À la bonne heure - aber jetzt weiter!
In dieser Zeitschrift werden viele Veränderungswünsche zu Papier gebracht: So gut wie alles müsse deutlich besser werden. Selten erscheint auf diesen Seiten irgendein Zustand gut genug, so wie er ist. Dauernd werden politische Akteure von unseren Autorinnen und Autoren angespornt, bitte endlich dieses oder jenes zu tun. Das zeitkritische Hadern mit dem Zustand der Welt im Allgemeinen sowie der Sozialdemokratie im Besonderen ist der Daseinszweck der Berliner Republik. Und das ist, konstruktiv verstanden, auch völlig richtig so. Mit Attentismus und Affirmation wäre ja niemandem gedient. Eine progressive Zeitschrift, die nicht beständig nach Verbesserung und Erneuerung verlangen würde, hätte ihren Sinn verfehlt.
Alles richtig. Und trotzdem: Gelegentlich muss es auch mal ein Timeout geben für die ewige intellektuelle Unzufriedenheit mit dem Erreichten. Gelegentlich steht es selbst von Berufs und Habitus wegen kritischen Menschen gut zu Gesicht, den Hut zu ziehen, wenn etwas richtig ordentlich gelungen ist. Dafür besteht gerade jetzt eine prima Gelegenheit. Denn kein Zweifel, was Sigmar Gabriel und die Führung der SPD in den vergangenen drei Monaten aus dem mehr als kümmerlichen Bundestagswahlergebnis der Partei gemacht haben, hat jegliche professionelle und sonstige Hochachtung verdient.
Man mache sich nichts vor: Das sozialdemokratische Resultat vom 22. September in seinen wahrhaft beängstigenden soziologischen und demografischen Dimensionen hätte sich für die Partei unter nicht ganz so glückhaften Umständen und bei weniger beherztem Management als Einstieg in die Implosion erweisen können. Jedenfalls diese Gefahr erscheint gebannt. Unerwartet für viele Beobachter ist es Sigmar Gabriel mit seiner präzisen und zielsicheren Führung ja nicht bloß gelungen, das (wie auch immer definierte) „Schlimmste“ einstweilen abzuwenden – schon das wäre bemerkenswert genug gewesen. Vielmehr stehen die eben noch todgeweiht wankenden Sozialdemokraten am Ende des von Gabriel klug verklammerten Prozesses aus Koalitionsverhandlungen, Basisbeteiligung und Mitgliederentscheid plötzlich als die politischen Gewinner des Jahres 2013 da: geeint, selbstbewusst und erstmals seit etlichen Jahren auch wieder ausgestattet mit einem klar konturierten strategischen Zentrum. Eine unwahrscheinlichere Wiederbelebung hat die deutsche Politik lange nicht mehr erlebt.
Auch dieser bemerkenswerte historische Augenblick wird vergehen. Ein für allemal tiefenerneuern und auf die Höhe der Zeit bringen konnte Gabriels Geniestreich die SPD naturgemäß nicht. Sehr wohl aber hat er der Partei – und mit ihr dem gesamten fortschrittlichen Spektrum diesseits der Unionsparteien – dringend benötigte Zeit gekauft. Ab sofort kommt es darauf an, dass die SPD den gewonnenen Aufschub produktiv nutzt, um sich als integrationsfähige Volks- und Fortschrittspartei in der breiten Mitte der deutschen Gesellschaft neu zu verwurzeln. Die veränderte Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts verlangt dringend nach einer „durchsetzungsfähigen Sozialdemokratie“ (Colin Crouch) für unsere Zeit. Jetzt müssen Deutschlands Sozialdemokraten zeigen, dass sie aus dem 22. September und dem 14. Dezember 2013 wirkliche Lehren gezogen haben.