Vorne sein und vorne bleiben

Der kreative Sektor bildet die Speerspitze des Wandels hin zu einer Wirtschaft, die auf Wissen gründet. Einen der größten Kreativsektoren der Welt besitzt heute Großbritannien. Welche Faktoren tragen dort zum Erfolg der kreativen Wirtschaft bei?

Das wirtschaftliche und arbeitsmarktpolitische Potenzial der creative industries wird erst seit gut einem Jahrzehnt allgemein anerkannt. Auch in Großbritannien haben die kreativen Branchen in der Vergangenheit maßgeblich zum Wirtschaftswachstum beigetragen, die Exporte gesteigert und neue Arbeitsplätze geschaffen. Die creative industries haben heute einen Anteil am britischen Bruttoinlandsprodukt, der mit dem Sektor finanzieller Dienstleistungen oder der Stadt London vergleichbar ist. Großbritannien besitzt damit einen der größten Kreativsektoren der Welt.

Dennoch handelt es sich um ein globales Phänomen. Die UNESCO schätzt, dass der weltweite Handel mit kreativen Gütern zwischen den Jahren 1994 und 2002 um rund 50 Prozent zugenommen hat und mittlerweile einen Umsatz von fast 60 Milliarden Dollar macht. Zu kreativen Gütern zählt die Organisation die Künste, Antiquitäten, die Presse und audiovisuelle Medien. Legt man diese Definition zugrunde, ist Europa Weltmarktführer: Der Kontinent verbucht hierbei mehr als die Hälfte des weltweiten Handels. Einer Schätzung der Welthandelskonferenz der Vereinten Nationen zufolge erzielen die Branchen, die stark auf kreativen und künstlerischen Leistungen basieren, weltweit einen Ertrag von 1,3 Billionen Dollar pro Jahr.

Mit dem Entstehen des Kreativsektors als bedeutende wirtschaftliche Kraft geht eine generelle Verlagerung der ökonomischen Aktivität hin zur wissensbasierten Wirtschaft einher. Dieser Trend ist quer durch die OECD-Länder zu beobachten: In allen hoch entwickelten Volkswirtschaften der OECD wird bald die Hälfte aller verrichteten Arbeit und Wirtschaftsaktivität in technologie- und wissensintensiven Industrien erbracht. Beispielsweise waren laut Eurostat im Jahr 2005 rund 48 Prozent der britischen Erwerbstätigen in wissensintensiven Industrien1 beschäftigt, in Deutschland waren es 44 Prozent und im Durchschnitt der Mitgliedsstaaten der EU-15 immerhin rund 41 Prozent. In den Vereinigten Staaten haben die Wissensindustrien einen ähnlichen Umfang wie in Europa.

Moderne Computer, kluge Köpfe

Natürlich waren auch in der Vergangenheit alle Volkswirtschaften darauf angewiesen, Wissen zu verwerten. Die Wissensökonomie stellt also keinen scharfen Bruch mit der Vergangenheit dar. Sie ist auch keine wundersame „new“ economy, die den Höhen und Tiefen des Konjunkturverlaufs trotzt. Doch können wir einen wirtschaftlichen Wandel beobachten, der auf eine historisch einmalige Kombination zurückgeht: auf der einen Seite leistungsstarke, allgemein zugängliche Informations- und Kommunikationstechnologien, auf der anderen Seite immer mehr gut ausgebildete Menschen. Dass moderne Computer auf kluge Köpfe treffen und die daraus resultierenden Ideen in Waren und Dienstleistungen mit hohem Wertzuwachs umgewandelt werden – genau davon lebt die Wissensökonomie.

Ein guter Indikator für diesen Strukturwandel ist das veränderte Investitionsverhalten der Unternehmen in den vergangenen 30 Jahren. Heute wird tendenziell weniger in Maschinen und Gebäude, also die materiellen Produktionsfaktoren der old economy investiert. Dafür geben die Firmen mehr Geld für immaterielle Produktionsfaktoren aus: für Forschung und Entwicklung, Software, Design, den Markenwert, Humankapital oder Organisationsentwicklung. Unabhängige Studien kommen zu dem Ergebnis, dass britische und amerikanische Firmen heute die gleiche Summe in das wissensbasierte, immaterielle Anlagevermögen investieren wie in materielle assets.

