Vorfahrt für Arbeit! Aber für welche?
Der Begriff der „Wissensgesellschaft“ hat sich in der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion durchgesetzt. Unklar ist jedoch, wie umfangreich diese Wissensgesellschaft sein wird. Und im Vergleich zum gerade im jüngsten Bundestagswahlkampf häufig propagierten Slogan „Vorfahrt für Arbeit“ findet die Kategorie des Wissens in Diskussionen um die Zukunft des Arbeitsmarktes weitaus weniger Verwendung. „Vorfahrt für Arbeit“ – dieses Motto suggeriert allein, dass man den Umfang der Arbeit in fortgeschrittenen Gesellschaften durch politische Maßnahmen ausweiten könne. So kündigte etwa der bayerische Ministerpräsident Stoiber an, die Arbeitslosigkeit in Deutschland drastisch senken zu wollen. Er orientiert sich dabei aber an herkömmlichen Erfahrungen, die auf fragwürdigen Annahmen über die Welt der Arbeit basieren.
Während die tief greifenden Änderungen in der Struktur der modernen Wirtschaft in der Öffentlichkeit noch immer nicht erkannt werden, beschäftigen sich die akademischen Experten seit geraumer Zeit mit folgendem Problem: Es fehlt nicht nur an Beschäftigungssicherheit, sondern generell geht der Umfang der Arbeit zurück. Diese Entwicklung verweist auf einen permanenten Wandel in der Beschäftigungsstruktur. Die Frage nach der Zukunft der Arbeit kann aber nicht damit beantwortet werden, dass wir Zeugen eines beginnenden Abschieds von der Arbeit seien. Wir beobachten vielmehr die Entwicklung „säkularer“ Arbeitslosigkeit, nämlich einer Arbeitslosigkeit, die weder konjunkturell noch strukturell bedingt ist.
Die herkömmliche Definition konjunktureller und struktureller Arbeitslosigkeit verweist auf zeitlich unterschiedliche Ungleichgewichte des Arbeitsmarktes. Diese ökonomisch oder auch demografisch bedingten Ungleichgewichte, so wird üblicherweise argumentiert, würden schließlich durch einen Ausgleich zwischen Nachfrage und Angebot von Arbeit verschwinden. Der neoklassische Wirtschaftswissenschaftler sieht im Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt, ob kurz- oder langfristig, aus-schließlich eine Reaktion auf die starre Lohn- und Sozialabgabenstruktur dieses Marktes. In Wirklichkeit kann völlige Lohnflexibilität das Problem der Arbeitslosigkeit nur bei sehr enger, formaler Auslegung lösen. Arbeit ist selbst in der modernen Gesellschaft, in der sie oft auf den bloßen Broterwerb reduziert wird, mehr als ein die Existenz sicherndes Bedürfnis.
Die Selbsterzeugung des Menschen
Wie steht es also um die „säkulare“ Arbeitslosigkeit? Der gesellschaftliche Stellenwert und der Umfang der Arbeit gehören eigentlich seit Jahrhunderten zu den Interessenschwerpunkten der Sozialwissenschaften. Arbeit, so war man sich lange mit Marx einig, geht einher mit der Selbsterzeugung des Menschen. Im 18. und 19. Jahrhundert war die Frage nach der Zukunft der Arbeit für die Sozialwissenschaftler identisch mit Forderungen nach einer Reduktion der Arbeitszeit sowie einer größeren Autonomie und interessanteren Arbeitsaufgaben. Die Schlussfolgerung, das Emanzipationspotenzial der Industrialisierung im Sinne einer Reduzierung der Gesamtarbeitszeit sei ausgeschöpft, wird inzwischen allerdings kaum auf Widerspruch stoßen.
