Youngster“: Die Medien sind für die nach vorne drängenden Jüngeren mit Etiketten schnell bei der Hand. In der Zirkusarena der deutschen Politik mit ihren auf Beachtung und Schlagzeilen erpichten Artisten sind solche Schablonen für Neulinge nützlich. Die Mitglieder der Berliner Republik haben sich selbst ein solches Etikett gewählt und bedienen sich dessen durchaus spielerisch.
Eric Gujer, in: Neue Zürcher Zeitung, 29. April 2000

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