Die Polarisierung wurde gestoppt

In allen von der Work Foundation untersuchten Volkswirtschaften haben die wissensbasierten Industrien viele neue Arbeitsplätze geschaffen. Sowohl in Deutschland als auch in den Vereinigten Staaten stieg die Anzahl der Arbeitsplätze in diesem Sektor zwischen 1995 und 2005 um 17 Prozent. Doch es gibt keine Anzeichen dafür, dass die „Wissensarbeiter“2 ihre wachsende Verhandlungsmacht gegenüber ihren Arbeitgebern ausnutzen. Umgekehrt streben zumindest britische Firmen keine neuen Formen flexiblen Arbeitens in der wissensbasierten Ökonomie an.

Entgegen vieler negativer Prognosen haben heutzutage prozentual mehr Wissensarbeiter dauerhafte Arbeitsplätze als noch vor zehn Jahren, und nur wenige machen mehrere Jobs gleichzeitig. Im Gegenteil: Selbständigkeit und zeitlich befristete Arbeit sind sogar seltener geworden. Derselbe Trend ist bei den übrigen Erwerbspersonen in Großbritannien zu beobachten.

Verändert haben sich hingegen die Arbeitszeiten, denn immer mehr Wissensarbeiter arbeiten halbtags. Der Anstieg an Halbtagsarbeit, der in Großbritannien seit dem Jahr 1995 zu beobachten ist, geht vor allem auf Wissensarbeiter zurück – und weniger auf Branchen wie den Einzelhandel, in denen es traditionell viele Halbtagsjobs gibt. Außerdem arbeiten Wissensarbeiter seltener als früher übermäßig viel, also 48 Stunden und mehr pro Woche.

Viele hatten befürchtet, die Wissenswirtschaft könne einen Arbeitsmarkt schaffen, der einer Sanduhr gleicht: mit vielen guten Jobs in den wissensintensiven Sektoren, aber noch mehr schlecht bezahlten Arbeitsplätzen im unteren Bereich. In Wirklichkeit ist die Polarisierung des britischen Arbeitsmarktes in den vergangenen zehn Jahren gestoppt worden. Es gibt heute weniger sehr schlecht bezahlte Tätigkeiten, zugleich hat der Anteil der sehr gut bezahlten Jobs leicht zugenommen. Sonst gab es keine signifikanten Änderungen. Diese Tatsache muss unter anderem auf die zunehmende Regulierung des britischen Arbeitsmarktes seit 1997 zurückgehen, zu der auch die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns gehört.

Von der Wissensökonomie profitieren ganz besonders Frauen. Der seit zehn Jahren wachsende Anteil von Frauen an der berufstätigen Bevölkerung geht vollständig darauf zurück, dass mehr gut ausgebildete Frauen in die wichtigsten Berufsgruppen der leitenden Angestellten, der Spezialisten und der wissensnahen Techniker drängen. Und die Tendenz zur Polarisierung auf dem Arbeitsmarkt – immer mehr gute und immer mehr schlechte Jobs – gibt es unter erwerbstätigen Frauen anders als bei Männern nicht.

Im Mittelpunkt liegt der kreative Kern

Der kreative Sektor ist die Speerspitze des Wandels hin zu einer wissensbasierten Wirtschaft. Denn die kreativen Branchen hängen naturgemäß am stärksten davon ab, Wissen, Kreativität und Informationen in neue Dienstleistungen und Produkte umzuwandeln. Das britische Ministerium für Kultur, Medien und Sport (DCMS) hat die in Großbritannien gängigste Definition der creative industries entwickelt und zählt 13 Branchen dazu: zum einen Unternehmensdienstleistungen wie Werbung, Architektur und Design; zum anderen Sektoren, die auf dem Internet und anderen Medien basieren, etwa Film, Fernsehen, Radio, Computerspiele, das elektronische Verlagswesen; und schließlich künstlerische Branchen wie Modedesign, das Kunsthandwerk, die darstellenden Künste und der Antiquitätenmarkt.