Noch im vergangenen Jahrhundert waren viele Sozialwissenschaftler der Ansicht, dass der Arbeiter seine Selbstverwirklichung eher außerhalb der Arbeitswelt durchsetzen könne. Diese Logik folgte dem herrschenden Verständnis von den (inhärenten) Zwängen der modernen Produktionsbedingungen und den Folgen der Konzentration der Eigentumsrechte. Sie fand ihren Ausdruck in der Prämisse, dass die Arbeit eigentlich nur ein Faktor unter gleichartigen, disponiblen Produktionsfaktoren sein könne.
Wie knapp wird Arbeit in Zukunft sein?
Makroökonomisch ist der Arbeitsmarkt weiterhin ein ungelöstes Rätsel. Die Transformation der modernen Wirtschaft in eine wissensbasierte Ökonomie erleichtert des Rätsels Lösung keineswegs. Wie knapp wird Arbeit in Zukunft sein? Werden ökonomisches Wachstum und Vollbeschäftigung, aber auch die Ertragskraft von Unternehmen in Zukunft in einem sehr viel weniger engen Verhältnis zueinander stehen, als dies in den letzten Jahrzehnten der Fall war? Diese Frage ist in letzter Zeit schon häufiger diskutiert worden, meist in der Hoffnung, die Arbeitslosigkeit gezielt bekämpfen und überwinden zu können. Trotz eines neuen beschäftigungspolitischen Pessimismus angesichts der hohen oder sogar wachsenden Arbeitslosenraten in vielen OECD-Ländern gibt es immer wieder optimistische Stimmen. Nicht nur Politiker werden nicht müde zu betonen, dass Produktivitätsgewinne sich nicht einfach in Luft auflösen, sondern aufgrund des damit gekoppelten Zuwachses der Kaufkraft an anderer Stelle die Nachfrage erhöhen und damit letztlich Arbeitsplätze schaffen. Wir müssen fragen, ob diese zuversichtliche These per Saldo auch für den Gesamtarbeitsmarkt von Wissensgesellschaften gilt.
Die säkulare Beschäftigungsentwicklung in wissensbasierten Ökonomien lässt sich verallgemeinernd wie folgt unterscheiden: erstens Schaffung von wissensfundierten (und in der Regel hoch bezahlten) Tätigkeiten; zweitens Schaffung von (in der Regel schlecht bezahlten) Tätigkeiten mit geringen Qualifikationen und beruflichen Anforderungen; drittens das Verschwinden von Tätigkeiten und damit die Vernichtung von Arbeitsplätzen. Offen bleibt zunächst, welcher „Mechanismus“ für diese Veränderungen am Arbeitsmarkt verantwortlich ist, auch wenn die meisten Beobachter die moderne Technik und Wissenschaft als Motor dieser langfristigen Entwicklungen ausmachen. Letztlich entscheidet der Ort der Beschäftigung beziehungsweise der Beschäftigungssektor darüber, welcher der drei genannten Trends dominiert.
Diese Veränderungen verweisen auf die Tatsache, dass besonders in der industriellen Produktion (aber keineswegs nur dort) das Beschäftigungsvolumen keine Folge des Produktionsergebnisses mehr ist. Folglich spielen die Arbeitskosten im „Kostenvergleich“ und als Wettbewerbsfaktor eine immer geringere Rolle. Im herkömmlichen Verständnis manifestiert sich in dieser Entwicklung vor allem die zunehmende Produktivität des Herstellungssektors. In den Wirtschaftssystemen der Industrieländer nimmt der Produktionsausstoß des Herstellungssektors zu – bei gleichbleibender gesamtwirtschaftlicher Bedeutung dieser Sektors; während sein Anteil an der Gesamtbeschäftigtenzahl ständig zurückgeht. In der Zukunft wird der Anteil der im industriell-gewerblichen Bereich Beschäftigten wahrscheinlich nicht größer sein als der Anteil der Beschäftigten in der Landwirtschaft.
