Die Illusion der guten Klimadiktatur
Unter Klimaforschern und Journalisten wächst die Ungeduld mit der Demokratie und der internationalen Diplomatie. Neu ist, dass nicht mehr nur der tiefe Graben zwischen Erkenntnis und Handeln beklagt wird, der die Moderne von Beginn an plagte. Heute wird die Demokratie selbst als Schuldige dafür ausgemacht, dass die Menschheit den Gefahren des Klimawandels nicht angemessen begegnet. Wird nach Al Gores unbequemer Wahrheit – sein Dokumentarfilm heißt An Inconvenient Truth – nun die Demokratie selbst „unpassend“? Demokratisch organisierte Gesellschaften seien zu schwerfällig, um den Klimawandel effektiv zu bekämpfen, heißt es. Diese Diagnose stützt sich auf eine Reihe von zusammenhängenden Beobachtungen:
Erstens, die relevanten wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Klimaerwärmung sind in den vergangenen Jahren sehr viel robuster geworden und kaum mehr umstritten. Die Zahl aktueller Untersuchungen wächst – einschließlich des neuen Berichts des Welt-Klimarats IPCC –, die weitaus dramatischere und länger andauernde Folgen der Erwärmung prognostizieren als bisher angenommen. Viele Wissenschaftler fragen sich, weshalb diese zuverlässigen Erkenntnisse nicht zu nachhaltigen und wirksamen Konsequenzen für das politische und alltägliche Handeln in den Gesellschaften führen.
Im Zweifel weiter für das Wachstum
Zweitens erwiesen sich die meisten Länder bislang als nicht in der Lage, ihre eigenen bescheidenen Ziele zu erfüllen. Die weltweiten Reaktionen auf die Wirtschaftskrise zeigen deutlich, dass keine Regierung die Verringerung von Wohlstandszuwächsen für ihre Bevölkerung als Königsweg zur Emissionsbekämpfung ansieht. Vielmehr zielen die wichtigsten Maßnahmen darauf, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln.
Drittens kommen in Bezug auf die globale Klimapolitik nationale Egoismen hinzu, mit denen sich gerade die größten Emittenten wie China und die Vereinigten Staaten in Verhandlungen hervortun. Weil diese Staaten sich weigern, notwendige Emissionsgrenzen zu vereinbaren, war die bisherige globale Klimapolitik nicht erfolgreich.
Führende naturwissenschaftliche Klimaforscher betonen, die Menschheit stehe an einem Scheideweg. Wenn wir ökonomisch und politisch so weitermachten wie bisher, führe dieser Weg unausweichlich in die Katastrophe. Um eine global tragfähige Lebensweise zu verwirklichen, bräuchten wir umgehend eine „große Transformation“. Aus Sicht mancher Klimaforscher und anderer Wissenschaftler gehört zum Herzstück dieser großen Transformation ein anderes Politikregime: „Wir benötigen eine autoritäre Regierungsform, um den Konsens der Wissenschaft zu Treibhausgasemissionen zu implementieren“, argumentieren die Australier David Shearman und Joseph Wayne Smith in ihrem Buch The Climate Change Challenge and the Failure of Democracy.
Der bekannte amerikanische Klimaforscher James Hansen fügt ebenso frustriert wie ungenau hinzu, beim Klimawandel funktioniere der demokratische Prozess nicht. Der mit seiner Gaia-Hypothese – die ganze Erde sei ein lebendiges System – berühmt gewordene James E. Lovelock folgert in The Vanishing Face of Gaia noch klarer: Um den Herausforderungen des Klimawandels gerecht zu werden, müssten wir die Demokratie aufgeben. Lovelock zufolge befinden wir uns in einer Art Kriegszustand mit der natürlichen Welt. Um die Welt aus ihrer Lethargie zu reißen, sei eine auf die Klimaerwärmung gemünzte „Nichts-als-Blut-Mühsal-Tränen-und-Schweiß-Rede“ dringend geboten.
Ist es tatsächlich die demokratische Verfassung in den klimapolitisch relevanten Ländern, die eine wirksame Begrenzung der Treibhausgas-Emissionen verhindert? Dafür spricht wenig. Viel mehr spricht für eine groteske Fehldiagnose – nicht was die Ursachen des Klimawandels angeht, sondern in Bezug auf die Ursachen des politischen Stillstands.
Völker, hört auf die Experten?
Bereits vor einigen Jahrzehnten machte der Ökonom und Sozialphilosoph Friedrich August von Hayek darauf aufmerksam, dass Erkenntnisfortschritte die Öffentlichkeit und manche Wissenschaftler in dem Glauben bestärkten, der Bereich unseres Unwissens vermindere sich ständig. Somit könnten wir „eine umfassende und bewusstere Lenkung aller menschlichen Tätigkeiten“ anstreben. „Und aus diesem Grunde“, so fügte Hayek hinzu, „werden die Menschen, die vom Fortschritt des Wissens berauscht sind, so oft zu Feinden der Freiheit“. Freilich wissen wir, dass seine Lesart von Freiheit als wirtschaftliche Freiheit wesentlich zur Legitimation jener kulturellen Dominanz wirtschaftlicher Ziele beigetragen hat, die der Politik die Feder führt.
In den siebziger Jahren existierte der Glauben an eine „verwissenschaftlichte Politik“, die ihre Entscheidungen nur entlang neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse ausrichten und legitimieren würde. Aus dieser Sicht schienen kritische soziale Bewegungen wie die Anti-AKW-Bewegung definitionsgemäß unwissenschaftlich zu sein, also irrational. Mangels Expertise könne die Bevölkerung nicht verstehen, wie eine hochtechnisierte Gesellschaft regiert werden muss. Es entstand die Idee einer Expertenherrschaft. Diese Legitimationsfigur von Politik, die auch mit den vergangenen Atomkatastrophen an Glaubwürdigkeit verlor, wird hier wieder aufgetischt: Folgte die Politik nur den Experten, würde sich alles richten. Nur: Welche Experten sollte die Politik denn zu Rate ziehen? Während viele Nationalökonomen vor zu schnellen Schritten warnen, entwerfen andere Autoren Modelle für eine Postwachstums-Ökonomie.