Das DCMS hat bei der Work Foundation die Studie Staying Ahead in Auftrag gegeben. Sie erschien 2007 und ist der bisher umfassendste Bericht darüber, wie die kreativen Branchen arbeiten und welche politischen Implikationen sich daraus für Staat und Wirtschaft ergeben. Das zentrale Konzept der Studie ist der kreative Kern: Hier werden Leistungen erbracht, die nur zum Teil kommerziell verwertbar sind, einen hohen kulturellen Wert haben und üblicherweise urheberrechtlich geschützt werden müssen. Zum kreativen Kern gehören die traditionellen Kunstformen, die darstellenden Künste, aber auch neue, auf Internet und Medien basierende Tätigkeiten wie die Entwicklung von Internetseiten oder das Videospiel-Design.

Was die creative industries erfolgreich macht

Um den kreativen Kern herum sind die kulturellen Branchen angesiedelt: Film, elektronisches Verlagswesen, Musik, Video und Computerspiele. Diese Branchen konzentrieren sich auf die Vermarktung und die Massenproduktion des Outputs, den der kreative Kern hervorbringt. Weiter vom Kern entfernt befinden sich die kreativen Branchen (Design, Software, Mode, Architektur und Werbung), die die Ideen des kreativen Kerns aufgreifen und aus ihnen marktfähige, häufig an individuelle Kundenbedürfnisse angepasste Produkte herstellen. Nicht zuletzt verwerten zahlreiche Unternehmen der übrigen Wirtschaftszweige den Output der kreativen Branchen. Viele Beschäftigte, die man als „Kreativarbeiter“ bezeichnen würde – Designer, Werber, Programmierer – arbeiten überhaupt nicht in der Kreativ- und Kulturwirtschaft. Sie sind in allen Sektoren der Wirtschaft zu finden.

Es ist dieser Spillover von Wissen und Kreativität – vom kreativen Kern zu den kulturellen und kreativen Branchen und weiter zu den restlichen Wirtschaftszweigen –, dem die Kreativ- und Kulturwirtschaft ihre ökonomische Bedeutung verdankt. Die Zukunft der creative industries hängt maßgeblich davon ab, wie effizient diese Übertragung läuft. Doch gerade hier steckt unser Wissen noch in den Kinderschuhen.

In unserer Studie identifizieren wir Schlüsselfaktoren, die unserer Meinung nach zum Erfolg der creative industries in Großbritannien beitragen. Einige davon werden für bestimmte Branchen wichtiger sein als für andere:

Die Nachfrage: Zunehmend anspruchsvolle und gut ausgebildete Konsumenten unterschiedlicher Herkunft müssen bereit sein, die kreativen Produkte nachzufragen. Die Nachfrage kann zum Beispiel dadurch stimuliert werden, dass Kinder in der Schule früh mit Kultur in Berührung kommen. Auch ein hohes Bildungsniveau der Gesellschaft ist förderlich, weil gut ausgebildete Menschen überdurchschnittlich häufig an kulturellen Aktivitäten partizipieren. Ferner sollten vor allem Städte ein großes Spektrum kultureller und kreativer Angebote bereitstellen.

Vielfalt: Wir gehen davon aus, dass Vielfalt – in der Gesellschaft, in den Städten und Gemeinden und in Firmen und Organisationen – kreative Prozesse bereichert und verstärkt.

Wie neue Ideen vermarktet werden können

Gleicher Wettbewerb: Kreativität gedeiht besonders gut in einer konkurrenzbetonten Umgebung, die zur Arbeit an neuen Ideen und zum Experimentieren ermutigt. Wenn nur wenige große Unternehmen eine Branche dominieren, können innovative Entwicklungen leicht im Keim erstickt werden – auf Kosten der Vielfalt an Produkten und Dienstleistungen.

Bildung und Fertigkeiten: Die traditionellen Schulen für Kunst und Design sind für die britische Kreativwirtschaft immer eine treibende Kraft gewesen. Diese Tradition muss weiterentwickelt werden. Dabei sollten sowohl industriespezifische Fähigkeiten als auch betriebswirtschaftliches Wissen vermittelt werden. Vor allem Führungskräfte sollten lernen, wie neue Ideen vermarktet werden können.

Netzwerke: Um Kreativität und Vermarktung zu fördern, müssen sowohl innerhalb des kreativen Sektors als auch zwischen ihm und der übrigen Wirtschaft Netzwerke und Allianzen geschmiedet werden. Nur wenige kreative Firmen und Organisationen verfügen selbst über alle notwendigen Fähigkeiten und kommen ohne Unterstützung von außen aus.