Ungleichgewichte und Dislokationen
Ein weiterer Rückgang der Zahl der Beschäftigten im Agrar- und Industriesektor wird in den entwickelten Volkswirtschaften ohnehin als selbstverständlich angesehen. Ist aber der so genannte Dienstleistungssektor in der Lage, diesen Rückgang zu kompensieren und zusätzliche Arbeitsplätze anzubieten? Ökonomen und Politiker sind wegen der wachsenden Zahl der Arbeitslosen in den Industrienationen nur dann ernsthaft alarmiert, wenn sie Zweifel an der langfristigen Selbstheilungskraft des Marktmechanismus haben und unter Umständen mit Hilfe einer interventionistischen Arbeitsmarktpolitik das Vollbeschäftigungsniveau wieder herstellen wollen. Mit anderen Worten: Man vertraut nicht mehr wie in der Vergangenheit ohne Weiteres darauf, dass eine höhere Nachfrage und in ihrem Gefolge Produktionszuwächse zu neuen Beschäftigungschancen führen. Denn selbst aus einer rein ökonomischen Perspektive ist inzwischen anerkannt, dass der Markt im Allgemeinen und der Arbeitsmarkt im Besonderen keineswegs vollkommene Systeme sind und dass es kaum hinreichende wirtschaftspolitische Maßnahmen gibt, die dem sich selbst regulierenden Markt entsprechende Hilfestellung bieten könnten. Es ist deshalb denkbar, dass die schon seit Langem beobachteten „lags“ und Ungleichgewichte des Arbeitsmarktes mehr als nur eine vorübergehende Erscheinung sind und nicht nur auf kurzfristige Konjunkturzyklen zurückgehen. Es könnte sich hier vielmehr um langfristige Dislokationen des Arbeitsmarktes handeln, die sich unter Umständen sogar noch verschärfen.
Angebot oder Nachfrage?
In der Ökonomie der Wissensgesellschaft kommt es nicht nur zu einer quantitativen Umstrukturierung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit, sondern auch zu einer signifikanten Transformation der Arbeitsanforderungen, der typischen Berufsbilder, der Arbeitsinhalte, der sozialen Organisation wirtschaftlicher Wertschöpfung, der beruflichen Fertigkeiten, des unterschiedlichen Tempos, mit dem diese Fertigkeiten obsolet werden, und der Notwendigkeit, ständig neue Fähigkeiten zu erlernen. In den bisherigen Analysen dieser Fragen geht man allerdings davon aus, dass der technische Wandel als Motor der Veränderung der Arbeitsformen und -inhalte fungiert. Die Frage lautet, ob als Reaktion auf den technischen Wandel eine Ab- beziehungsweise Zunahme der beruflichen Qualifikationen zu erwarten ist.
Aber welche Wirkung des technischen Wandels auf die Arbeit man auch immer postuliert – die favorisierte „kausale“ Logik geht mit großer Selbstverständlichkeit davon aus, dass sich die zu erlernenden beruflichen Fähigkeiten und Kompetenzen vor allem an die veränderte Technologie anpassen müssen. Sofern es um das Problem der Arbeitsanforderungen geht, lässt sich die These von den wissenschaftlich-technischen Entwicklungen, die die Produktionsbedingungen verändern, auch in den Begriffen von Angebot und Nachfrage fassen. Man geht in der Politik sowie in den Erziehungswissenschaften und in der Ökonomie fast einmütig davon aus, es sei die Nachfrage der Arbeitswelt (nach bestimmten Fähigkeiten), die das Angebot bestimmt oder bestimmen sollte.
Wissensarbeiter schaffen Wissensarbeit
Eine ebenso ungewöhnliche wie plausible Hypothese für die wachsende Nachfrage nach Wissen und wissensbasierten Berufsqualifikationen findet sich hingegen schon in den Arbeiten Peter Druckers. Dass die in der Nachkriegszeit beobachtete steigende Nachfrage nach höher qualifizierten Arbeitskräften eine Funktion der gestiegenen Anforderung und Komplexität der Arbeitswelt sei, hält Drucker für einen Mythos. Er führt diese Veränderungen vielmehr auf die erheblich erweiterte Lebensarbeitszeit sowie die umfassende Erweiterung der Bildung und Ausbildung der Menschen zurück. Die graduelle Transformation der modernen Industriegesellschaft in eine Wissensgesellschaft ist daher nicht etwa eine Folge der gestiegenen Nachfrage nach gut ausgebildeten Arbeitskräften, sondern Ergebnis des gestiegenen und bereits vorhandenen Angebots gut ausgebildeter Arbeitskräfte, die auf den Arbeitsmarkt drängen.