Wie wird Wissen in Politik verwandelt?
Die Frage, wie wissenschaftliches Wissen in Politik verwandelt wird, scheint viele der demokratiemüden Experten nicht zu kümmern. Die Spekulationen über die Untauglichkeit der Demokratie kommen in der Regel von Wissenschaftlern, die auf dem Gebiet der Politik- und Gesellschaftswissenschaften kaum bekannt sind. Zudem konzentriert sich die Diagnose, die Klimapolitik sei wirkungslos, vor allem auf deren Folgen, nämlich auf die Reduktion von Treibhausgasen und nicht auf die politischen Handlungsbedingungen. Damit wird ein gesellschaftspolitisches Problem auf eine technische Frage reduziert. Eine solche Interpretation der Klimaproblematik entpolitisiert also – mit dem für Klimaforscher angenehmen Nebeneffekt, dass ihre Klimaforschung politisch bevorzugt wird.
Die Kritiker der Demokratie lassen ferner eine angemessene Unterscheidung von Natur und Gesellschaft vermissen. Die Naturwissenschaft hat viele Unsicherheiten in Bezug auf die Ursachen von Naturveränderungen beseitigt. Nun erklären Wissenschaftler die Unsicherheiten auch für die gesellschaftliche Seite des Lebens für vernachlässigbar. Die Ungewissheit etwa, welche Interventionen in einer Gesellschaft welche Folgen haben, wird einfach ignoriert. Ist der politische Wille nur entschlossen genug – also autoritär formatiert – werden alle erwarteten Effekte sicher eintreten. Vertreter dieser geschichtsfreien Sichtweise finden daher oft auch umweltdeterministische Gesellschaftstheorien wie jene von Jared Diamond attraktiv. Ihm zufolge verschwinden Gesellschaften einfach, wenn ihre Lebensweise nicht nachhaltig ist.
Diese Beobachtungen unterstreichen folgende Frage: Ist die Demokratie, die Langsamkeit demokratischer Entscheidungsprozesse, die feststehende Motivstruktur der repräsentierten Menschen wirklich schuld an der scheiternden Klimapolitik? Müssten wir sie dann nicht in jeder anderen Frage globaler Reichweite für ebenso untauglich halten? Ist es auf nationaler Ebene ein Mangel der Demokratie oder ein Mangel an Demokratie, wenn umweltbewegte Menschen und Gruppen weniger Einfluss auf die Regierung haben als Expertengruppen, multinationale Konzerne und die Lobbyorganisationen der Wirtschaftsverbände? Wohnt es Demokratien inne, dass sie wirtschaftliche Ziele vor ökologische stellen (oder besser: kurzfristige vor langfristige Ziele des Wirtschaftens)? Und falls das nicht „naturgegeben“ ist, in welchem Zustand befindet sich dann eine Demokratie, der ihre Zukunft weniger wichtig ist als die Dichte an Fast-Food-Restaurants? Was ist da schiefgelaufen?
Partizipation ist den Experten suspekt
Ist es auf internationaler Ebene ein Mangel der Demokratie, wenn sich Vertreter nationaler Interessen nicht einigen können, weil jeder Wettbewerbsnachteile fürchtet? Oder ist es ein Mangel an Demokratie im Sinne einer nicht ausreichenden Repräsentanz sozialer Interessen, regionaler Bevölkerungen und politischer Bewegungen, die andere als rein nationale und primär wirtschaftliche Ziele verfolgen? Ist es nicht ein Mangel an Demokratie, wenn in entscheidenden Ländern wie China und Russland zivilgesellschaftliche Akteure keinen oder nur marginalen Einfluss auf die nationale Politik ausüben können? Oder wenn sie in einem Land wie den USA nicht gegen einen militärisch-petrochemischen Komplex ankommen?
Es ist bezeichnend, dass sich die demokratiemüden Berater der Klimapolitik vor allem an Weltmächte, den Staat und transnationale Großorganisationen wenden. Partizipativen Strategien schenken sie wenig Vertrauen. Dabei scheint die Bevölkerung in vielen Fragen der Klimapolitik weiter zu sein als ihre politischen Repräsentanten. Die Frage, wie gerade die bewussten, informierten und engagierten Teile der Bevölkerungen stärker in den politischen Willensbildungsprozess eingebunden werden können, ist die Gegenfrage zur Überlegung, wie man sich in dieser oder jener gesellschaftspolitischen Frage demokratischer „Restriktionen“ entledigen könnte.
Selbst wenn größere Teile der Bevölkerung nicht bereit sein sollten, weitergehende klimapolitische Weichenstellungen mitzutragen, müssten sich die politischen Instanzen der Willensbildung demokratischer Gesellschaften fragen, ob sie genug dafür geworben haben. Im Grunde wissen wir zu wenig darüber, wie die Bevölkerung denkt. Denn wenn Politik primär als Politik der Experten verstanden wird, hat das Wissen über Beteiligungsbereitschaft nur begrenzten Wert.
Es ist mehr als paradox, dass ausgerechnet diejenigen, die im Interesse aller das Klima schützen möchten, uns einreden wollen, dass wir dazu auf unsere demokratischen Rechte und Freiheiten verzichten müssten. Es ist Unsinn. Die „gute Diktatur“ ist eine gefährliche Illusion.