Geistiges Eigentum: Die Verwaltung geistigen Eigentums bestimmt mit über den Erfolg oder Misserfolg der kreativen Branchen. Besonders wichtig ist der urheberrechtliche Schutz kreativer Güter. Großbritanniens derzeitiges Urheberrecht funktioniert sowohl bezogen auf seine Kategorien wie hinsichtlich der Durchsetzung gut, doch im digitalen Zeitalter könnte der Rechtsvollzug künftig erschwert werden.

Größere Firmenkapazitäten aufbauen: In den kreativen Branchen existieren viele kleine und mittlere Unternehmen mit Wachstumspotenzialen, denen es jedoch an konkreten Perspektiven und an Unterstützung mangelt.

Öffentliche Institutionen: Die britischen creative industries sind in der Vergangenheit in großem Umfang mit öffentlichen Investitionen und Darlehen unterstützt worden. Fällt diese Unterstützung weg, leidet die Kreativität – und damit die wirtschaftliche Dynamik.

Öffentlich fördern – aber richtig

Öffentliche Förderung ist notwendig, ohne sie würde es einige Aktivitäten im kreativen Kern überhaupt nicht geben. Doch der Staat muss dabei behutsam vorgehen. Die Schlüsselrolle öffentlicher Institutionen wie der BBC kann dabei nicht genug betont werden. Die Darlehen und Fördergelder in diesem Bereich wurden traditionell als Mittel für unwirtschaftliche Aktivitäten angesehen. Das muss sich ändern: Die staatliche Förderung sollte als wichtige Investition in die Wissensgesellschaft betrachtet werden, ebenso wie Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung.

Viele Aktivitäten im kreativen Kern tragen sich aus eigener Kraft; zu viel öffentliche Unterstützung an der falschen Stelle kann auch negative Folgen haben: Die staatlichen Mittel können Institutionen schaffen, die von Subventionen abhängig sind und denen es an Anreizen fehlt, kreative und kommerziell verwertbare Ideen zu entwickeln. Das wichtigste Ziel öffentlicher Unterstützung muss sein, Kreativität und private Investitionen anzulocken – und nicht, sie hinauszudrängen.

Die nationale Politik spielt eine wichtige Rolle. Doch häufig kann auf lokaler Ebene, besonders in Städten, die für die Kreativwirtschaft effektivste Politik betrieben werden. Beispielsweise setzen die alten britischen Industriestädte bei ihren Erneuerungsstrategien zunehmend auf die Entwicklung kreativer Branchen.

Mit Kreativität an die Weltspitze

Sicher stehen wir vor großen technologischen und – aufgrund des wirtschaftlichen Aufstiegs Asiens – ökonomischen Herausforderungen. Hinzu kommt, dass die creative industries mehr auf flexible Beschäftigungsformen angewiesen sind als andere wissensbasierte Branchen. Dennoch zählt die Kreativwirtschaft zu Europas Stärken. Wenn wir sie weiterentwickeln, schaffen wir nicht nur zusätzliche Arbeitsplätze, wir stärken auch Europas Position als Hauptexporteur wissensbasierter Dienstleistungen. Deutschland und Großbritannien, die beide einen überdurchschnittlich hohen Anteil Beschäftigter im Kreativsektor haben, sind angesichts der weltweiten Entwicklungen gut vorbereitet.

Im Herbst 2007 wird die britische Regierung voraussichtlich ein Grünbuch veröffentlichen, in dem erstmals politische Optionen aufgezeigt werden, um möglichst positive Rahmenbedingungen für die kreativen Branchen zu schaffen. Diese Debatte sollten wir in Großbritannien und im übrigen Europa fortführen: Wie können die unterschiedlichen staatlichen Ebenen die Kreativwirtschaft unterstützen? Schließlich tragen die creative industries auch dazu bei, ein gemeinsames übergeordnetes Ziel zu erreichen: Europa zum wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen.

Aus dem Englischen von Michael Miebach

Anmerkungen
1 Eurostat zählt dazu höhere und mittlere Technologie, die Telekommunikationsbranche, Unternehmensberatungen und hochtechnologische Dienstleistungen, den Gesundheits- und Bildungssektor, Freizeit- und Kulturdienstleistungen und internationale Transportdienstleistungen.
2 Dazu zählen wir die drei wichtigsten Berufsgruppen der leitenden Angestellten, der Angstellten und der wissensnahen Techniker.

zurück zur Person