In den Vereinigten Staaten zum Beispiel stieg die Zahl der Universitätsabsolventen unter den Beschäftigten in den achtziger Jahren um 64 Prozent auf 25,5 Millionen. Und die Zahl derjenigen, die eine Universität oder ein College besuchten, es aber ohne Abschluss verließen, stieg im gleichen Zeitraum um 58 Prozent auf 20,8 Millionen. Druckers These lautet deshalb: Es ist das Angebot von Wissensarbeitern, das die Arbeit verändert. Mit anderen Worten, Drucker erklärt die Transformation von einer industriegesellschaftlichen Arbeitswelt hin zu einer wissensbasierten als einen angebotsinduzierten Prozess. Personen mit einer längeren und qualifizierteren Ausbildung erwarten, dass man ihnen Berufspositionen anbietet, in denen sie von ihren erworbenen Fähigkeiten Gebrauch machen können. Und damit kehrt sich die herkömmlich unterstellte Kausalität um: Die Wissensarbeit wird von Wissensarbeitern erst fabriziert. Oder, wie Drucker es ausdrückt, lange Jahre der Ausbildung machen aus dem Menschen einen nur noch für Wissensarbeit geeigneten – was noch nicht vollends die Frage beantwortet, was den Wissensarbeiter dazu gebracht hat, sich mehr Ausbildung und Bildung anzueignen, als vielleicht nachgefragt wird. Aus dieser möglicherweise historisch und gesellschaftlich einmaligen Konstellation der Nachkriegszeit in den Vereinigten Staaten kann man allerdings nicht unbedingt schließen, dass es auch weiterhin vor allem das Angebot von „Wissensarbeitern“ ist, das die Welt der Arbeit verändert. In Zukunft wird diese Entwicklung sicherlich zu einem sich selbst verstärkenden Prozess, in dem auch andere Faktoren eine Rolle spielen.
Galbraith versus Drucker
John Kenneth Galbraith lehnt in seiner Studie The New Industrial State Druckers Argumentationskette rundweg ab und vermutet, sie sei Ausdruck eines Wunschdenkens von Lehrern und Erziehern. Lehrer mögen zwar einen gewissen Einfluss ausüben, aber die eigentlich entscheidende Rolle spiele das Wirtschaftssystem. Das Erziehungswesen sei allenfalls in der Lage, zu einem geringen Grad auf die Bedürfnisse der Ökonomie zu reagieren. Galbraith ist der festen Überzeugung, dass die von Wirtschaftswissenschaftlern (sowie von Arbeitgebern, Lehrenden, Politikern und für den Erziehungsbereich zuständigen Entscheidungsträgern) befürwortete nachfrageorientierte Erklärung fundamentaler Änderungen auf dem Arbeitsmarkt eine Reaktion auf den Wandel der Arbeitswelt ist und somit in erster Linie diese Änderungen für die Zunahme der qualifizierten Arbeit verantwortlich sind.
Unbestreitbar hat sich in den vergangenen Jahrzehnten die technologische Ausstattung der Betriebe und Verwaltungen dramatisch verändert. So hat zum Beispiel die rasche Ausweitung der Informations- und Kommunikationstechnologie den Produktionsprozess und den Dienstleistungssektor stark beeinflusst. Vielfach wird angenommen, dass die Veränderungen der Beschäftigungsstruktur in den vergangenen Jahren eine Folge des technisch-wissenschaftlichen Wandels sind. Durch die neuen Technologien erhöht sich die Nachfrage nach hochqualifizierten Arbeitskräften. Dieser nachfrageinduzierte Anstieg der Zahl von Fachkräften manifestiere sich auch, so wird weiter argumentiert, in einem wachsenden Einkommensgefälle zwischen qualifizierter und unqualifizierter Arbeit oder dem erhöhten wirtschaftlichen Ertrag einer längeren Ausbildungsdauer. Einfacher ausgedrückt: Betriebe, die mit Computern arbeiten, zahlen höhere Gehälter.
Empirisch findet Druckers These allerdings durchaus Bestätigung – zumindest in den Vereinigten Staaten, wo der Beginn dieser grundlegenden Transformation der Gesellschaft in eine Wissensgesellschaft auf die Verabschiedung der G.I. Bill of Rights durch den amerikanischen Kongress nach Ende des Zweiten Weltkriegs datiert werden kann. Drucker verweist auf die enthusiastische Zustimmung der zurückkehrenden Soldaten und die große Akzeptanz der gesetzlich verankerten Studienerleichterungen. Diese Reaktion der Soldaten auf das Gesetz sieht er als Signal für den Start in die Wissensgesellschaft Made in USA. Es ist somit nicht so sehr die Nachfrage nach gut ausgebildeten Beschäftigten, sondern das Angebot, das die Welt der Arbeit zunehmend wissensintensiver werden lässt.
Was das Produktivitätsparadox besagt
Da die These von den Besonderheiten des Angebots für die Welt der Arbeit und den Arbeitsmarkt in der Wissensgesellschaft in den Sozialwissenschaften bisher eine eher marginale Rolle spielte, gibt es kaum empirische Untersuchungen, die dieser Frage systematisch nachgegangen sind. In der empirischen Literatur zu dem so genannten Produktivitätsparadoxon lassen sich jedoch Ergebnisse finden, die die These untermauern. Das Produktivitätsparadox verweist auf die Tatsache, dass sich in den gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsstatistiken der Vereinigten Staaten kein schlüssiger Nachweis dafür finden lässt, dass die außerordentlich hohen Investitionen der Unternehmen in Kommunikations- und Informationstechnologien in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten zu einem messbaren Produktivitätszuwachs geführt hätten. Dieses Paradox besagt also nichts anderes, als dass sich trotz hoher Erwartungen und riesiger Investitionen kein zusätzlicher Anstieg der Produktivität nachweisen lässt.
Wie Wissen Fortschritt produziert
Im Mittelpunkt einer langfristigen Betrachtung des Produktivitätsparadoxes, aber auch der Grundlagen nachhaltigen wirtschaftlichen Wachstums in der modernen Gesellschaft, sollte demnach die Frage nach den Voraussetzungen der „Produktion von technischem Fortschritt“ beziehungsweise der Fabrikation und der Produktivität von wissensintensiver Arbeit stehen – und nicht die Frage nach den Folgen technisch-wissenschaftlichen Wandels, dem sich Bildung und Ausbildung dann anpassen müssen. Eine realistische Bildungspolitik sollte in diesem Sinn nicht von der konventionellen Überzeugung geprägt sein, dass der wachsende Bedarf an qualifizierter Arbeit oder an qualifizierten Tätigkeiten eine Funktion der zunehmenden Spezialisierung und Arbeitsteilung oder der zunehmenden Komplexität der Wirtschaft sei. Vielmehr sollte sie davon ausgehen, dass die Transformation des Wirtschaftssystems in eine wissensbasierte Ökonomie nicht zuletzt eine Folge des qualifizierteren Arbeitsangebots und damit der Verbesserung von Bildung und Ausbildung ist.
Wer kann schon angesichts wachsender Unsicherheit über zukünftige Erfordernisse voraussagen, wie qualifizierte Arbeit in zehn oder zwanzig Jahren aussehen wird? Wir wissen nur, dass die Zukunft von uns gemacht wird – und gerade deshalb unsicher ist. Es sind demnach nicht so sehr die durch die technische Entwicklung bedingten Veränderungen im Niveau der erforderlichen Arbeitsqualifikationen, auf die man sein Augenmerk richten muss, sondern es kommt vielmehr auf das an, was technische Veränderungen erst möglich macht. In der modernen Ökonomie ist Wissen der grundlegende „Rohstoff“, so wie Lernen und die Produktion von Wissen die wichtigsten Prozesse der Wissensgesellschaft sind. Die Politik muss dieser Entwicklung Rechnung tragen.
Arbeit erfinden, Arbeit besitzen
Das Produktivitätsparadox ist daher besser zu verstehen, wenn drei empirische Tatsachen anerkannt werden: Erstens, hochqualifizierte Arbeitskräfte gab es schon vor der verbreiteten Einführung und Anwendung der Informationstechnologie. Zweitens, der wachsende Anteil von hochqualifizierten Arbeitskräften an der Erwerbsbevölkerung und die wachsende Bedeutung dieser Hochqualifizierten sind nicht Ausdruck der Nachfrage nach diesen Arbeitskräften, sondern Ergebnis einer gesellschaftlich bedingten Vermehrung solcher entsprechend gut ausgebildeten Arbeitskräfte. Und drittens, die Informationstechnologie hilft den Unternehmen und der Leitung von Firmen, mit den steigenden Arbeitskosten mitzuhalten beziehungsweise sie zu kompensieren. Das Produktivitätsparadox kann somit einen Beitrag zum Verständnis dafür leisten, dass wir uns nicht mit einer technologisch induzierten Transformation von der Industriegesellschaft zur „Informationsgesellschaft“ konfrontiert sehen, sondern es mit einem sozial bedingten Übergang von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft zu tun haben. In diesem Sinn haben wir ein neues, modernes Zeitalter erreicht.
Die grundlegenden Veränderungen in der Welt der Arbeit hat, soweit ich sehen kann, am prägnantesten der amerikanische Erziehungswissenschaftler Robert Kegan herausgearbeitet. Kegan beschäftigt sich mit den kognitiven Herausforderungen der modernen Lebenswelt im Allgemeinen und der modernen Arbeitsverhältnisse im Besonderen. Er kommt zu dem Ergebnis, es gebe einen deutlichen Widerspruch zwischen den Erwartungen der heutigen Arbeitgeber und dem typischen Selbstverständnis der Arbeitnehmer. So lasse sich im Bewusstsein der Arbeitnehmer in Bezug auf ihre Arbeit und ihr soziales Umfeld ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein beobachten. Kegan fasst die wichtigsten kognitiven Eigenschaften von Individuen im intellektuellen Kontext der modernen Arbeitswelt so zusammen: Sie erfinden oder besitzen ihre Arbeit; sie sind selbstkritisch, initiieren und korrigieren Arbeitsvorgänge; sie folgen ihren eigenen Arbeitsplänen und sind unabhängig von der Agenda Anderer; sie tragen Verantwortung für ihre Arbeitsleistungen; sie bemühen sich, ihre Arbeitsrolle eigensinnig zu meistern; und sie verstehen ihre Rolle von „innen“ her als Teil der Gesamtheit der Firma oder Organisation.
Autonomie als Erfolgsbedingung
Ob und in welchem Umfang existierende Arbeitsplätze schon in der Lage sind, Arbeitnehmer mit diesen kognitiven Fähigkeiten und Anforderungen zu übernehmen, ist eine nur sehr schwer zu beurteilende Frage. Allerdings ist anzunehmen, dass solche Arbeitsverhältnisse zunehmend möglich werden, und zwar in dem Maße, in dem Unternehmen realisieren, dass Arbeitsplätze mit hoher Autonomie, Handlungschancen und Verantwortung die Bedingung für nachhaltige Unternehmenserfolge sind. Unternehmen werden sich infolgedessen gezwungen sehen, Arbeitsmöglichkeiten dieser Art bereitzustellen. Denn was in zunehmendem Maße zählt, ist die Qualität des Arbeitsangebots. Das Angebot – und nicht die Nachfrage – bestimmt, wie Arbeit und Arbeitsmarkt in Zukunft aussehen werden.